Sonntag, 1. Juni 2014

Die praktische Philosophie beginnt da, wo die theoretische nicht weiterkann.

Wanderer

Gedanklich endet meine Wendeltreppe bei den Ergebnissen der kritischen alias Transzendentalphilosophie. Das wurde beanstandet, denn danach hat die Zahl der philosophischen Bücher wohl noch um ein Vielfaches zugenommen… 

Ich wollte aber keinen kurzen Lehrgang durch die Geschichte der Philosophie schreiben, sondern ein Einführung ins Philosophieren selbst. Ich meine im Ernst, dass der theoretischen Philosophie seit den Tagen der Transzendentalphilosophen substanziell nicht mehr viel hinzugefügt wurde. Wo es theoretischen Erkenntnisgewinn gab, handelte es sich weitgehend um die – philologische – Klärung von Missverständnissen. Wo die Phänomenologie – Husserl und, in seinem Gefolge, Heidegger – zu brauchbaren Resultaten kommt, bestätigt sie doch immer nur, in weniger deutlichen Begriffen, die Ergebnisse der kritischen alias Transzendentalphilosophie. Ich bin so kühn, mutatis mutandis dasselbe über die sprachanalytisch-pragmatische Schule unserer Tage zu behaupten. 

Der Umkreis der philosophischen Themen ist im großen Ganzen abgesteckt. Innerhalb des Kreises mag das Feld immer und immer wieder neu bearbeitet und mögen den Themen immer wieder neue Seiten abgewonnen oder das Gewonnene aus anderer Perspektive neu bestätigt werden. Tatsächlich ist die Philosophie seither so verfahren; soweit sie nämlich theoretisch und wissenschaftlich ist.

Doch hat sich seit dem 19. Jahrhundert, nämlich seit Schopenhauer und Kierkegaard eine Variante der Philosophie ausgebildet, die ausdrücklich nicht theoretisch und auch nicht wissenschaftlich sein will, die Lebensphilosophie. Ihren bislang wort- und gedankenmächtigsten Vertreter hat sie in Nietzsche gefunden. Ihr Ehrgeiz ist es, die Frage nach dem Sinn des Lebens unmittelbar und positiv aufzuwerfen und nicht länger über den Umweg metaphysischer Begriffsakrobatik. Philosophie soll praktische Lebenshilfe geben (und womöglich politisch wirksam werden). Damit ist sie im öffentlichen Leben so erfolgreich gewesen, dass sie im landläufigen Verständnis den Begriff der Philosophie ganz für sich vereinnahmt und die wissenschaftliche Philosophie in die akademische Ecke gedrängt hat.*

Ihr Publikumserfolg ist verständlich. Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich jedem Menschen. Und jeder stellt sich ihr – mal mehr, mal weniger bewusst. Was er dabei – auf sein Leben zurückblickend – jeweils an Antworten gefunden zu haben meint, das kann man Lebensweisheit nennen. Nichts steht ihm freier als das. Es fragt sich nur, ob sich daraus eine positive Lehre entwickeln lässt, die der eine dem andern mit einem Anspruch auf öffentliche Verbindlichkeit vortragen darf. 

Die Frage nach dem Sinn (des Lebens in) der Welt war der Urheber der Philosophie – und, durch sie, der Wissenschaft (die eine spezifisch abendländische Erscheinung ist). Das war der Ausgangspunkt und war der Schlusspunkt meiner “Wendeltreppe”. Die ständige metaphysische Versuchung unseres Verstandes – das, was Kant den “dialektischen Schein” genannt hat – ist es, in der Erkenntnis des Seienden einen Hinweis auf unser Sollen, auf die rechte Lebensführung zu suchen. Wenn der Einzelne Bestandteil eines sinnhaft geordneten Kosmos ist, dann liegt es nahe, dem Teil dasselbe Ordnungsprinzip zu zu weisen wie dem Ganzen. Was der Mensch soll, ließe sich geradlinig aus dem, wie die Welt beschaffen ist, herauslesen. 

Doch die Erkenntnis des Seienden ist zirkulär und führt nirgends hin: Die Natur antwortet uns ja immer nur auf die Fragen, die wir ihr stellen – und auch das nur unter Stöhnen und Seufzen. ‘Der Naturwissenschaftler beobachtet keines Wegs ‚die Natur’ so lange, bis sie ihm von allein ein Lied singt. Vielmehr reißt er aus der Natur vorsätzlich ein winziges Stück heraus, zwingt es in die Folterkammer seines Labors und quält es kunstvoll so lange, bis es auf seine gezielten Fragen mit Ja oder Nein antwortet.’ Den „Sinn“ der Sachen – das, „worum es [uns] eigentlich geht“ – haben wir, als Frage, immer schon selber mitgebracht, und wenn wir ihn hernach an den Sachen wieder erkennen, dann ist es nur der Schatten unserer apriorischen Absicht. Die Natur kann uns nicht einmal sagen, wer oder was sie ist. Noch weniger kann sie wissen, was wir in einer Welt sollen, die längst mehr geworden ist als bloß Natur.


Die Kritik an diesem Irrtum ist dasjenige, was an der Philosophie wissenschaftlich ist. 

Oder anders, wissenschaftlich ist die Philosophie nur als Kritik. Wenn ich sage, man kann leben, ohne zu philosophieren, dann heißt das: Man kann leben, ohne Wissenschaft zu treiben. Um das Wort Philosophie – und wer es alles für sich in Anspruch nehmen darf – muss man sich nicht streiten. Auch die Philosophischen Lebensberatungs-Dienste unserer Tage dürfen sich so nennen, gesetzlich geschützt ist das Warenzeichen nicht. Aber ich bestehe auf einer scharfen Unterscheidung zwischen kritischer, wissenschaftlicher Philosophie und landläufiger Lebensweisheit. 

Das ist eine politische Erfordernis. 

Wissenschaft ist  öffentliches Wissen. Sie ist entstanden, um in der Öffentlichkeit ein Feld abzustecken, innerhalb dessen Meinungsverschiedenheiten, die immer auch von Interessen geprägt sind, vernünftiger Weise nicht mehr möglich sind. Dies ist ihr historischer Sinn. Das Aufkommen der Wissenschaften im Abendland des siebzehnten, achtzehnten Jahrhunderts war das politische Weltereignis. Herrschaft konnte von nun an gemessen werden an dem, was als vernünftig erkannt war. Und nur so ist eine repräsentative, nämlich die Staatsbürger repräsentierende politische Ordnung überhaupt denkbar. Die Öffentlichkeit erwartet allerdings von der Wissenschaft, dass sie Gesetzestafeln erstellt, in die man die konkreten Fälle nur noch einzutragen braucht, um die richtige Lösung sogleich ablesen zu können. Es liegt daher im Interesse sowohl der Öffentlichkeit als auch der Wissenschaft selbst, ihre Grenzen möglichst scharf zu ziehen.

Der einzig begründete Ausgangspunkt der praktischen Philosophie ist ein negativer: dass die theoretische Philosophie – nach den Ergebnissen der ‚Kritik’ – im Sein keinen Sinn nachweisen kann. Der Sinn ist das, was — nicht durch Notwendigkeit vorgegeben ist, sondern: – durch Freiheit möglich wäre. Sinn kann man nicht finden, sondern muss man erfinden. 

Ist er also beliebig? 

Na ja. Jedenfalls nicht in dem Sinn, dass erlaubt ist, was einem grade in den Sinn kommt. Denn was aus Freiheit geschah, lässt sich zwar nicht begründen, nämlich aus theoretischen Einsichten herleiten; aber man wird es rechtfertigen müssen, nämlich vor mir selber und dann vor all denen, denen ich ihrerseits Freiheit zumute und denen ich über den Weg laufe. Dann wird man sehen… 

Mit andern Worten: Würde ich nicht in einer Welt leben, die ich in Freiheit mit Andern teile, bräuchte ich keine praktische Philosophie und keine Sinn des Lebens. Ich lebte vor mich hin, und damit gut. 
 
* 

Zwar kann die Wissenschaft (mit jedem Tag genauer) sagen, was ist. Denn das ist die theoretische Frage, die in ihr Ressort fällt. Aber was wer soll, ist eine praktische Frage, die nicht nach wahr oder falsch, sondern nach gut oder schlecht zu entscheiden ist. Und die fällt eben nicht in ihr Ressort: Denn gegenüber den Fragen des praktischen Lebens verhält sie sich, da sie theoretisch ist, rein kritisch: indem sie sagt, was nicht ist.

Die Frage, wie und wohin ich mein Leben führe, ist ein praktische Frage; und eine private. Die Wissenschaft kann mir sagen, ob es good vibrations gibt, auf die ich rechnen darf, oder nicht; danach muss ich selber entscheiden. 

Die Frage, wohin die Staaten und die Gesellschaften steuern, ist öffentlich, aber sie ist nur in Grenzen theoretisch. Denn die Antwort hängt von denen ab, die sie stellen, und die sind Handelnde, bevor sie wissenschaftlich Erkennende sind; darum  läuft die wissenschaftliche Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer hinterher und bringt es allenfalls zur self-fulfilling prophecy**. Und dabei ist die Frage, wohin sie steuern sollen, noch nicht einmal angeschnitten. Könnten die Gesellschaftswissenschaften wirklich voaussagen: Wenn ihr dies tut, geschieht das, und wenn ihr jenes tut, dann geschieht solches – dann müsste die Frage, ob wir ‘das’ oder lieber ’solches’ wollen, immer noch praktisch entschieden werden; aus Freiheit, wie Kant das nennt. So gibt es ein unmittelbares politisches Interesse daran, dass sich die Wissenschaften ihrer Grenzen jederzeit klar bewusst bleiben; Hirnforschung incl. 

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Lebensweisheit ist dagegen eine Privatangelegenheit und gehört in “meine Welt”, wenn ich so sagen darf. Erstens geht sie nur mich selber an. Wenn ich zweitens darüber hinaus einen Drang spüre, meine Anschauungen (!) andern mitzuteilen, dann stehen mir dazu die Mittel der nicht-diskursiven Mitteilung zu Gebot; die Mittel der Kunst nämlich. Philosophie könne man eigentlich nur noch dichten, meinte Wittgenstein... 

Die Kritik führt bis zu diesem Punkt: Damit überhaupt etwas gelten kann, muss ein Absolutum gelten. Aber wir (die Wissenschaften) können euch  nicht bis dort hin führen. Begründen können wir das Absolute nicht. Wenn wir an jener Stelle sind, müsst ihr selber springen – auf eigne Faust; und mögt euch hinterher rechtfertigen. Nämlich vor euch selber und denen, die in euerm Privatleben sonst noch vorkommen. 

Wer künstlerische Berufung fühlt, der trete vors große Publikum. Der Kritik ist er dort freilich nicht entzogen, ganz im Gegenteil. Nur ist es jetzt die Kunstkritik – die umso unerbittlicher ist, als sie selber Teil des kritisierten Gegenstandes ist. Die Kunst hat sich im Laufe der Neuzeit wie die Wissenschaft zu einer gesellschaftlichen Instanz entwickelt, und die Kritik ist deren Teil. Wissenschaftlich ist sie nicht, sondern ästhetisch. Sie kan nicht (logisch) demonstrieren, sondern nur (anschaulich) zeigen. Sie kann – wie die Kunst selber – Beifall heischen, aber kein Einverständnis erzwingen, wie die Wissenschaft.
 
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Das gilt im selben Maß von den praktischen Staats- und Gesellschaftslehren. Die wissenschaftliche Kritik kann ihnen ihre Grenzen zeigen – und dass sie nicht Fleisch von ihrem Fleisch sind. Sie selber haben sich der Öffentlichkeit möglichst anschaulich darzustellen. Sie fordern zu Wertentscheidungen heraus, und die sind – in weitestem Sinn – ein ästhetischer Akt. Doch das Ästhetische liegt nicht jenseits der Vernunft, sondern diesseits. Es liegt ihr zu Grunde. 

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*) In derselben Zeit beobachten wir in der Kunst die Scheidung zwischen dem ernsten und dem unterhaltenden Genre. Crossover ist auch da eine ständige Versuchung.
**) In einer UFA-Komödie sagt Grete Weiser: “Wie soll ich wissen, was ich meine, bevor ich höre, was ich sage?” So geht es ‘der Gesellschaft’, wenn sie sich nach den Zielen ihres Handelns fragt. Wie können wir wissen, was wir wollen, bevor wir sehen, was wir tun?

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