Gedächtnis
von FRITZ MAUTHNER
aus:
Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Kap. 27
Zur Sprache und Psychologie, Kap. 27
HOBBES, der mit seinen Freunden GASSENDI und MERSENNE von der Notwendigkeit einer nominalistischen, d. h. materialistischen Psychologie überzeugt war, hat bei Gelegenheit einer mechanischen Erklärung der Sinnesempfindungen eine Bemerkung von erstaunlicher Tragweite gemacht; er hat entdeckt, daß auch zur einfachsten Sinneswahrnehmung Gedächtnis mithelfen müsse. Ohne Gedächtnis könnte nicht einmal der Tastsinn etwas wahrnehmen.
"Das Rauhe und Glätte, wie Größe und Figur werden nicht durch den Tastsinn allein, sondern auch durch das Gedächtnis empfunden; denn obgleich manche Dinge in einem Punkte getastet werden, kann man doch jene nicht empfinden, ohne den Fluß eines Punktes, d. h. ohne Zeit; Zeit aber zu empfinden, dazu bedarf es des Gedächtnisses."Bevor wir die ungeheure Bedeutung der Gedächtniserscheinungen für unser Sprachleben wie für unser Naturleben darstellen können, müssen wir auf den Wortaberglauben verzichten, daß es eine "Kraft" sei.
Es ist dem menschlichen Verstand ganz natürlich, sich die Kräfte als Wirklichkeiten vorzustellen; und selbst den Denkern, die diese anthropomorphische Täuschung des Verstandes durchschauten, ist es immer schwer geworden, sich ganz und gar von dem zu befreien, was an Personifikation im Kraftbegriffe liegt. Schon GALILEI wußte, daß der Kraftbegriff eine Metapher ist, von dem Bewußtsein oder der Vorstellung oder der Bezeichnung unserer eigenen Muskelkraft hergenommen. Alle Kräfte, wie alle anderen mythologischen Begriffe und Götter, sind nach dem Bilde des Menschen geschaffen worden. Auch NEWTON glaubte nicht, eine "Kraft" der Gravitation materialistisch gefunden zu haben. Er setzte die Energie, die er Attraction resp. Gravitation nannte, ganz bewußt den mechanischen Kräften entgegen, wo er mir eine Regenbogenbrücke von AUGUSTINUS zu KANT zu schlagen scheint.
Alle Wirklichkeit ist unaufhörliche Tätigkeit oder Wirkung. Unter Kraft verstehen wir eigentlich jede mögliche Tätigkeit, jede mögliche Wirkung. Wären wir Scholastiker, so würden wir Möglichkeit als den Gegensatz der Wirklichkeit erkennen und so eilfertig die Kraft in Gegensatz bringen zur Wirklichkeit, während sie doch die Wirklichkeit selbst ist, nur auf eine gewisse Erklärung oder Beschreibung hin angesehen. Es sind eben da immer nur Worte gesprochen worden, deren Bedeutung sich unaufhörlich durch den Einfluß der Nachbarworte verschiebt. Auf diese Weise kann man im Banne der Sprache entsetzlich tiefsinnig philosophieren, ohne vorwärts zu kommen. Ich gebe ein Beispiel.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe diese Buchstaben nieder. Dabei blicke ich auf das Papier. Ich nehme nichts wahr als etwas Papier, einige Finger meiner Hand und die Feder. Die übrige Welt existiert gleichzeitig nur in meiner Vorstellung, als Möglichkeit, wahrgenommen zu werden. Unzählige unbewußte Experimente haben es mir jedoch zu einer unumstößlichen Gewißheit gemacht, daß diese übrige Welt Wirklichkeitskraft hat; ich brauche nur leise die Augen zu heben und erblicke die Büste GOETHEs, ich brauche nur ans Fenster zu treten und erblicke die Kiefern meines Gartens; ich brauche nur über den Atlantischen Ozean zu fahren und werde Amerika betreten, von dessen Wirklichkeitskraft ich, ohne es je gesehen zu haben, ebenso überzeugt bin wie von der Anziehungskraft der Erde oder der sogenannten Schwere meines Körpers, wie von der sogenannten Gravitation, die die Erde um die Sonne bewegt. Überzeugt bin ich von der Wirklichkeit und Wirklichkeitskraft eines Nordpols, eines Erdmittelpunkts, trotzdem beide Orte noch von keinem Menschen betreten worden sind. Diese Wirklichkeitskraft der Körper, vermöge deren sie die Möglichkeit besitzen, unter Umständen wahrgenommen zu werden, ist eine so allgemein verbreitete Kraft, daß man sie gar nicht erst mit einem so ehrenvollen Namen benennt. Den Namen Kraft hat man für Spezialfälle der Wirklichkeitsmöglichkeit reserviert.
Der Name Kraft für diese Gruppe von Vorstellungen mag daher kommen, daß alle unsere Wahrnehmungen, Vorstellungen, Kenntnisse auf Sinnesempfindungen zurückgehen, daß alle unsere Sinnesempfindungen nur veränderte Tastempfindungen sind und daß bei der Tastempfindung jedesmal eine, wenn auch noch so geringe Muskelkraft notwendig ist, wenn wir einen körperlichen Eindruck durch Vergleichung klassifizieren wollen. Unsere eigene Muskelkraft ist die einzige Kraft, von der wir ein Bewußtsein haben. Die Vorstellungen "glatt, rauh", noch besser "weich, hart" werden an dieser einzigen Kraft gemessen. Alle Wirkungen der Natur werden dann ebenfalls an dieser unserer Muskelkraft indirekt gemessen und so als Kräfte beschrieben. Das Urphänomen der Wirklichkeit ist der Widerstand, welchen jeder einzelne Körper unserer Muskelkraft entgegensetzt; die Physik nennt diese Erscheinung die Undurchdringlichkeit der Körper. Alle sogenannten Naturkräfte sind also nur Veränderungen in der Wirklichkeit, deren erfahrene oder erwartete Arbeitsleistung wir (oft sehr indirekt) mit der Muskelkraft messen, die wir dem Widerstande eines festen Körpers entgegensetzen müssen. Die Regelmäßigkeit dieser Veränderungen läßt es uns bequem erscheinen, ihre Beziehungen, die wir Ursachen nennen, als einheitliche Naturkräfte zu personifizieren.
Erkennen wir so selbst die sogenannten realen Kräfte als Unbekannte, die wir nur infolge der Armut unseres Bewußtseins mit dem einzigen vergleichen, was wir selbst wirkend in die Außenwelt tragen können, die wir also in einem eigentlich kühnen Bilde mit unseren Muskelkräften vergleichen und sie darum Kräfte nennen, so wird klar, ein wie unähnliches, ein wie inhaltsloses Bild herauskommen muß, wenn wir nun diesen Kräftebegriff wieder auf Gruppen von Geistestätigkeiten anwenden und die einzelnen "Seelenvermögen" geistige Kräfte nennen, wenn wir von der Kraft des Willens, des Verstandes oder des Gedächtnisses reden. Ein Psychologe meint, wenn er solche Worte gebraucht, auch nicht ernsthaft, daß über dem Willen, dem Verstand, dem Gedächtnisse eine Gottheit sitze, die den Willen, den Verstand, das Gedächtnis zu höheren Leistungen sporne. Aber dieser Psychologe meint doch ungefähr, diese "Seelenvermögen" seien selber eben solche Kräfte wie die Naturkräfte.
Wir haben in diesen Untersuchungen auf hundert Wegen immer wieder erfahren, daß in unseren seelischen Äußerungen nichts sein kann, was nicht vorher in den Sinnen gewesen ist, und daß es darum in unserem Seelenleben außer Sinneseindrücken nichts geben könne, als Erinnerungen an diese Sinneseindrücke, unendlich viele Erinnerungen, deren Existenz man eben mit dem Worte Gedächtniskraft oder Gedächtnis zusammenfaßt. Und nun gelangen wir zu einem überraschenden Aperçu, das freilich vielleicht nur ein Aperçu der Sprache ist. Es scheint mir nämlich, wie die Undurchdringlichkeit oder das Beharren das Urphänomen der Wirklichkeit ist, das Beharren oder die relative Undurchdringlichkeit der einmal aufgenommenen Sinneseindrücke das Urphänomen aller geistigen Tätigkeit zu sein. Es mag Menschen geben, die nach Erkenntnis des Gesetzes von der Erhaltung der Energie lachend ausrufen werden: "Aber das ist ja die Trägheit, die wir schon als Kinder gelernt, schon gehabt haben" - und nicht ahnen, daß viele Jahrhunderte an der Aufstellung des Trägheitsgesetzes gearbeitet wurde. Es wird Menschen geben, die das Gedächtnis als Urphänomen aller Geistestätigkeit lachend begreifen werden: "Das Gedächtnis ist also die Trägheit der Sinneseindrücke." Nicht das Erinnern wäre also zu erklären, sondern - wie schon MAX MÜLLER erkannt hat - das Vergessen.
Das Gedächtnis ist eine Tatsache des Bewußtseins und das Bewußtsein ist für uns nur als Gedächtnis eine Tatsache. Man könnte mit diesen Worten noch weiter jonglieren und würde doch nicht einmal in dem skeptischen Sinne der Sprachkritik zu einer festen Definition der beiden Begriffe gelangen. Wir ahnen jedoch, daß eine durch Selbstbeobachtung ermittelte Tatsache des Bewußtseins nicht das Abstraktum Gedächtnis ist, sondern nur die Reihe einzelner Erinnerungsbilder; wir ahnen, daß das Wort Bewußtsein eigentlich nichts anderes bedeutet als den Zusammenhang der Erinnerungsbilder.
Auch die Bezeichnung Erinnerungsbilder ist für die Wissenschaft schlecht genug gewählt. Sagten wir aber dafür Erinnerungen oder Erinnerungsakte, so würde sich zwischen ihnen als irgend welche Tätigkeit und zwischen uns als forschende Zuschauer sofort irgend ein Faktor hineinschieben, den unsere Phantasie erfunden hätte, entweder ein Götze Gedächtnis, der die Erinnerungsakte vollzieht, oder sonst ein Ich, welches sich erinnert und welches doch wieder nur das Abstraktum Gedächtnis sein könnte. Die Bezeichnung Erinnerungsbilder ist nur insofern besser, als sie unsere scheinbare Passivität bei dem ganzen Vorgang metaphorisch auszudrücken scheint. Wir müssen jedoch festhalten, daß es sich dabei um eine Metapher handelt, daß wir theoretisch zwischen den unmittelbaren Bildern unserer Wahrnehmung und den mittelbaren unserer Erinnerung nicht genau unterscheiden können. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, die unmittelbaren und die mittelbaren Bilder als starke und schwache Wahrnehmungen, als Formen von starken und schwachen Reizen zu unterscheiden. Die Reizfrage wie überhaupt die physiologische Seite müssen wir als noch völlig unaufgeklärt ruhen lassen.
Es kann uns jedoch die einfachste Besinnung lehren, daß Stärke oder Schwäche der Wahrnehmungen, ganz abgesehen von der Relativität dieser Begriffe, uns nicht weiter führt. Bei Halluzinationen nehmen Erinnerungsbilder die volle Stärke von unmittelbaren Wahrnehmungen an; und umgekehrt erkennen wir die leisesten und duftigsten Töne, wie beim Betrachten eines fernen im Nebel verschwindenden Gebirgszuges, als unmittelbare Wahrnehmungen an. Bei Gefühlen gar, wie z.B. beim Zorn, den der Feind meines Lebens in mir erregt, steht Stärke oder Schwäche in gar keinem Zusammenhang mit der Unmittelbarkeit. Die Zeit kann das Gefühl abschwächen, muß es aber nicht tun. Der Anblick des Feindes braucht meinen Zorn nicht so stark zu reizen, wie die Erinnerung an ihn. Das hängt sicherlich mit Lebenserscheinungen zusammen, welche neben dem Gehirngedächtnis hergehen; wie denn Gefühle des Hungers, der Liebe u.s.w. in starken oder leichten Graden schon durch das Gedächtnis erregt werden können. Wir erinnern uns nicht nur unseres Denkens, sondern auch unseres Lebens. Wir erinnern uns nicht nur unserer Wahrnehmungen und ihrer Verbindungen zu Begriffen, Urteilen und Schlüssen, wir erinnern uns - wir d.h. in unserem Bewußtsein - auch unserer Gefühle und unserer Bedürfnisse. Ist aber bei der Erinnerung just an unsere Bedürfnisse das Bewußtsein immer im Spiel?
Es scheint mir gewiß, daß uns auch da wieder die Sprache im Stiche läßt. Die Vorstellung Hunger oder Liebe, d.h. die Erinnerung an die entsprechenden Begriffe oder Worte, wird sicherlich sehr oft hervorgerufen durch die natürlichen Bedürfnisse dieser Art, und zwar unabsichtlich, unbewußt; noch häufiger wird, das sollten Pädagogen sich merken, das unabweisbare Bedürfnis hervorgerufen durch die unbewußte Einübung der Befriedigung, also durch Erinnerung. Wer täglich dreimal z.B. zu essen gewohnt ist, wird täglich dreimal an das Bedürfnis erinnert, er hat täglich dreimal Hunger; wer täglich fünfmal zu essen gewohnt ist, hat täglich fünfmal Hunger. Und wer noch gar nicht zu essen gewohnt ist, wie das neugeborene Tier, der kann nur ein Unbehagen empfinden, aber nicht das differenzierte Gefühl des Hungers. Pädagogen mögen diese Lehren auf die Gefühle des Durstes und auf die der Geschlechtsliebe übertragen. Wir brauchen also gar nicht tiefer in die Welt der Organismen hinabzusteigen, um zu erkennen, daß das Gedächtnis ein viel weiter verbreiteter Zustand ist als das sogenannte Bewußtsein. Das Bewußtsein ist nur eine der vielen menschlichen Vorstellungsformen des Gedächtnisses. Wir haben also zu untersuchen, worin sich das Gedächtnis unseres sogenannten Selbstbewußtseins von dem unbewußten Gedächtnis jeder organisierten Materie, von dem unbewußten Gedächtnis, das auch den Tatsachen der Chemie und der Kristallisation zu Grunde liegen muß, unterscheiden mag.
Um uns dieser Frage ein wenig zu nähern, müssen wir einmal ausmachen, was wir eigentlich tun, wenn wir uns erinnern. So wunderbar es klingt, es ist auf den Hauptpunkt noch niemals hingewiesen worden, darauf nämlich, daß das normale Gehirn gar nicht, wie die landläufige Ansicht behauptet, seine Erfahrungen von selber wiederholt. Es ist nicht wahr, daß wir gesehene Farben abgeschwächt in unserem Gedächtnisse produzieren können, es ist nicht wahr, daß wir eine noch so bekannte Melodie im Gedächtnisse haben . Eine Disposition zur Wiederholung ist vorhanden, aber dieses Wort Disposition ist nur eine Verdunkelung der Frage, nicht ihre Lösung. Was geht denn in uns vor, wenn aus der Möglichkeit Wirklichkeit wird, wenn wir uns infolge unserer Disposition wirklich erinnern? Das ganze Wesen der Sprache lichtet sich ein wenig, und wieder von einer neuen Seite, wenn wir diesen alten Irrtum aufgeben. Das Folgende ist nicht nur das Ergebnis strenger Selbstbeobachtung, es ist auch durch vorsichtige Umfragen bei Hunderten von Menschen, auch bei Künstlern, welche sich lange gegen das Zugeständnis sträubten, kontrolliert.
Wenn ich mich auf eine bekannte Melodie besinnen will, so hilft mir alles passive Besinnen, alles Warten nichts; die Melodie fällt mir nicht ein. Ich muß sie innerlich singen, damit ich mich ihrer erinnere. Ich erinnere mich ihrer im Halse und nicht im Kopfe. Man halte sich gegenwärtig, daß - wie wir bald sehen werden - auch das Verstehen der Sprache mit Bewegungsgefühlen im Sprachorgan zusammenhängt. Das geht nicht nur unmusikalischen Menschen so. Eine eminent musikalische und zuverlässige Violinistin hat mir, nachdem die erste Überraschung überwunden war, bezeugt, daß auch sie eine Melodie nicht ganz passiv ins Gedächtnis zurückrufen könne, daß sie sie zur Herstellung der Erinnerung innerlich singen müsse, daß sie sich ihrer im Halse und daneben zugleich in den Fingern erinnere, indem sie sie unwillkürlich auf ihrem Instrument zu greifen glaube. Einer Farbe kann ich mich überhaupt nicht erinnern, wahrscheinlich weil ich Farben nicht wie Töne erzeugen kann. Nicht erzeugen durch einfache Arbeit meines Körpers. Wohl aber kann ich - lächerlich schlecht natürlich, aber das tut nichts zur Sache - mit dem Tuschkasten in der Hand eine Landschaft, ein Gesicht nach der Erinnerung reproduzieren.
Ein begabter Maler hat mir nach erbittertem Widerspruch zugestanden, daß es auch ihm nicht anders gehe. Er muß eine Zeichnung, er muß ein farbiges Gemälde schaffen, um sich seiner zu erinnern. Der Künstler hat besser gesehen, was ihn interessierte, als der Laie; ein passives Gedächtnis besitzt aber auch er nicht, auch er ist aktiv bei der Erinnerung. Der Alltagsmensch sieht so schlecht, daß er die Form eines Schrankes, der zwanzig Jahre in seinem Zimmer steht, aus dem Gedächtnisse nicht genau beschreiben könnte, daß er, auch wenn er zwanzigmal bewundernd vor der Sixtinischen Madonna gestanden hat, aus dem Gedächtnis nicht sagen könnte, ob sie den Jesusknaben auf dem rechten oder auf dem linken Arme trägt. Man irrt aber, wenn man das dem Gedächtnisse in die Schuhe schiebt; man hat eben unaufmerksam gesehen. Der aufmerksame Künstler kann den Schrank, kann die Sixtinische Madonna richtig nachzeichnen, aus dem Gedächtnisse, aber er muß tatsächlich oder in der Phantasie nachzeichnen, wenn er sich erinnern will. Jede Erinnerung ist eine Aktion.
Nun tritt aber in dieser Aktion etwas sehr Merkwürdiges hinzu, und darin steckt ein Rätsel des Gedächtnisses. Ich singe innerlich eine Melodie und empfinde, daß ich sie falsch singe; ich kann sie nicht richtig singen, aber ich weiß, daß sie anders ist. Der Maler zeichnet aus dem Gedächtnisse den Kopf eines Bekannten; er korrigiert die Fehler aus dem Gedächtnisse, und wenn er fertig ist, so weiß er, ob das Bildnis ähnlich geworden ist oder nicht. Wir besitzen also keine andere Erinnerung, als die wir uns aktiv neu schaffen, und doch sind wir imstande, unser Geschaffenes mit etwas zu vergleichen.
Was ist das? Was ist das im Bewußtsein nicht Vorhandene, womit ich die in das Bewußtsein eintretende, von außen oder von innen eintretende Empfindung vergleiche? Dieses Etwas muß nun ganz allgemein etwas Physiologisches genannt werden; denn physiologisch sind die Nervenzustände, solange sie nicht zum Bewußtsein kommen, solange sie nicht psychologisch werden. Dies deckt sich nun freilich mit der Bezeichnung Disposition, mit welcher die neuere Psychologie versucht hat, eine unklare, aber dafür unwiderlegliche Grundlage für die Gedächtnistätigkeit zu schaffen. Früher nahm man im Gedächtnis haftende, bleibende Spuren älterer Eindrücke an; da diese Spuren unter dem Mikroskop nicht sichtbar wurden (vielleicht könnte man die von FLECHSIG beobachteten Gehirnänderungen als die ersten breiten Spuren von Masseneindrücken auffassen), mußte man an ihre Stelle die Hypothese unsichtbarer Spuren setzen, und das ist eben die Disposition. Das Wort hat sich zur rechten Zeit eingestellt.
Das Rätsel ist also zwar nicht gelöst, aber mit einer alltäglichen Erscheinung in Zusammenhang gebracht, wie wir gleich sehen werden. Ich habe eine Melodie gehört. Ich erinnere mich ihrer, d.h. ich singe sie in meinem Innern nach. Es gelingt mir nicht, sie richtig nachzusingen, aber ich empfinde die Gewißheit, daß ich mich ihrer falsch erinnere, d.h. ich vergleiche die Nervenerregung, die mir mein innerliches Falschsingen verursacht, mit der zurückgebliebenen Disposition zur Nervenerregung, welche die richtige Melodie in mir verursachte. Dieser Vorgang ist aber kein anderer als der, auf welchem von Anfang bis zu Ende alle unsere Begriffe oder Worte, all unser Denken oder Sprechen beruhen. Die gesamte Tätigkeit der Klassifikation, welche unsere Menschensprache hervorgebracht hat, ist ja nichts anderes als die Vergleichung von Eindrücken und die Gleichsetzung ähnlicher Eindrücke durch ein gemeinsames Wort. Alles Urteilen ist nichts anderes als die Anwendung einer bestehenden Klassifikation auf einen neuen Eindruck, d.h. die Vergleichung einer gegenwärtigen Nervenerregung mit der Erinnerung an frühere Nervenerregungen. Alles Schließen und Denken ist eine komplizierte Vergleichung.
SPENCER schon hat erkannt, daß alles Denken aus dem Erkennen der Beziehungen von Gleichheit und Ungleichheit besteht. Er hat gezeigt, daß jede solche Beziehung nichts ist als eine Veränderung im Bewußtsein und daß jede Veränderung im Bewußtsein mit einer Erregung verbunden ist. Plötzliche Veränderungen im Bewußtsein können lebhafte Erschütterungen erzeugen, wie ein greller Blitz bei Nacht oder der Donner eines einschlagenden Blitzes. Aber auch Erinnerungen, also nicht von außen kommende plötzliche Veränderungen des Bewußtseins können uns einen Ruck geben, wie wenn es mir zu spät einfällt, daß ich eine Verabredung vergessen habe. Je weniger plötzlich oder je geringer die Veränderung ist, desto weniger leicht tritt sie über die Schwelle des Bewußtseins.
Der Begriff Veränderung hat überdies den großen Vorteil, daß er auf unser Denken angewandt werden kann, einerlei, ob wir es physiologisch oder psychologisch zu analysieren versuchen. Und er ist, wenn wir vor der letzten Konsequenz nicht zurückschrecken, der Oberbegriff für die Beziehungen der Gleichheit und Ungleichheit. Ich kann an dieser Einsicht nicht ganz schnell vorübergehen, weil sie bei der Reziprozität von Gedächtnis und Vergleichung einerseits, Gedächtnis und Sprache anderseits, also bei der nahezu vollständigen Gleichwertigkeit der Begriffe Sprache und Vergleichung wieder einmal ein Licht auf den Glauben wirft, man könne mit Hilfe der Sprache im Denken fortschreiten.
Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Kap. 27; Stuttgart/Berlin 1906
Zur Sprache und Psychologie, Kap. 27; Stuttgart/Berlin 1906
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