Mittwoch, 23. Dezember 2015

Gibt es nach Kant denn einen freien Willen?


M. Pugliese

Wir haben den bestimmten Begriff der Sittlichkeit auf die Idee der Freiheit zuletzt zurückgeführt; diese aber konnten wir, als etwas Wirkliches, nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen; wir sahen nur, daß wir sie voraussetzen müssen, wenn wir uns ein Wesen als vernünftig und mit Bewußtsein seiner Kausalität in Ansehung seiner Handlungen, d. i. mit einem Willen begabt, uns [sic] denken wollen, und so finden wir, daß wir aus eben demselben Grunde jedem mit Vernunft und Willen begabten Wesen diese Eigen-schaft, sich unter der Idee einer Freiheit zum Handeln zu bestimmen, beilegen müssen. ... Es scheint also, als setzten wir in der Idee der Freiheit eigentlich das moralische Gesetz, nämlich das Prinzip der Autonomie der Willens selbst, nur voraus, und könnten / seine Realität und objektive Notwendigkeit nicht für sich beweisen...


Es zeigt sich hier, man muß es frei gestehen, ein Art von Zirkel, aus dem, wie es scheint, nicht heraus zu kom-men ist. Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben, denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe, davon aber einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht werden kann, um den anderen zu erklären und von ihm Grund anzugeben... 
_________________________________________________________________
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. in: Werke, Frankfurt/M, Bd. VII, S. 84f.






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen