Mittwoch, 30. April 2014

Es gibt nichts Unbestimmtes.


uschi dreiucker, pixelio.de

Das logisch Unbestimmte ist phänomenal (entwicklungsgeschichtlich, genetisch) ein Zubestimmendes; nicht unbestimmt, sondern bestimmt als ein mit einem Mangel Behaftetes. Es ist als Frage gegeben. Es begegnet nicht als etwas, das im allgemeinen Verweisungszusammenhang der Bedeutungen keinen Platz hat, sondern als eines, dessen Platz noch aufzufinden ist. Es ist (schon) eine Aufgabe.

Dem Tier begegnet in seiner geschlossenen Umwelt nichts schlechthin Bedeutendes, sondern immer schon ein Dieses-Bedeutendes. Was in seiner Umwelt nichts zu bedeuten hat, begegnet ihm nicht als unbedeutend, son-dern begegnet ihm so-gut-wie-gar-nicht. Das Gesamt aller ihm möglichen Bedeutungen ist in seiner Umwelt, als seine Umwelt abgeschlossen. Es ist kein zu realisierender Verweisungszusammenhang, sondern realisiert sich selber als ein Dieses-hier-und-jetzt.

Der logischen Betrachtung erscheint das Reich der Bedeutungen als gegeben, der transzendentalen Betrachtung erscheint es als gemacht.

*

Was ist daran aber romantisch?

Dies: Das Schöne ist nach Kant das, was so aussieht, als ob es seinem Zweck vollends entspräche – ohne dass ein Zweck doch an ihm zu erkennen wäre.
 
Im Reich der Bedeutungen ist ihr Zweck immer das, was eine Sache zu ‘dieser’ bestimmen kann. Die ewige Subversion des ästhetischen Phänomens – das, was das Reich der gefügten Bedeutungen allezeit unterwühlt – ist ja nicht, dass es keine Bedeutung hat, sondern dass es den Betrachter heraus-fordert, eine neue Bedeutung, einen noch ungeahnten Zweck zu erfinden, die das bewährte Gefüge der gegebenen Bedeutungen aus dem Gleichgewicht bringen mögen. Und damit hat es nie ein Ende.

•Juni 13, 2010

Dienstag, 29. April 2014

Apologie des bloggenden Philosophierers.


Rembrandts Sohn Titus am SchreibpultRembrandt, Titus schreibend 

Zu Aufweckung des in jedem Menschen schlafenden Systems ist das Schreiben vortrefflich, und jeder der je geschrieben hat, wird gefunden haben, daß Schreiben immer etwas erweckt was man vorher nicht deutlich erkannte, ob es gleich in uns lag.
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Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher Heft J, N°19
 

Montag, 28. April 2014

Kannst du das auch beweisen?


“Behaupten kann jeder”, sagte August Wilhelm Schlegel zu seinem Bruder Friedrich, “aber man muss auch beweisen können.” Nein, entgegnete jener; beweisen kann jeder; behaupten muss man können.


*

Ob ich das auch beweisen kann?

Ich entsage dem Vergnügen, den Beweis zu versuchen, nur schweren Herzens, denn es wäre ein echtes Abenteuer geworden.

Ich fange die Frage vielmehr asketisch in einem Meta-Bereich ab und weise sie zurück: Ich war in der Vorhand, und ich habe geliefert. Jetzt sind die andern am Zug. Sie können entweder eine Erklärung vortragen, die meiner überlegen wäre, und ich müsste nachlegen. Oder sie könnten meine Erklärung widerlegen, dann müsste ich beschämt den Mund halten. Bloß eins können sie nicht: Auf einen unmotivierten Nachschlag von mir warten.

Ich bestehe auf Einhaltung der Reihenfolge. Eine ungesicherte Erklärung hat einen logisch höheren Rang als keine Erklärung. Sie hat Vorrang vor den faulen feilen Infragestellern.

•Mai 26, 2010

Sonntag, 27. April 2014

Nix gilt.


umkehrung

Im landläufigen  Diskurs der Postmoderne ist analytische Sprachphilosophie – “die Bedeutung der Wörter ist ihre Verwendung im Sprachspiel” - eine Verbindung eingegangen mit dem zeitgemäßen Konstruktivismus: “Sind ja doch alles nur Konstrukte…”

Die Quintessenz: Nix gilt und Anything goes.

Und wenn man sich die Welt ansieht, wie sie ist, haben sie nicht einmal Unrecht. Einen immanenten Sinn wird man aus der Welt nicht herausdestillieren. Aber man wird einen Sinn hinein’konstruieren’ müssen. Und das tun die Postmodernen ja auch. Indem sie nämlich Sätze sagen, die allgemeine Geltung beanspruchen: 1)  “die Bedeutung der Wörter ist ihre Verwendung im Sprachspiel” – und  2) “Sind ja doch alles nur Konstrukte…”

Recht haben sie: “Es gibt” keine allgemeinen Geltungen.

Unrecht haben sie: Es muss allgemeine Geltung geben, wenn… sinnvolle Sätze möglich sein sollen. Die Sätze Nix gilt und Wahrheit gibt es nicht erheben Anspruch auf Wahrheit und Geltung. Es sei denn, sie verzichteten darauf, für sinnvoll gehalten zu werden.

So würde es wieder stimmen.

•April 19, 2009

Samstag, 26. April 2014

Einbildungskraft und Urteilsvermögen.




Die Einbildungskraft liefert den Stoff der Vorstellung – und die Urteilskraft sagt Ja oder Nein dazu. Allerdings 'gibt es' das Ja nur in Gestalt eines ausgebliebenen Nein. Die Urteilskraft ist also "nichts als" die Fähigkeit des Nein- sagens. Der Mensch ist das Tier, das nein sagen kann, sagt Max Scheler.

Mein Bild passe nicht zu meinem Text, sagen Sie – das Nein der Waage sei vielmehr ein ausgebliebenes Ja? Das ist eben so ein springender Punkt: Die Verneinung lässt sich nicht anschaulich darstellen, nicht im 'analogen' Modus. Anschaulich ist die Einbildung. Sie ist dem Urteil voraus-gesetzt. Das, was in der Einbildung 'gemeint' war, müsste durch eine zweiten, nachträglichen Akt wieder aufgehoben werden – oder ich 'lasse es durchgehen'. Aber die Frage, ob ja oder nein, lag in jedem Fall dazwischen. Durch sie ist der Stoff meiner Einbildung aus dem Erlebensstrom heraus gehoben und zu diesem (im Unterschied zu allem andern) bestimmt worden. Ich habe ihn begriffen. Der Modus des Begreifens ist der 'digitale' - begreifen ist symbolisieren.
 
Die Verneinung lässt sich nur digital darstellen, weil sie erst im Akt des Begreifens möglich wurde.

Dezember 4, 2010


 

Freitag, 25. April 2014

Qualitäten sind singulär.


Ilya Serayev 2013

Ästhetische Eigenheiten sind qualitativ, nicht relationell. Darum lassen sie sich nur anschaulich wiedergeben, aber nicht begreifen.

Der bestimmte Gegensatz zur Qualität ist nicht die Quantität, sondern die Relation.* Relationen – das ja – lassen sich messen; Begriff ist Relation. Qualität nicht. Sie ist an sich. Man kann sie nachzubilden versuchen. Wenn es gelingt, nennt man es Kunst.

Juni 21, 2010  

*) Quantität ist selber eine Relation - und zwar die gewöhnlichste.  



Nachtrag. Der Begriff bezeichnet allerdings eine Relation -  sofern er nämlich mit andern Begriffen zu einem System von Wechselbestimmungen zusammengefasst ist. 'Ursprünglich' war er aber eine Vorstellung, die als Bild angeschaut wurde; singulär und qualitativ. Doch so konnte er weder im Gedächtnis archiviert noch einem beliebi- gen andern mitgeteilt werden. Erst in der prozessierenden Vergesellschaftung mit andern Bildern im ständigen Verkehr wurde er gefasst, festgestellt und eingegrenzt: 'Die Bedetuung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.' Die Sprache ist wiederum das System von allem, was sag- und denkbar ist. Die sprachliche Fassung des Bildes zum Begriff ist der Übergang von der analogen Vorstellung zur digitalen Darstellung.



Donnerstag, 24. April 2014

Wanderer.


Wanderer

Ich komme vom Gebirge her, es dampft das Tal, es braust das Meer. Ich wandle still, bin wenig froh, und immer fragt der Seufzer: wo? Die Sonne dünkt mich hier so kalt, die Blüte welk, das Leben alt, und was sie reden, leerer Schall, ich bin ein Fremder überall.

Wo bist du, mein geliebtes Land? Gesucht, geahnt und nie gekannt. Das Land, das Land so hoffnungsgrün, das Land wo meine Rosen blühn, wo meine Freunde wandelnd gehn, wo meine Toten auferstehn, das Land, das meine Sprache spricht, o Land wo bist du?

Ich wandle still, bin wenig froh, und immer fragt der Seufzer: wo? Im Geisterhauch tönt’s mir zurück: Da wo du nicht bist, da ist das Glück.
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Schmidt von Lübeck

Dienstag, 22. April 2014

Tätigkeit allein ist real.


Tätiger

Tätigkeit ist die eigentliche Realität. Weder Gegenstand noch Zustand sind allein rein zu denken. Durchs Reflektieren mischt sich das  Entgegengesetzte hinein und selbst schon durchs Streben – Begehren – denn beides sind identische Handlungen. Der Begriff der Identität muss den Begriff der Tätigkeit enthalten – des Wechsels in sich selber.
wechsel
Novalis, Fichte-Studien, in: Gesammelte Werke, Herrliberg-Zürich 1945, Bd. 2, S. 83

Montag, 21. April 2014

Der ästhetische Grund von Kunst und Wissenschaft.


rauchen31

Das Schönste, das wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, 
das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht.
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Albert Einstein

Wahrheit ist eine praktische Kategorie.


Rainer Sturm  / pixelio.de

Anders als die Gesetze der Geometrie ist die Annahme einer Wahrheit als konstitutivem Grund aller wahren Sätze nicht evident

Wer sagt, er könne die Sätze des Pythagoras nicht einsehen, der ist von Sinnen oder er will nicht. Dass 'es Wahrheit gibt', bestreiten dagegen viele, heute wie gestern. Es gebe nur Wahrheiten, nicht als eine Ganzheit, sondern ein möglicherweise endloses Neben- und Miteinander einzelner wahrer Sätze. Das mag man so einsichtig finden wie das Gegenteil, und der pragmatisch-skeptizistischen Grundstimmung der realen Wissenschaften liegt es heute sogar näher.

Dagegen kann man einwenden, dass allen Wahrheitsatomen dann immerhin diese eine Qualität gemeinsam wäre: wahr zu sein (oder richtig oder zutreffend oder wie immer man es nennen will). Das ist aber Ergebnis einer Reflexion aus vorab bestimmten Begriffe, und eben nicht unmittelbar einleuchtend.

Und es ist "bloß ein Gedanke", von dem keiner sagen kann, ob ihm in der Wirklichkeit etwas entspricht...

*

Nun wäre Wahrheit, ob es sie nun gibt oder nicht, keine Qualität des Wirklichen. Was ist, ist, und ist so, wie es ist. Es ist zwar richtig, dass 'es' die Qualitäten der Objekte nur 'gibt' als Antworten auf die Fragen, die Subjekte ihnen stellen. Ob sie antworten, liegt im Subjekt. Aber dass sie mit ja oder nein antworten, liegt daran, dass sie so oder so sind. 


Wahrheit ist keine Eigenschaft des Seienden. Wahrheit ist eine Eigenschaft von Sätzen, und die sind zunächst 'bloß ein Gedanke'. Wahr ist ein Satz, der gilt. Wenn er nur unter Bedingungen gilt, ist er nur bedingt wahr. Wenn er ohne Bedingungen gilt, ist er unbedingt wahr. Und das kann man denken. Gibt es mehrere Sätze, die unbedingt gelten, dann 'gibt es' die Qualität des Unbedingtgeltens.

Sätze über Erscheinungen in Raum und Zeit, vulgo in der Wirklichkeit, stehen unter den Bedingungen von Raum und Zeit. Dass sie unbedingt gelten könnten, wäre ein Widersinn.

In den Realwissenschaften kann es die Wahrheit nicht geben. Da reicht die Annahme einer Menge von einzelnen Wahrheitsatomen völlig aus, und da sie in Raum und Zeit bedingt sind, sind sie nur vorläufig. Mehr anzunehmen untergrübe die Wissenschaft.

*

Fichte betrieb nicht Realwissenschaft, sondern Wissenschaftslehre. Dass er sie auf einem Zirkel begründen musste, hat er den Skeptikern, die damals so in Mode waren wie heute, freimütig eingeräumt:

"Ueber diesen Cirkel hat man nun nicht Ursache betreten zu seyn. Verlangen, dass er gehoben werde, heisst verlangen,dass alles menschliche Wissen nur bedingt seyn, und dass kein Satz an sich, sondern jeder nur unter der Bedingung gelten solle, dass derjenige, aus dem er folgt, gelte, mit einem Worte, es heisst behaupten, dass es überhaupt keine unmittelbare, sondern nur vermittelte Wahrheit gebe – und ohne etwas, wodurch sie vermittelt wird."*

So muss, wer an die realen Wissenschaften mit dem Maßstab der formalen Logik heranginge, zugeben, dass auch sie 'vorübergehend' davon ausgehen muss, dass das, was jetzt gilt, gilt. Doch die Prämisse beruht auf einem Zirkel und gilt selber daher nur problematisch. In den reellen, 'theoretischen' Wissenschaften ist das kein wirklicher Mangel, denn der Wert ihrer Sätzen wird nicht an der Wahrheit gemessen, sondern daran, ob sie sich - technologisch oder forschungspraktisch - bewähren. Solange sie das tun, schadet es nichts, sie so anzusehen, als ob sie wahr wären - denn daran liegt nichts. Ob es "etwas gibt, wodurch sie vermittelt werden", muss sie nicht kümmern; Realwissenschaft ist nur vorläufig.

*

Ob es 'Geltung überhaupt' gibt, die nicht durch (wechselnde) Umstände von Raum und Zeit bedingt ist, wird zu einer Frage überhaupt nur für einen, dem es darum geht, sein Leben zu führen. Darf, kann, muss er das nach Lust und Laune tun, oder gibt es etwas, woran er sich halten soll? - Die Frage nach der Wahrheit ist ein praktisches Problem; von Evidenz ist keine Spur.
 


*) J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 62






Sonntag, 20. April 2014

XIV. Ein erster, letzter Grund oder: Der schöne Schein des Wahren


Helixnebel alias God's eye

Ursprung und Angelpunkt des abendländischen Denkens war die Frage nach dem Wahren. In der Sinnenwelt ist alles Trug. Sie scheint mal so, mal so, je nach Standort. Alles, was wird, wird vergehen. Wahr ist, was währt, das ewige Sein; doch es liegt unterm Werden verhüllt. Nur dem Denken ist es kenntlich, „denn dasselbe ist Denken und Sein“, sagt Parmenides. Die Frage nach dem wahren Sein ist die Frage, wonach sich mein Leben in der Mannigfaltigkeit trügerischer Erscheinungen richten soll. 

Man erkennt es beim Vergleich mit Heraklit, gegen den Parmenides angetreten war: Nicht zweimal könne man in einen Fluss steigen; der Fluss sei ein anderer geworden und der Mensch auch. Hinter dem Werden ist Nichts, wahr ist der Schein: Das möchte man einen heroischen Nihilismus nennen; ein aristokratisches Leben auf eigne Faust, das sich nicht jeder leisten kann. Die Vermutung, daß der Sinn der Welt zwar verborgen, aber jedenfalls in ihr liegt, macht dagegen auch kleinen Leuten Mut. Nicht anders konnte die Arbeitsgesellschaft siegen, nicht anders konnte Europa die Welt erobern.
Die Erkenntnis, dass nach dem Sinn gefragt werden muss, war die Geburtsstunde des Abendlands.
Der ebenbürtige Zeitgenosse von Heraklit und Parmenides war Aischylos – der als erster die Schuld der Menschen zum Thema gemacht hat; nämlich dass sie ihre Wege selber wählen. Es wurde zum Thema der westlichen Kultur. Man mag auch meinen, es sei die Conditio humana selbst. Nur wurde sie nicht überall ihrer bewusst. 

Das Wahre, das Ansich-Seiende, das Absolute; Wert, Bedeutung, Geltung, Sinn – das alles sind verschiedene Worte für ein Problem. Nämlich dies, dass der Mensch sich nicht mit dem Leben begnügen kann, sondern immer sein Leben führen muss. Führen wo hin, wo lang? Er muss sich orientieren. Das, woran er sich orientiert hat, um dessentwillen er gelebt hat, nennt er, rückblickend, ’das Wahre’, ‘das Absolute’, den ‘Sinn’. Das Erkennen ist zirkulär. 

Warum? Es kommt a posteriori. Denn gesetzt wird der Sinn immer ‘in actu’, hier und jetzt, an jedem Wegkreuz neu. Dem (nachträglichen) Erkennen erscheint es darum als a priori. ‘Das Wahre’, ‘das Absolute’, der ‘Sinn’ ist – reell wie ideell – eben keine Sache, sondern ein Problem. Es ist aber keins, worauf die Menschen ebenso gut verzichten könnten. Sie waren tätig, bevor sie erkennend wurden. Aber sie müssen erkennend sein, um selbsttätig zu werden. 

Nur weil der Mensch ein Leben führt, dessen Sinn weit über seine bloße Erhaltung hinaus reicht (wenn er es will), hat er das Problem der Freiheit. Ob er es will, ist damit noch nicht entschieden. Wenn einer sagt: Die Befriedigung meiner Bedürfnisse ist mir genug – wie kann ich ihm widersprechen? Es gibt noch viele, die sich mehr gar nicht leisten können. 

Aber eine Kultur, wo verknappter Luxus schon wie Not erscheint, lebt im Überfluss. Dieses ist eine Sinnbehauptung: Es sollte eine Welt des Reichtums entstehen, damit Menschen in die Lage kommen, ihre Freiheit bestimmen zu können. Nur darum gibt es die Frage nach der Wahrheit. Aber die ist ein Paradox.

Was ich tun soll, ist eine Frage von Bedeutungen. Ist Sache eines Urteils. Und dafür brauche ich Gründe, die gelten. Deren Geltung muss ihrerseits begründet sein, und so fort. Machen wir’s kurz: Wenn überhaupt etwas gelten soll, muss es irgendwo einen Grund geben, der schlechterdings gilt und in letzter Instanz, ohne alle Bedingung – die Bedingungen von Ort und Zeit zumal. In der Welt, die ‘der Fall ist’, wird man ihn nicht antreffen. Er ist “nicht von dieser Welt“, ich muss ihn mir hinzu denken.

FlaschenzugDass der menschliche Geist “notwendig etwas Absolutes außer sich setzen muss und dennoch von der andern Seite anerkennen muss, dass dasselbe für ihn da sei, ist derjenige Zirkel, den er ins Unendliche erweitern, aus welchem er aber nicht heraustreten kann. Es ist nur da, inwiefern man es nicht hat, und entflieht, sobald man es auffassen will”, schrieb Johann Gottlieb Fichte. Es “kann nur eine Idee sein; ein bloßer Gedanke in uns, von welchem gar nicht vorgegeben wird, dass ihm in der wirklichen Welt außer uns etwas entspreche. Ideen können unmittelbar nicht gedacht werden. Sie sind Aufgaben eines Denkens, und nur, inwiefern wenigstens die Aufgabe begriffen werden kann, kommen sie in unserm Bewusstsein vor.“ Eine Aufgabe nannten die Griechen ein Problem. Aber dieses Problem ist so gestellt, dass es schlechterdings nicht lösbar ist: Die Freiheit soll sich ihren Bestimmungsgrund außer sich suchen! Es ist ein Paradox. 

Das ist nicht bloß eine Idee. Das ist eine ästhetische Idee. Es ist, recht besehen, die ästhetische Idee schlechthin, die in alle tatsächlich vorkommenden Bestimmungen nach Ort und Zeit vorgängig hineingreift, die all die Qualitäten vereint, die ich an den Dingen “wertnehme”, bevor ich sie wahrnehme, und von der ich erst durch eine besondere Anstrengung des reflektierenden Verstandes wieder abstrahieren kann. 

Es “ist” nicht so. Aber so muss ich es mir vorstellen, wenn ich mir überhaupt Etwas vorstellen will. Das Wissen kann seinen eignen Grund nicht erkennen. Es muss ihn sich ein-bilden. Der höchste Akt der Vernunft sei ein ästhetischer, hieß es im ‘Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus’. Ob er wirklich stattgefunden hat, ist nicht entscheidend. Es scheint uns so, als ob er stattgefunden hätte. Er ist so wahr wie ein Mythos sein kann. Will sagen, er muss sich bewähren.

Bewähren in Sonderheit in meinem täglichen Tun und Lassen – als Sittlichkeit. “Die Ethik ist transzendental“, schrieb Ludwig Wittgenstein, um gleich hinzu zu fügen: “Ethik und Ästhetik sind eins.” Und es sei klar, dass sie sich als solche “nicht aussprechen” lassen.

In den Wörtern unserer Welt lassen sie sich nicht aussprechen. Denn sie gehören zu meiner Welt. Den andern kann ich sie allenfalls zeigen – in den Bildern der Kunst. In Wörtern lässt sich das Problem immer nur so formulieren: Der Sinn des Lebens ist, dass du nach ihm fragst. Eben ein heroischer Nihilismus oder, wenn man will, “Artisten-Metaphysik”. Auf jeden Fall ist es eine romantische Anschauung der Welt, und eine fröhliche.


Fata Morgana
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Samstag, 19. April 2014

Ein Gefühl ist sie doch.

tonperry, pixelio.de

Evidenz ist ein Gefühl. Gründe kann sie nicht mehr geltend machen, Gründe werden erwiesen durch Demon- stration: vormachen - und den Andern zum gedanklichen Nachmachen zwingen. Problematisch ist allein das Zwingen. Wenn es gelang, stellt die Evidenz von selbst sich ein. Aber ein Gefühl ist sie doch.

*

An der Stelle ist an Johann Friedrich Herbart zu erinnern. Er war Fichtes erster und eifrigster Hörer in Jena, hat sich aber schon bald von der Transzendentalphilosophie abgewandt, um eine eigenes, an den Eleaten orientier- tes System zu kreieren; das wäre ein Thema für sich.

Das Beste an diesem System ist seine fundamentale Unterscheidung zwischen der diskursiven, 'anknüpfenden' Vernunft, die er pauschal als Metaphysik begreift, und dem Reich des Ästhetischen, dem er alle Vorstellungen zu- ordnet, die 'notwendig vom Gefühl des Beifalls oder der Ablehnung begleitet' sind (und dem als Untergruppe die Ethik zugehört). Der Einfall trägt noch deutlich Fichtesche Spuren an sich.

Wie anders als ästhetisch kann man das Phänomen der Evidenz bezeichnen? Sie ist ein Urteil, das nicht aus vor- ausgehenden Begriffen, sondern aus der bloßen Anschauung - Evidenz - stammt. Sie ist das aktuale Erleben, dass es anders nicht geht.

Doch nicht zu vergessen: Auch die Axiome der Geometrie sind nicht evident, solange man sich zum Konstruieren nicht entschließen konnte.



Freitag, 18. April 2014

Notwendig und vernünftig.


Dieter Schütz  / pixelio.de

...Nochmal ganz kurz: Ein gültiger Grund ist ein "vernünftiger" Grund, also einer, der "jedem vernünftig denkenden Menschen" (diese Prämisse ist unhintergehbar) als notwendig erscheint. Man mag im einzelnen Fall immer darüber streiten, ob das zutrifft oder nicht. Aber dass es zutreffen muss, damit... , ist unstrittig. 

Unstrittig ist auch, dass meine momentane Lust nicht notwendig, sondern in einem vernünftigen (=logischen) Sinn ganz zufällig ist.

aus e. online-Forum, 20.10.2007

 

Donnerstag, 17. April 2014

Das wahrhaft Komische.


lachen

Jetzt lassen Sie uns von dem wahrhaftig Komischen sprechen! Wer mag denn die Ironie wegleugnen, die tief in der menschlichen Natur liegt, ja die menschliche Natur in ihrem innersten Wesen bedingt und aus der mit dem tiefsten Ernst der Scherz, der Witz, die Schalkheit herausstrahlen. [...] Die krampfhaften Zuckungen des Schmerzes, die schneidensten Klagetöne der Verzweiflung strömen aus in das Lachen der wunderbaren Lust, die eben erst von Schmerz und Verzweiflung erzeugt wurde. Die volle Erkenntnis dieses seltsamen Organism der menschlichen Natur möchte ja eben das sein, was wir Humor nennen und so sich das tiefe innere Wesen des Humoristischen, welches meines Bedünkens mit dem wahrhaft Komischen eins und dasselbe ist, von selbst bestimmen.
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E.T. A. Hoffmann, Seltsame Leiden eines Theater-Direktors
in: Werke, München1964, Bd.I, S. 654

Mittwoch, 16. April 2014

Wissenschaft und gesunder Menschenverstand.


Rembrandt oder Schüler, Ein Gelehrter in luftiger Stube

Nicht das wissenschaftlich Denken unterscheidet sich vom gesunden Menschenverstand. Die Aufmerksamkeit des Wissenschaftlers unterscheidet sich vom Alltagsbewusstsein. Während der Alltagsmensch nach Gründen nur fragt, wenn etwas anders ist als normal, will der Wissenschaftler gerade die Normalität erklären; und einige bohren tiefer als die andern.

Während im 17. Jahrhundert die Annahme von ehern waltenden Naturgesetzen das auszeichnende Merkmal einer Handvoll Wissenschaftler war, ist sie heute ein "allgemeines Volksvorurteil", wie Marx sagen würde. Wer heute nicht das Prinzip von Ursache und Wirkung allezeit gewärtig hat, steht am Rande der bürgerlichen Ge-sellschaft. In der Wissenschaft dagegen gilt es nicht mehr dogmatisch, sondern nur noch regulativ.


So wie Kunst das ist, was Künstler tun, ist Wissenschaft das, was Wissenschaftler treiben. Der Phänotyp des Wissenschaftlers und der Phänotyp des Künstlers liegen an den beiden entgegegesetzen Polen der Normalität; dort aber in aller Öffentlichkeit.





Dienstag, 15. April 2014

Sein und Gelten.


Thaler, reell (oder nur abgebildet?)

Kant hat bemerkt, wie ohne Zweifel viele vor ihm, dass die hundert Taler, die er sich denkt, doch leider ganz was andres wären, als hundert Taler, die er in seiner Tasche trüge. Wohl wahr, sagt Hegel; aber so ganz und gar nichts wäre das, was man sich denkt, andrerseits doch auch wieder nicht.

Die Taler in der Tasche und die Taler in der Vorstellung haben eins gemein: Alle zweihundert haben eine Bedeutung. Will sagen, in beiden Modi können sie mich dazu bestimmen, mich so oder anders zu verhalten. Ob ich sie habe, sie nicht zu haben bedaure, sie zu haben begehre, sie zu haben nicht achte…

Licht in dieses Mysterium hat Hermann Lotze gebracht. Er unterscheidet – Ei des Kolumbus – drei verschiedene Wirklichkeits- oder besser Gegebenheitsmodi: das (allbekannte) Sein, das (später so genannte) Erleben und das – erst von ihm zur Geltung gebrachte – Gelten. Von den so genannten Wahrheiten sagt er insbesondere: “Sie schweben nicht zwischen, außer oder über dem Seienden. Als Zusammenhangsformen mannigfaltiger Zustände sind sie vorhanden nur in dem Denken eines Denkenden, indem es denkt, oder in dem Wirken eines Seienden in dem Augenblick seines Wirkens.” (Lotze, Mikrokosmos, III/2, 579)

Das war erst nur eine logisch formale Unterscheidung. Materiallogisch gedacht, müsste es so heißen: Allererst ‚gegeben’ ist das Erleben selbst; ein Strom von Empfindungen, in dem Sinnliches, Logisches und ästhetisch-moralisch Werthaftes noch gänzlich ungeschieden als ein und dasselbe „in Erscheinung treten“.

Alles was danach kommt ist ein Arbeitsprodukt der Reflexion.

Die hundert Taler in meiner Vorstellung und die hundert Taler in meiner Tasche gelten gleich, wenn ich an ihnen eine Rechung – sagen wir: von Zins und Zinseszins – durchführe. Sie gelten ganz verschieden, wenn ich eine Schneiderrechnung bezahlen soll.

Mit ihrem Sein hat das durchaus zu tun – indem es nämlich in mein  Dasein mal mehr, mal weniger eng verstrickt ist.

April 13, 2009

Montag, 14. April 2014

Drei Sekunden und die Dauer des Subjekts.



aus Neue Zürcher Zeitung, 27. 11. 2010

Ein Vortrag des Hirnforschers Ernst Pöppel

Von Uwe Justus Wenzel · Das Hirn darf man sich als einen nervösen Menschen vorstellen. In Abständen von wenigen Sekunden fragt es: «Was gibt’s eigentlich Neues in der Welt?» So – so ungefähr – hat es Ernst Pöppel formuliert. Der an der Ludwig-Maximilians-Universität in München arbeitende Psychologe sprach am vorgestrigen Abend in der vollbesetzten Aula der Zürcher Universität auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung über das Thema «Gehirn und Persönlichkeit». Zahlreiche Untersuchungen, so liess er wissen, haben ergeben: Drei Sekunden dauern mit messbarer Regelmäßigkeit die Szenen der Aufmerksamkeit, die sich auf der Bühne des Bewusstseins abspielen. Drei Sekunden währt mithin die Gegenwart; Drei-Sekunden-Einheiten strukturieren die Welt. Ernst Pöppel findet die drei Sekunden in der Dauer eines Händedrucks ebenso wieder wie in der Zeit, die vergeht, bis zappende Fernsehkonsumenten sich entschieden haben, ob sie bei einem Sender verweilen.


Sogar von der Rhythmik der Poesie, der Länge der Verszeilen, lässt der Neurowissenschafter sich seine These bestätigen. Sie läuft in dieser Version auf die Behauptung hinaus, es gebe «biologische Marker» für ästhetische Werte. Mit heiterer und gar nicht nervöser Selbstironie interpretierte Pöppel seinen Ausgriff in die Welt der Kunst als ein Anzeichen für die «Präpotenz» der Hirnforschung. Zu Beginn hatte er sich von einem grassierenden «Neuro-Pop» distanziert, der auf alle Fragen eine neurowissenschaftliche Antwort zu haben vorgaukelt. Nicht an jeder Stelle der locker ineinander geflochtenen Ausführungen war dann aber deutlich, wie demgegenüber so etwas wie eine Neuro-Klassik aussähe, die einer Phantasie der Allzuständigkeit nicht die Zügel schießen ließe. Mussten wir wirklich erst auf die Hirnforschung warten, um zu wissen, dass es leichter fällt, Fremdsprachen in jungen Jahren zu lernen?

Das eigentliche Vortragsthema, «Gehirn und Persönlichkeit», fand im Anschluss an die «Drei-Sekunden-Bühnen» seine Fortsetzung in der Frage, wie überhaupt eine Kontinuität der Selbstwahrnehmung zustande komme, wenn die Aufmerksamkeitsspannen des Bewusstseins so kurz sind (und wenn zudem der innere Sinn die Zeit nicht als fliessenden Strom wahrnimmt, sondern als ein in Einheiten von dreissig, vierzig Millisekunden «zerhacktes» Pulsieren). Pöppels Antwort: durch «semantische Vernetzung und soziale Synchronisation» – dadurch also, dass Bedeutung und Sprache ins Spiel kommen und andere Menschen.

Das «und» ist Ernst Pöppel wichtig. Er verficht das Prinzip der Komplementarität (das die Leser seines lesenswerten Buches «Der Rahmen» schon kennen): Identität und Dynamik, Rationalität und Gefühl, Autonomie und soziale Einbindung bestimmen das Geschehen. Mit der Komplementarität als Prinzip, das Harmonien aus Gegensätzlichem wirkt, geht dasjenige der Homöostase Hand in Hand: Alle Organismen, vom Einzeller bis zum Menschen, suchen ihr Gleichgewicht und damit sich selbst zu erhalten. Die Homöostase kam freilich nur kurz, am Anfang des anregenden Vortrags, vor (verkörpert von einem projizierten Einzeller). Sie wäre vermutlich auch der Anknüpfungspunkt gewesen, um zu erörtern, inwiefern die Neuropsychologie zu dem Thema der Veranstaltungsreihe etwas beizutragen vermag, in deren Rahmen Ernst Pöppel gesprochen hat: «Strategien in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft».

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Nota.

“Neuropop” ist eine hübsche Wortprägung. Aber ob Neuropotpourri viel besser ist?

…dass der “innere Sinn die Zeit nicht als fließenden Strom wahrnimmt, sondern als ein in Einheiten von dreißig, vierzig Millisekunden «zerhacktes» Pulsieren”: Was soll das denn heißen: der ‘innere Sinn’ “nimmt wahr”? Was ist denn das für eine “Wahr”nehmung, von der keiner was merkt? Merken kommt nicht ohne (wie immer man es definieren mag) Bewusstsein aus. Aber die in dreissig, vierzig Millisekunden pulsieren Hackstückchen kommen doch eben nicht zu Bewusstsein. “Gegeben” ist aber die Zeit, wenn überhaupt, nur dem Bewusstsein. Und im Bewusstsein fließt sie.

Na, und so weiter.

Noch eins sei aber hervorgehoben: “Komplementarität”, “Harmonie” und “Homöostase ” – das ist Neurometaphysik. Nämlich wenn man sie wie wirkende Kräfte vorstellt. Was lässt sich beobachten? Dass in allem Lebenden zwei gegensätzliche Tendenzen vorkommen – eine zum Wachstum ‘aus sich’ oder ‘über sich’ hinaus; und eine andere zur Beharrung im Status quo und zu seiner Wiederherstellung ‘auf erweiterter Skala’. Und wer kann diese ‘Tendenzen’ beobachten? Nur einer, der darauf achtet.


Nota II. 

"...dadurch also, dass Bedeutung und Sprache ins Spiel kommen und andere Menschen", schreibt ujw. Das müsste richtiger heißen: "durch andere Menschen". In Bedeutungen lebt auch das Tier. Aber sie sind in sein Verhaltensrepertoire stammesgeschichtlich eingrägt. Es muss sie sich nicht vorstellen - nicht als solche wahrnehmen. Das muss erst der Mensch, nämlich wenn er sie mitteilen will - andern Menschen.
JE




Sonntag, 13. April 2014

Aufscheuchen.


aufgescheucht

Durch das Planlose Umherstreifen durch die planlosen Streifzüge der Phantasie wird nicht selten das Wild aufgejagt, das die planvolle Philosophie in ihrer wohlgeordneten Haushaltung gebrauchen kann.
____________________________________________
Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft J, N°1550


Nota.
Sogar mehr, als sie gebrauchen kann.
JE

Samstag, 12. April 2014

Gott kommt erst noch.

eagle-nebula

"Ich glaube nicht, daß Gott da war, sondern daß er erst kommt. Aber nur, wenn man ihm den Weg kürzer macht als bisher!"

Se. Erlaucht wies das mit den würdigen Worten zurück: "Das ist mir zu hoch."
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Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften 
Hg. A. Fris‚ Hamburg 1952, S. 1022



Freitag, 11. April 2014

Geist?




Der Geist führt einen ewigen Selbstbeweis. 
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aus: Fragmente, Athenaeum, I. Bd., 2. Stück 



Donnerstag, 10. April 2014

Am eignen Schopf.


 

Das Einzigwirkliche ist das “Dasein”, alias unser Erleben hier-und-jetzt.

Da wir aber mit der schlimmen Gabe der Vernunft geschlagen sind, können wir uns dabei nicht beruhigen. Wir müssen in Allem einen Sinn erkennen können; d. h. Etwas, das unser Erleben hier-und-jetzt so erscheinen lässt, als ob es darüber hinaus noch eine Daseinsweise “an sich”, außerhalb von Raum und Zeit hätte.

Das ist eine Fiktion, aber eine, auf die wir um unseres Seelenfriedens willen nicht verzichten können. “Moral ist die Zuordnung eines Augenblickszustandes unseres Lebens zu einem Dauerzustand”, sagt der Mann ohne Eigenschaften. Moral und Vernunft sind insofern dasselbe. Oder, wie Joh. Fried. Herbart richtig eingesehen hat: Jedes Wahrnehmen, das eo ipso von Beifall oder Missfallen begleitet wird, ist ein ästhetisches.

Diese Grundeinsicht: dass das Einsehen vor dem Erkennen, dass das Wertnehmen vor dem Wahrnehmen, dass das Ästhetische vor dem Faktischen kommt und dass Ethik lediglich ein Sonderfall von Ästhetik ist; und dass darum zum Beispiel ‘Bilden’ vor ‘Lernen’ rangiert – diese Grundeinsicht zu entwickeln und, so Gott will, zu popularisieren und womöglich im deutschen Bildungssystem geltend zu machen: dazu will ich ein Scherflein beitragen.


Mittwoch, 9. April 2014

Wesentlich.


Tournus, St. Philibert

…aber seit wir uns vom Himmel getrennt haben, lebt es [das Wort 'wesentlich'] auf Erden als die Sehnsucht, unter tausenden moralischen Überzeugungen die einzige zu finden, die dem Leben einen Sinn ohne Wandel gibt.
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Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
Hg. A. Fris‚ Hamburg 1952, S. 1216




Dienstag, 8. April 2014

Urteil und Sein.


Ur-Teilung

Urteil ist im höchsten und strengsten Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellektualen Anschauung innigst vereinigten Objekts und Subjekts, diejenige Trennung, wodurch erst Objekt und Subjekt möglich wird, die Ur=Teilung. Im Begriffe der Teilung liegt schon der Begriff der gegenseitigen Beziehung des Objekts und Subjekts aufeinander, und die notwendige Voraussetzung eines Ganzen, wovon Objekt und Subjekt die Teile sind. »Ich bin Ich« ist das passendste Beispiel zu diesem Begriffe der Urteilung, als Theoretischer Urteilung, denn in der praktischen Urteilung setzt es sich dem Nichtich, nicht sich selbst entgegen.

Wirklichkeit und Möglichkeit ist unterschieden, wie mittelbares und unmittelbares Bewußtsein. Wenn ich einen Gegenstand als möglich denke, so wiederhol ich nur das vorhergegangene Bewußtsein, kraft dessen er wirklich ist. Es gibt für uns keine denkbare Möglichkeit, die nicht Wirklichkeit war. Deswegen gilt der Begriff der Möglichkeit auch gar nicht von den Gegenständen der Vernunft, weil sie niemals als das, was sie sein sollen, im Bewußtsein vorkommen, sondern nur der Begriff der Notwendigkeit. Der Begriff der Möglichkeit gilt von den Gegenständen des Verstandes, der der Wirklichkeit von den Gegenständen der Wahrnehmung und Anschauung.

Sein - drückt die Verbindung des Subjekts und Objekts aus.

Wo Subjekt und Objekt schlechthin, nicht nur zum Teil vereiniget ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Teilung vorgenommen werden kann, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verletzen, da und sonst nirgends kann von einem Sein schlechthin die Rede sein, wie es bei der intellektualen Anschauung der Fall ist.

Aber dieses Sein muß nicht mit der Identität verwechselt werden. Wenn ich sage: Ich bin Ich, so ist das Subjekt (Ich) und das Objekt (Ich) nicht so vereiniget, daß gar keine Trennung vorgenommen werden kann, ohne, das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verletzen; im Gegenteil das Ich ist nur durch diese Trennung des Ichs vom Ich möglich. Wie kann ich sagen: Ich! ohne Selbstbewußtsein? Wie ist aber Selbstbewußtsein möglich? Dadurch daß ich mich mir selbst entgegensetze, mich von mir selbst trenne, aber ungeachtet dieser Trennung mich im entgegengesetzten als dasselbe erkenne. Aber inwieferne als dasselbe? Ich kann, ich muß so fragen; denn in einer andern Rücksicht ist es sich entgegengesetzt Also ist die Identität keine Vereinigung des Objekts und Subjekts, die schlechthin stattfände, also ist die Identität nicht = dem absoluten Sein.

ist
in Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Frankfurt a. M. 1961, S. 547f.

Montag, 7. April 2014

In eigner Sache.

                   
Disput der Philosophen; Jusepe de Ribera zugeschrieben
 
Das Internet hat nicht nur den Zugang zu wissenschaftlichen Inhalten erweitert, sondern auch den Zugang zur wissenschaftlichen Produktion selbst. 

Zweihundert Jahre lang wurde Wissenschaft fortschreitend auf den institutionellen Rahmen des Universitäts- betriebs verengt – darauf, dass sie berufsmäßig und in Erwerbsabsicht betrieben wurde. Das hat nicht nur personell, sondern auch thematisch ihre Freiheit eingeschränkt. Das Internet weitet den Rahmen wissenschaftlicher Tätigkeit nicht nur institutionell, sondern auch personell - und befreit schließlich auch die Formen ihrer literarischen Produktion. Neben dem akademischen Betrieb findet nun auch der Privatgelehrte wieder Platz, und neben der Abhandlung finden Essay und Aphorismus in die Wissenschaft zurück. 

Eine weitere Einengung hat die Freiheit der Wissenschaft erfahren durch die Bindung des Veröffentlichungswesens an die Verwertungsbedingungen der Druckerpresse. Nur was gedruckt war, gelangte an die Öffentlichkeit, die die Bedingung der Wissenschaft ist. Aber nur, was sich rechnet, kann gedruckt werden. Im Internet ist das nicht mehr so. Es ist von marktgängiger Nachfrage frei. 

Zwar hat das Internet in den wenigen Jahren seines Bestehens seine eigenen Gesetze ausgebildet, doch ob sie die Wissenschaft ihrerseits einschränken, muss sich erst zeigen. Einstweilen erweitern sie noch ihren Radius. 

Im Internet findet alles seinen Platz. Aber wer nicht schon vorher weiß, was genau er sucht, der findet nichts. Das Internet kennt keine Hierarchie, eines steht gleichberechtigt neben dem andern. Was Beachtung finden will, muss Aufmerksamkeit erregen. Das könnte auf die Dauer eine Gefahr sein – aber zugleich erweitert das Internet die Möglichkeiten der Kritik, sodass sich die Gefahr in Grenzen halten lässt. 

Es reicht nicht aus, durch einen sprechenden Titel die Aufmerksamkeit des Lesers zu wecken. Eine wissenschaftliche Veröffentlichung im Internet muss den Leser auch optisch ansprechen. 

Darum braucht sie Bilder. 

Indes, wie die Rückkehr von Essay und Aphorismus ist auch das eine Ausweitung und keine Einengung wissenschaftlicher Produktion. An Stelle hölzern abstrakten Räsonnierens  ist das wissenschaftliche Schreiben aufgefordert, zur Anschaulichkeit zurück zu finden. Das tut nicht nur der Stellung der Wissenschaft in der Welt gut, sondern vor allem ihr selber.

Das gilt zwar alles nicht für die kostspieligen Naturwissenschaften und ihre Labors, sondern nur für die pp. Geisteswissenschaften. Aber die haben es auch nötiger - schon weil sie von amtswegen zum Korrektiv der Naturwissenschaft berufen sind.

* 

Wer ein Blog betreibt, muss damit rechnen, dass ein Gutteil seiner Besucher durch Zufall oder selbst durch ein Missverstännis zu ihm findet. In meinem Fall: ohne ein eigentlich philosophisches Interesse. Sobald sie den Irrtum bemerken, klicken sie weiter. Aber ich nehme an und hoffe sogar, dass ein Teil - und wenn es nur zwei, drei, viere sind - überrascht ist und mehr wissen will. Wenn so der eine oder andere, und wenn es nur zwei, drei, viere wären, unverhofft einen Einstieg ins philosophische Denken findet, wiegt das schwer genug, um in der Form der Darstellung darauf Rücksicht zu nehmen. 

Mancher Leser mag sich am stellenweise elementaren und didaktischen Tonfall meiner Einträge gestoßen haben. Ich versuche, wo immer es möglich ist, so zu schreiben, dass auch ein Neuling immerhin verstehen kann, worum es geht, und ihm einen Weg zu zeigen, wo er weitersuchen kann. Und das nicht nur aus Altruismus, sondern im eignen Interesse. Denn dem philosophischen Denken tut es gut, sich selbst immer wieder an die gedanklichen Voraussetzungen zu erinnern, von denen es ausgegangen ist. Und auch dem philosophisch vorgebildeten Besucher tut es gut. 

Nehmen Sie also meine gelegentlich primären Ausführungen bitte billigend in Kauf.
 
Dienstag, 21. Februar 2012  

Sonntag, 6. April 2014

Die Entdeckung des savoyischen Vikars.


I.Friedrich, pixelio.de

Kein materielles Wasen ist durch sich selbst tätig, ich aber bin es. Vergeblich wird man mir dies zu bestreiten suchen, ich fühle es, und dies Gefühl, welches zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, welche es bekämpft. Ich besitze einen Körper, auf welchen die anderen ebenso einwirken wie er auf sie. Diese wechselseitige Einwirkung aufeinander ist unzweifelhaft; aber mein Wille ist von meinen Sinnen unabhängig, ich stimme bei oder widerstehe, ich unterliege / oder bleibe Sieger, immer sagt mir eine innere Stimme, ob ich getan habe, was ich habe tun wollen, oder ob ich nur meinen Leidenschaften nachgegeben habe. Zwar habe ich stets die Macht zu wollen, aber nicht immer die Macht zur Ausführung des Gewollten. Wenn ich mich den Versuchungen ergebe, so lasse ich mich bei meinem Handeln durch den Antrieb äußerer Objekte bestimmen. Wenn ich mir dagegen wegen meiner Schwäche Vorwürfe mache, so schenke ich nur meinem Willen Gehör. Ich bin durch meine Laster Sklave, und frei durch meine Gewissensbisse. Das Gefühl meiner Freiheit verliert sich in mir nur dann, wenn ich sittlich so tief sinke, daß ich die Stimme der Seele verhindere, sich gegen das Gesetz des Körpers zu erheben.

Ich kenne den Willen nur, insoweit ich mir des meinigen bewußt werde, und der Verstand ist mir nicht besser bekannt. Wenn man mich nach der Ursache fragt, welche meinen Willen bestimmt, so frage ich meinerseits nach der Ursache, welche mein Urteil bestimmt; denn es ist klar, daß diese beiden Ursachen eigentlich nur eine einzige ausmachen; und wenn man genau begreift, daß der Mensch beim Fällen seiner Urteile eine Tätigkeit ausübt, daß sein Verstand in nichts anderem als in der Fähigkeit zu vergleichen und zu urteilen besteht, dann wird man auch begreiflich finden, daß seine Freiheit nur eine ähnliche oder von jener abgeleitete Fähigkeit ist. Er wählt das Gute nach dem, was seinem Urteil zufolge das Wahre ist; hat er ein falsches Urteil gefällt, so wird auch seine Wahl schlecht sein. Welches ist also die Ursache, die seinen Willen bestimmt? Es ist sein Urteil. Und welches ist nun wieder die Ursache, die sein Urteil bestimmt? Es ist seine geistige Fähigkeit, sein Vermögen, zu urteilen. Die bestimmende Ursache liegt in ihm selbst. Hier ist die Grenze, über welche hinaus ich nichts mehr verstehe. 

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J. J. Rousseau, Émile oder Ueber die Erziehung [1762]
Band 2, Leipzig [o.J.], S. 156f. 


Samstag, 5. April 2014

Der Zweifel des savoyischen Vikars.


Mariano Chelo, Il dubbio

Es war David Hume, der mit seiner Kritik am wissenschaftlichen Gebrauch der Kausalitätsvorstellung den späteren Alleszermalmer Kant "aus seinem dogmatischen Schlummer gerissen" hat, wie jener selbet bekundete. Wer ihm dann aber den Weg aus dem fundamentalen Zweifel gewiesen hat, in den er gestürzt wurde, darüber ist er nicht so explizit. Ernst Cassirer* hat es aufgedeckt, es war J. J. Rousseau, der im philosophische Kernstück seines epochalen Émile, dem "Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars" im IV. Buch das transzendentale Ich erfunden hat, von dem aus Kant die rationalistische Metaphysik und alle sonstige Dogmatik aus den Angeln heben sollte. 

Hier kommt dessen erste Spur:

Allein wer bin ich? Was berechtigt mich dazu, über die Dinge zu urteilen? Und was bestimmt meine Urteile? Beruhen sie lediglich auf den augenblicklichen Eindrücken, die ich empfange, so gebe ich mir mit diesen Forschungen vergebliche Mühe. Sie finden entweder gar nicht statt, oder geschehen von selbst, ohne daß ich erst darauf auszugehen brauche, ihnen ihre Richtung vorzuschreiben. Es ist deshalb nötig, daß ich meine Blicke zuerst auf mich selbst lenke, um das Werkzeug, dessen ich mich bedienen will, kennen zu lernen und mir darüber Gewißheit zu verschaffen, bis zu welchem Punkt ich mich bei seiner Anwendung auf dasselbe werde verlassen können.

Ich bin und besitze Sinne, vermittels welcher ich Eindrücke erhalte. Das ist die erste Wahrheit, gegen die ich mich nicht verschließen kann und der ich notwendigerweise zustimmen muß. Habe ich ein eigenes Gefühl meiner Existenz, oder werde ich mir derselben nur durch meine Sinneswahrnehmungen bewußt? Das ist mein erster Zweifel, dessen Lösung mir für jetzt unmöglich ist. Denn wie kann ich, da ich fortwährend entweder unmittelbar oder durch das Gedächtnis Eindrücke erleide, wohl wissen, ob diese Empfindung meiner selbst etwas mit diesen nämlichen Eindrücken nicht Zusammenfallendes ist, und ob sie von ihnen unabhängig zu sein vermag? .../...

So wenig ich zu begreifen vermag, wie mein Wille meinen Körper bewegt, ebensowenig kann ich mir erklären, wie meine Sinneseindrücke meine Seele bewegen. Ich kann nicht einmal einen Grund dafür finden, weshalb man das eine dieser Geheimnisse für erklärlicher gehalten hat als das andere. Ich meinerseits muß gestehen, daß mir, ob ich mich nun passiv verhalte oder in Tätigkeit befinde, die Möglichkeit der Verbindung beider Substan- zen durchaus unbegreiflich erscheint. Es ist äußerst befremdend, daß man gerade von dieser Unbegreiflichkeit selbst ausgeht, um die beiden Substanzen zu verschmelzen, als ob Operationen so verschiedenartiger Naturen sich besser an einem, als an zwei Subjekten erklären ließen.
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J. J. Rousseau, Émile oder Ueber die Erziehung [1762]
Band 2, Leipzig [o.J.], S. 134; 143

*) Ernst Cassirer, "Kant und Rousseau"; in: Rousseau, Kant, Goethe, Hamburg 1991 (PhB)