307. Zu Gunsten der Kritik. —
Jetzt erscheint dir Etwas als Irrthum, das du ehedem als eine Wahrheit
oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stösst es von dir ab und
wähnst, dass deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber
vielleicht war jener Irrthum damals, als du noch ein Anderer warst — du
bist immer ein Anderer —, dir ebenso nothwendig wie alle deine jetzigen
"Wahrheiten," gleichsam als eine Haut, die dir Vieles verhehlte und
verhüllte, was du noch nicht sehen durftest.
Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getödtet, nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht mehr, und nun bricht sie in sich selbst zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr an's Licht. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches, — es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, dass lebendige treibende Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstossen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben und sich bejahen will, Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen! — Diess zu Gunsten der Kritik.
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Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft [1882]Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getödtet, nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht mehr, und nun bricht sie in sich selbst zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr an's Licht. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches, — es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, dass lebendige treibende Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstossen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben und sich bejahen will, Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen! — Diess zu Gunsten der Kritik.
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