Montag, 14. April 2014

Drei Sekunden und die Dauer des Subjekts.



aus Neue Zürcher Zeitung, 27. 11. 2010

Ein Vortrag des Hirnforschers Ernst Pöppel

Von Uwe Justus Wenzel · Das Hirn darf man sich als einen nervösen Menschen vorstellen. In Abständen von wenigen Sekunden fragt es: «Was gibt’s eigentlich Neues in der Welt?» So – so ungefähr – hat es Ernst Pöppel formuliert. Der an der Ludwig-Maximilians-Universität in München arbeitende Psychologe sprach am vorgestrigen Abend in der vollbesetzten Aula der Zürcher Universität auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung über das Thema «Gehirn und Persönlichkeit». Zahlreiche Untersuchungen, so liess er wissen, haben ergeben: Drei Sekunden dauern mit messbarer Regelmäßigkeit die Szenen der Aufmerksamkeit, die sich auf der Bühne des Bewusstseins abspielen. Drei Sekunden währt mithin die Gegenwart; Drei-Sekunden-Einheiten strukturieren die Welt. Ernst Pöppel findet die drei Sekunden in der Dauer eines Händedrucks ebenso wieder wie in der Zeit, die vergeht, bis zappende Fernsehkonsumenten sich entschieden haben, ob sie bei einem Sender verweilen.


Sogar von der Rhythmik der Poesie, der Länge der Verszeilen, lässt der Neurowissenschafter sich seine These bestätigen. Sie läuft in dieser Version auf die Behauptung hinaus, es gebe «biologische Marker» für ästhetische Werte. Mit heiterer und gar nicht nervöser Selbstironie interpretierte Pöppel seinen Ausgriff in die Welt der Kunst als ein Anzeichen für die «Präpotenz» der Hirnforschung. Zu Beginn hatte er sich von einem grassierenden «Neuro-Pop» distanziert, der auf alle Fragen eine neurowissenschaftliche Antwort zu haben vorgaukelt. Nicht an jeder Stelle der locker ineinander geflochtenen Ausführungen war dann aber deutlich, wie demgegenüber so etwas wie eine Neuro-Klassik aussähe, die einer Phantasie der Allzuständigkeit nicht die Zügel schießen ließe. Mussten wir wirklich erst auf die Hirnforschung warten, um zu wissen, dass es leichter fällt, Fremdsprachen in jungen Jahren zu lernen?

Das eigentliche Vortragsthema, «Gehirn und Persönlichkeit», fand im Anschluss an die «Drei-Sekunden-Bühnen» seine Fortsetzung in der Frage, wie überhaupt eine Kontinuität der Selbstwahrnehmung zustande komme, wenn die Aufmerksamkeitsspannen des Bewusstseins so kurz sind (und wenn zudem der innere Sinn die Zeit nicht als fliessenden Strom wahrnimmt, sondern als ein in Einheiten von dreissig, vierzig Millisekunden «zerhacktes» Pulsieren). Pöppels Antwort: durch «semantische Vernetzung und soziale Synchronisation» – dadurch also, dass Bedeutung und Sprache ins Spiel kommen und andere Menschen.

Das «und» ist Ernst Pöppel wichtig. Er verficht das Prinzip der Komplementarität (das die Leser seines lesenswerten Buches «Der Rahmen» schon kennen): Identität und Dynamik, Rationalität und Gefühl, Autonomie und soziale Einbindung bestimmen das Geschehen. Mit der Komplementarität als Prinzip, das Harmonien aus Gegensätzlichem wirkt, geht dasjenige der Homöostase Hand in Hand: Alle Organismen, vom Einzeller bis zum Menschen, suchen ihr Gleichgewicht und damit sich selbst zu erhalten. Die Homöostase kam freilich nur kurz, am Anfang des anregenden Vortrags, vor (verkörpert von einem projizierten Einzeller). Sie wäre vermutlich auch der Anknüpfungspunkt gewesen, um zu erörtern, inwiefern die Neuropsychologie zu dem Thema der Veranstaltungsreihe etwas beizutragen vermag, in deren Rahmen Ernst Pöppel gesprochen hat: «Strategien in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft».

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Nota.

“Neuropop” ist eine hübsche Wortprägung. Aber ob Neuropotpourri viel besser ist?

…dass der “innere Sinn die Zeit nicht als fließenden Strom wahrnimmt, sondern als ein in Einheiten von dreißig, vierzig Millisekunden «zerhacktes» Pulsieren”: Was soll das denn heißen: der ‘innere Sinn’ “nimmt wahr”? Was ist denn das für eine “Wahr”nehmung, von der keiner was merkt? Merken kommt nicht ohne (wie immer man es definieren mag) Bewusstsein aus. Aber die in dreissig, vierzig Millisekunden pulsieren Hackstückchen kommen doch eben nicht zu Bewusstsein. “Gegeben” ist aber die Zeit, wenn überhaupt, nur dem Bewusstsein. Und im Bewusstsein fließt sie.

Na, und so weiter.

Noch eins sei aber hervorgehoben: “Komplementarität”, “Harmonie” und “Homöostase ” – das ist Neurometaphysik. Nämlich wenn man sie wie wirkende Kräfte vorstellt. Was lässt sich beobachten? Dass in allem Lebenden zwei gegensätzliche Tendenzen vorkommen – eine zum Wachstum ‘aus sich’ oder ‘über sich’ hinaus; und eine andere zur Beharrung im Status quo und zu seiner Wiederherstellung ‘auf erweiterter Skala’. Und wer kann diese ‘Tendenzen’ beobachten? Nur einer, der darauf achtet.


Nota II. 

"...dadurch also, dass Bedeutung und Sprache ins Spiel kommen und andere Menschen", schreibt ujw. Das müsste richtiger heißen: "durch andere Menschen". In Bedeutungen lebt auch das Tier. Aber sie sind in sein Verhaltensrepertoire stammesgeschichtlich eingrägt. Es muss sie sich nicht vorstellen - nicht als solche wahrnehmen. Das muss erst der Mensch, nämlich wenn er sie mitteilen will - andern Menschen.
JE




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