Begründung der Wissenschaftslehre; Unbedingtheit des wahren Wissens; Die problematische Bedingungslosigkeit der Wahrheit:
Wenn
überhaupt 'es' Wahrheit geben 'soll', so muß sie unbedingt sein (=unbedingt
gelten; denn 'Wahrheit' bezieht sich ohnehin nur auf Geltung; nicht auf
sinnlich Gegebenes.)
Unbedingt
= ihre Geltung beruht "in" ihr selbst und nicht "auf" einem
Anderen; welches andere - als der 'Grund', auf dem sie 'beruht' - sonst selber
die Wahrheit wäre, und so weiter in infinitum. -
Nun
gibt es nur zwei Möglichkeiten: (1) [unendliche Reihe]: hinter jeder
Denkbestimmung, welche 'gilt', lässt sich immer noch eine andere 'auffinden',
auf welcher ihre Geltung beruht, und wir kämen nie zu einem Punkt, an dem wir
halten und an den wir uns halten können; dann ist die Suche nach Wahrheit ein
unendlicher Regress, in dem 'es' keinen Grund 'gibt'; also keine Wahrheit, und
was immer wir sagen, möchte vielleicht den "Bedürfnissen" unserer
Sinne (mit denen "die Natur" uns versehen hat) von Nutzen sein; aber
einen Maßstab, nach dem wir die "Bedürfnisse" des einen im Vergleich
zu den Bedürfnissen eines andern beurteilen könnten, gäbe es dann nie und
nimmer...
-
Diese erste Möglichkeit, regressus in infinitum, tritt nur ein unter der
Voraussetzung, dass die Reihe der möglichen Denkbestimmungen eine unendliche
ist; d. h. dass wir an keinem Punkt (bei der analytischen Rückführung der Gültigkeit
von Denkbestimmung Y auf Denkbestimung X) auf Etwas stoßen, das in der bereits
zurückgelegten Reihe schon einmal vorgekommen ist.
(2)
[Kreis]: Finden wir jedoch einen solchen Punkt, so ist der Regress an seinem
Ende - und wir drehten uns im Kreis. Dann aber ist - mittelbar - jede Denkbestimmung
in jeder andern begründet (sofern man den ganzen Kreis genügend weit durchläuft).
Dann begründen sie alle einander; begründen "sich"
"durcheinander".
Aber
dadurch ist der Kreis selber doch nicht begründet. Ob er als Ganzes
"gilt", ist dann immer noch so fraglich, wie es vorhin bei der
unendlichen Reihe war. Aber einen Schritt sind wir dennoch weiter: wenn 'es'
Wahrheit 'gibt', dann könnte es jetzt nur noch der Punkt sein, der den
Kreis-Lauf "zusammenhält"; als dasjenige, welches macht, dass eine Bestimmung in allen andern begründet
ist ('Mittelpunkt' wie 'Radius' des Kreises: kommen in keinem einzelnen Punkt
auf dem Kreise selber vor; "begründet" aber jeden einzelnen von
ihnen, so dass einer aus dem andern "folgt"; warum? Weil 'Mittelpunkt' und 'Radius' nur Handlungsanweisungen sind, wie der Kreis
konstruiert werden soll.)
"Zusammen"
hängen sie im Durcheinander ("totale Relation", GL); welches ist: die
Form (eídos, Bild, schêma), durch welche sie zu Stande
kommen; der Akt, in welchem sie 'gesetzt' werden; Form des Akts selbst (Form =
geronnener Akt; Form des Akts "überhaupt" = Form der Form,
"absolute" Form, Form an sich {WL 1804, S. 84}). [Von "ich p, dass
q" bleibt nur noch: "p", da 'ich' und 'dass q' materiale
Bestimmungen sind, die als zufällige fortfallen; welches "p" für sich
aber nicht bestehen kann.]
Das
Durcheinander ist Form der Form, und als solche Grund der Geltungen = "die
Wahrheit" selbst. Sie ist unbedingt, aber nur unter der - in einer anderen
Ebene liegenden! - "Bedingung", dass sie sein soll; gilt nur, weil
und sofern die gelten soll. Diese Bedingung liegt außerhalb des Kreises selbst
und nicht, wie das Durcheinander, "innerhalb". Ist durch Denkbestimmungen
also nicht zu entscheiden (läge ja sonst im Kreis des Gewussten - und wäre
realer "letzter Grund", auf den wir doch irgendwann hätten stoßen müssen).
Ist nur durch Freiheit zu entscheiden; "praktisch", nicht
theoretisch. (Lässt sich theoretisch nur mittelbar, apagogisch rechtfertigen,
im modus tollens, durch reductio ad absurdum der entgegengesetzten Annahme:
"Soll" es Wahrheit nicht geben (soll keine Geltung sein), dann ist
jede Aussage in dieser Sache - und jede Aussage überhaupt - ungültig.)
Wie
lässt sich nun die Frage: 'unendliche Reihe oder Kreis' entscheiden? Etwa
faktisch, als wirkliche Durchmessung aller möglichen Denkbestimmungen und
Auffinden eines (wirklichen) Punkts, in dem (wirklich) zwei (wirkliche)
Denkbestimmungen gemeinsam begründet sind? Z folgt aus Y, Y folgt aus X, X aus
W usw., bis: B folgt aus A, aber A folgt aus Z', und 'es zeigt sich', dass Z'
ebenfalls aus... Y folgt... Die Lösung im Begriff der WL (1793)
geht so: Wenn das Wissen eine unendliche Reihe ist, dann ist es nicht begründet;
eine solche Annahme ist aber sinnlos, denn sie wäre ihrerseits - nicht begründet.
Wenn überhaupt gültig gedacht (= gewusst) werden soll, dann muss vorausgesetzt
werden, dass das wirkliche Wissen keine unendliche Reihe, sondern ein 'System'
(Verweisungszusammenhang, Kreis usw.) ist; dieser ist aufzusuchen, indem von
einer (x-beliebigen) wirklichen Denkbestimmung nach und nach alles Materiale
[das Was der Aussage] abgezogen wird und nur noch die reine Form [das Dass: dass
überhaupt ausgesagt wird...] zurückbleibt; eidetische Reduktion, epochê möchte
man sagen. -
Denn
ließe sich anders aus einer (faktischen) reellen Denkbestimmung tatsächlich
jener Punkt herausfiltern, in dem sie mit den (oder auch nur mit einer) andern
gemeinsam wirklich begründet ist, dann wäre das Problem theoretisch und positiv
gelöst: wir hätten erwiesen a) dass 'es' Wahrheit 'gibt', und b) worin sie
"besteht" ("worauf" sie "beruht"). Alles andere könnten
wir uns schenken. -
Tatsächlich
("real") ist das Wissen der Menschen (= Sinngebungen des Faktischen)
von einer Bestimmung zur andern fortgeschritten; historisch ist es ein
"Diskurs": ein Gewusstes wurde auf einem Gewussten abgesetzt,
"begründet"; indem ein bislang Unbekanntes auf ein schon Bekanntes
"zurückgeführt", "durch" es "erklärt" wurde; also
der tatsächliche Gang des menschlichen Wissens ist an sich 'diskursiv'; unabhängig
vom Sein "magischer", mythischer oder sonstwelchen Repräsentionsweisen.
Diskursiv
in specie wird das Denken, seit die neu hinzutretenden "Gewusstheiten"
nach Regeln geprüft werden, bevor sie dem Wissensfundus einverleibt werden; d.
h. verglichen werden mit dem schon Gewussten einerseits, und dem schon erworbenen
Wissen über das Wissen andererseits ["Kritik"]. So beginnt
Wissenschaft: punktuell durch Reflexion des reellen Wissens auf sich selbst, d.
h. das Eintreten der "idealen" Tätigkeit in den Vollzug selbst der
"realen" Tätigkeit. Ist aber dimensionell schon immer gegeben, sobald
sich einer auch nur fragt: Stimmt das auch, was ich da zu wissen meine?
Wissenschaftslehre
ist nun der Schritt, das Ganze angehäufte Realwissen daraufhin zu überprüfen,
ob und wie es insgesamt begründet ist. Das heißt, die reale Anschatzung von
Gewusstheiten im Verlauf unserer Gattungsgeschichte wird rückwärts auf ihre Gültigkeit
überprüft. Also Gesetze, die das Denken in seinem vieltausendjährigen Vollzug
sich selbst gegeben hat, werden ex post factum auf diesen Vollzug selbst zurückprojiziert
[als dessen Maßstab hineingetragen]. Da kann man dann bis zu einem gewissen
Grad der Gemeinplätzlichkeit sagen: "Die Leistungen des transzendentalen
Subjekts sind nichts als die Erwerbungen unserer Gattungsgeschichte"; so
Habermas in bemerkenswerter sachlicher Übereinstimmung mit Konrad Lorenz und
den Vulgärpragmatisten, zu denen auch H. Vaihinger zu zählen ist: Das
"Apriori" sei durch
trial
and error aufgefunden worden durch natürliche
Auslese: indem es sich "bewährt" habe im Dienste "des
Lebens".
Sei's.
Aber
das sagt allenfalls etwas über die tatsächliche Nützlichkeit (pragmatische
Richtigkeit) unseres Wissens. (Für die Realwissenschaften kommt es freilich
auch nur darauf an.) Aber was Wahrheit ist, wissen wir darum noch lange nicht.
Es hieße ja nur, dass die Instrumente, die wir uns selbst geschaffen haben, den
Erfordernissen unserer Lebensnotdurft hinreichend "angepasst" sind;
jusqu' à nouvel ordre: und dann bauen wir sie eben um, wie's uns eben passt.
Wir
sind aber so reich geworden, dass es nicht mehr genügt (theoretisch!), uns
unser Lebens aus der Notdurft ("Naturnotwendigkeit") begreiflich zu
machen, und der Sinn ("Fortschritt") der Menschheitsgeschichte [wenn
sie denn einen haben "soll", kann es nur dieser sein] war der,
dass
nun schon viele von uns so wohllebend geworden sind, dass ihnen ein
solches 'Begreifen' lebenspraktisch öd und entkräftend vorkommt. Sich am
Leben erhalten
ist ein Zweck ohne Würde.
So
ist das "Bedürfnis", recte: Streben nach Wahrheit aufgekommen. Wenn
sie keine Sorgen mehr um den Erhalt des Lebens haben, merken sie an der sich
einstellenden langen Weile erst, dass sie einen Geist haben (Fichte,
Rechtslehre 1812).
Wenn
wir nun die einmal - historisch, "selektiv" - gewonnenen Maßstäbe für
richtiges Denken im nachhinein - 'a posteriori' - an den Verlauf der tatsächlichen
Wissensanhäufung in unserer Gattungsgeschichte herantragen, unterstellen wir
ipso facto, dass dieselben Regeln allbereits gültig waren - 'a priori' -, bevor
wir sie "entdeckt" haben. Anders wäre ihre (logische) Anwendung auf
den (historischen) Verlauf des Wissenserwerbs gar nicht gerechtfertigt. Also
wir müssen das Resultat unseres Wissens ihm ex post als seine Begründung
voraussetzen. ("dass das Apriori zuerst Aposteriori gewesen sein muss..."
Fichte [wo?])
Wollen
wir aber denken dürfen, müssen wir unser Aposteriori apriori hypostasieren (hypokeimenon), und postulieren - müssen
postulieren - einen Zirkel im Wissen. Dann ist das Wissen kein grundloser
Regress in infinitum (und wäre folglich gar nicht), sondern ein "in sich
selbst begründeter" Kreis. Als solcher ist er begründet in seinem
Konstruktionsprinzip: Form der Form, Form des Akts, actus purus (factum absolute fiens, WL 1805, S. 87)
[5. 6. 92]
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
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