Eine Paradoxe
Man rühmt den Nutzen der Überlegung in alle Himmel; besonders der kaltblütigen und langwierigen, vor der Tat. Wenn ich ein Spanier, ein Italiener oder ein Franzose wäre: so
möchte es damit sein Bewenden haben. Da ich aber ein Deutscher bin, so
denke ich meinem Sohn einst, besonders wenn er sich zum Soldaten
bestimmen sollte, folgende Rede zu halten. “Die Überlegung, wisse,
findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat. Wenn
sie vorher, oder in dem Augenblick der Entscheidung selbst, ins Spiel
tritt: so scheint sie nur die zum Handeln nötige Kraft, die aus dem
herrlichen Gefühl quillt, zu verwirren, zu hemmen und zu unterdrücken, dagegen
sich nachher, wenn die Handlung abgetan ist, der Gebrauch von ihr
machen läßt, zu welchem sie dem Menschen eigentlich gegeben ist, nämlich
sich dessen, was in dem Verfahren fehlerhaft und gebrechlich war,
bewußt zu werden, und das Gefühl für andere künftige Fälle zu
regulieren. Das Leben selbst ist ein Kampf mit dem Schicksal; und es verhält sich mit dem Handeln wie mit dem Ringen.Der Athlet kann, in dem Augenblick, da er seinen Gegener umfaßt hält, schlechthin nach keiner anderen Rücksicht, als nach bloßen augenblicklichen Eingebungen verfahren, und derjenige, der berechnen wollte, welche Muskeln er anstrengen, und welche Glieder er in Bewegung setzen soll, um zu überwinden, würde unfehlbar den kürzeren ziehen, und unterliegen. Aber nachher, wenn er gesiegt hat oder am Boden liegt, mag es zweckmäßig und an seinem Ort sein, zu überlegen, durch welchen Druck er seinen Gegner niederwarf, oder welches Bein er ihm hätte stellen sollen, um sich aufrecht zu erhalten. Wer das Leben nicht, wie ein solcher Ringer, umfaßt hält, und tausendgliedrig, nach allen Windungen des Kampfs, nach allen Widerständen, Drücken, Ausweichungen und Reaktionen, empfindet und spürt, der wird, was er will, in keinem Gespräch durchsetzen; viel weniger in der Schlacht.”
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Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, München 1965, Bd. II, S. 337f.
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