Samstag, 5. April 2014

Der Zweifel des savoyischen Vikars.


Mariano Chelo, Il dubbio

Es war David Hume, der mit seiner Kritik am wissenschaftlichen Gebrauch der Kausalitätsvorstellung den späteren Alleszermalmer Kant "aus seinem dogmatischen Schlummer gerissen" hat, wie jener selbet bekundete. Wer ihm dann aber den Weg aus dem fundamentalen Zweifel gewiesen hat, in den er gestürzt wurde, darüber ist er nicht so explizit. Ernst Cassirer* hat es aufgedeckt, es war J. J. Rousseau, der im philosophische Kernstück seines epochalen Émile, dem "Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars" im IV. Buch das transzendentale Ich erfunden hat, von dem aus Kant die rationalistische Metaphysik und alle sonstige Dogmatik aus den Angeln heben sollte. 

Hier kommt dessen erste Spur:

Allein wer bin ich? Was berechtigt mich dazu, über die Dinge zu urteilen? Und was bestimmt meine Urteile? Beruhen sie lediglich auf den augenblicklichen Eindrücken, die ich empfange, so gebe ich mir mit diesen Forschungen vergebliche Mühe. Sie finden entweder gar nicht statt, oder geschehen von selbst, ohne daß ich erst darauf auszugehen brauche, ihnen ihre Richtung vorzuschreiben. Es ist deshalb nötig, daß ich meine Blicke zuerst auf mich selbst lenke, um das Werkzeug, dessen ich mich bedienen will, kennen zu lernen und mir darüber Gewißheit zu verschaffen, bis zu welchem Punkt ich mich bei seiner Anwendung auf dasselbe werde verlassen können.

Ich bin und besitze Sinne, vermittels welcher ich Eindrücke erhalte. Das ist die erste Wahrheit, gegen die ich mich nicht verschließen kann und der ich notwendigerweise zustimmen muß. Habe ich ein eigenes Gefühl meiner Existenz, oder werde ich mir derselben nur durch meine Sinneswahrnehmungen bewußt? Das ist mein erster Zweifel, dessen Lösung mir für jetzt unmöglich ist. Denn wie kann ich, da ich fortwährend entweder unmittelbar oder durch das Gedächtnis Eindrücke erleide, wohl wissen, ob diese Empfindung meiner selbst etwas mit diesen nämlichen Eindrücken nicht Zusammenfallendes ist, und ob sie von ihnen unabhängig zu sein vermag? .../...

So wenig ich zu begreifen vermag, wie mein Wille meinen Körper bewegt, ebensowenig kann ich mir erklären, wie meine Sinneseindrücke meine Seele bewegen. Ich kann nicht einmal einen Grund dafür finden, weshalb man das eine dieser Geheimnisse für erklärlicher gehalten hat als das andere. Ich meinerseits muß gestehen, daß mir, ob ich mich nun passiv verhalte oder in Tätigkeit befinde, die Möglichkeit der Verbindung beider Substan- zen durchaus unbegreiflich erscheint. Es ist äußerst befremdend, daß man gerade von dieser Unbegreiflichkeit selbst ausgeht, um die beiden Substanzen zu verschmelzen, als ob Operationen so verschiedenartiger Naturen sich besser an einem, als an zwei Subjekten erklären ließen.
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J. J. Rousseau, Émile oder Ueber die Erziehung [1762]
Band 2, Leipzig [o.J.], S. 134; 143

*) Ernst Cassirer, "Kant und Rousseau"; in: Rousseau, Kant, Goethe, Hamburg 1991 (PhB) 


 

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