Samstag, 14. Juni 2014

Über Metaphysik.


F.-J. Lendeckel, pixelio.de

...Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik.

Es war eine Zeit, in welcher sie die Königin aller Wissenschaften genannt wurde, und wenn man den Willen für die Tat nimmt, so verdiente sie, wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Gegenstandes, allerdings diesen Ehrennamen. Jetzt bringt es der Modeton des Zeitalters so mit sich, ihre alle Verachtung zu beweisen und die Matrone klagt, verstoßen und verlassen, wie Hecuba: modo maxima rerum, tot generis natisque potens – nunc trahor exul, inops – Ovid. Metam. /

Anfänglich war ihre Herrschaft unter der Verwaltung der Dogmatiker, despotisch. Allein, weil die Gesetzgebung noch die Spur der alten Barbarei an sich hatte, so artete sie durch innere Kriege nach und nach in völlige Anarchie aus und die Skeptiker, eine Art Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen, zertrennten von Zeit zu Zeit die bürgerliche Vereinigung. Da ihrer aber zum Glück nur wenige waren, so konnten sie nicht hindern, daß jene sie nicht immer aufs neue, obgleich nach keinem unter sich einstimmigen Plane, wieder anzubauen versuchten. 

In neueren Zeiten schien es zwar einmal, als sollte allen diesen Streitigkeiten durch eine gewisse Physiologie des menschlichen Verstandes (von dem berühmten Locke) ein Ende gemacht und die Rechtmäßigkeit jener Ansprüche völlig entschieden werden; es fand sich aber, daß, obgleich die Geburt jener vorgegebenen Königin aus dem Pöbel der gemeinen Erfahrung abgeleitet wurde und dadurch ihre Anmaßung mit Recht hätte verdächtig werden müssen, dennoch, weil diese Genealogie ihr in der Tat fälschlich angedichtet war, sie ihre Ansprüche noch immer behauptete, wodurch alles wiederum in den veralteten wurmstichigen Dogmatismus und daraus in die Geringschätzung verfiel, daraus man die Wissenschaft hatte ziehen wollen. 

Jetzt, nachdem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind, herrscht Überdruß und gänzlicher Indifferentismus, die Mutter des Chaos und der Nacht, in Wissenschaften, aber doch zugleich der Ursprung, wenigstens das Vorspiel einer nahen Umschaffung und Aufklärung derselben, wenn sie durch übel angebrachten Fleiß dunkel, verwirrt und unbrauchbar geworden.

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Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur I. Auflage [A VIIf.]


Nota

Kant hat, wie Fichte es ausdrückt, der "erschaffenden", aus bloßen Begriffen"konstruierenden", dogmatischen Metaphysik ein für alle Mal ein Ende bereitet; aber nicht der Metaphysik überhaupt - die wollte er im Gegenteil durch Kritik allererst begründen.

Freilich durch eine Kritik, die nicht aufs Ganze geht; die ein Ansich, und gar ein Ding 'an sich' übriglässt, das von irgendwo außerhalb der endlichen Vernunft "gegeben" wurde. Wo aber die Kritik radikal ist und 'an die Wurzel geht', ist jeder Metaphysik der Boden entzogen. - Fichte hat dann zwar mit dem Ding 'an sich' aufge- räumt, aber eine Vernunft-an-sich beibehalten; und die diente ihm schließlich als Boden für eine dogmatische Kehrtwendung.
JE

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