Milet
aus spektrum.de, 5. Februar 2019
Die Vorsokratiker: Die Schule von Milet
Die Stadt Milet, an der Küste einer griechischen Siedlung der
Landschaft Ionien (Kleinasien) gelegen, gewann im 6. Jhdt. v.Chr. durch
weitreihende Handelsbeziehungen wirtschaftliche Bedeutung. Es
entwickelte sich eine soziale Schicht, für die „so ziemlich alles zur
Annehmlichkeit und höheren Lebensführung vorhanden war“.
Das kulturelle Milieu war geprägt durch orphische oder dionysische
Kulte, Erzählungen Homers und Epen von Hesiod (geb. vor -700); auch
Einflüsse aus Mesopotamien und Ägypten, von Phöniziern und Chaldäern
müssen wohl spürbar gewesen sein. Zeit und Muße brachten aber auch den
Versuch mit sich, „der Unwissenheit zu entgehen, ohne deshalb schon
einen über das Wissen hinausgehenden Nutzen zu erwarten“ (Aristoteles,
nach (Schupp, 2003a, p. 43)). In solch einer Atmosphäre wurde die
Philosophie geboren.
Thales
Thales lebte von ca. -625 bis -547 in dieser Stadt. Dabei war er
zunächst ein Händler und muss somit in der damaligen Welt viel
herumgekommen sein. Er soll insbesondere aus Ägypten geometrische und
astronomische Kenntnisse mitgebracht haben. In seinen späteren Jahren
hat er sich auch in die Politik eingemischt. Von alledem wissen wir aber
nur aus späteren Quellen, deren Glaubwürdigkeit nicht immer gegeben
ist.
Fest steht aber wohl, dass er um 585 v.Chr. gelebt haben muss. Er
hatte nämlich eine Sonnenfinsternis vorausgesagt, die nach modernen
astronomischen Berechnungen gerade im Jahre 585 v.Chr. stattgefunden
hat. Babylonische Astronomen kannten schon die Zyklen, mit denen sich
Sonnen- und Mondverfinsterungen wiederholten. Sonnenverfinsterungen sind
zwar nicht von jedem Ort gleich gut sichtbar; aber man wusste somit,
wann man überhaupt mit einer solchen rechnen durfte. Thales hatte
vermutlich von diesem Wissen profitiert, sei es durch seine früheren
Reisen oder durch aktuellere kulturelle Kontakte. Er war aber auch
selbst jemand, der die Sterne studierte.
Diogenes Laertius wusste, dass
man Thales nachsagte, er habe zwei Schriften über Sonnenwenden und Tag-
und Nachtgleichen geschrieben. Wegen seiner Kenntnisse sei er auch von
späteren Philosophen bewundert worden (Laertius, 2015, p. 13).
Viele von uns können sich sicher daran erinnern, dass sie in der Schule im Mathematikunterricht den Satz von Thales
kennen gelernt haben. Ob Thales diesen Satz selbst entdeckt hat, wissen
wir nicht. Diogenes Laertius schreibt 800 Jahre später nur: „In der
Geometrie ein Schüler der Ägypter, hat er, wie Pamphile berichtet,
zuerst das rechtwinklige Dreieck in den Halbkreis eingetragen.“
(Laertius, 2015, p. 13). Dort wird auch erwähnt, dass Thales in Ägypten
die Höhe der Pyramiden gemessen haben solle, „vermittelst ihres
Schattens, den er genau in dem Zeitpunkt abmaß, wo unser Schatten und
unser Leib die gleiche Länge haben.“ (Laertius, 2015, p. 15). Thales
muss also auf jeden Fall hoch intelligent gewesen sein und er wusste
sein neues Wissen wohl auch eigenständig zu nutzen.
Die Philosophen betrachten Thales von Milet als Ersten ihrer Zunft.
Wie Thales zu solchen Gedanken kam, die man heute philosophische nennt,
wissen wir nicht. Die Vorgänge „Entstehen und Vergehen“ standen in den
mythischen Erzählungen im Vordergrund und auf seinen Reisen wird Thales
nicht nur geometrisches und astronomisches Wissen aufgegriffen, sondern
auch verschiedenste solcher Erzählungen kennen gelernt haben. Da man in
der Natur ständig Veränderungen, auch Entstehen und Vergehen,
beobachtet, mag die Frage auftauchen, ob es „hinter“ all diesem nicht
ein Bleibendes, Ewiges geben müsse. Dieses müsse dann etwas Ursächliches
und „Zugrunde Liegendes“, so etwas wie ein „Urprinzip“ oder ein
„Urstoff“ sein, also etwas, das man auch „das Eine“ nennen könnte.
Über die Vorstellungen, die Thales dazu entwickelt hatte, schrieb Aristoteles später:
„Thales, der erste Vertreter dieser Richtung philosophischer
Untersuchung, bezeichnet als solches Prinzip das Wasser. Auch das Land,
lehrte er deshalb, ruhe auf dem Wasser. Den Anlass zu dieser Ansicht bot
ihm wohl die Beobachtung, dass die Nahrung aller Wesen feucht ist, dass
die Wärme selber daraus entsteht und davon lebt. Woraus aber jegliches
wird, das ist das Prinzip von allem. War dies der eine Anlass zu seiner
Ansicht, so war ein andrer wohl der Umstand, dass die Samen aller Wesen
von feuchter Beschaffenheit sind, das Wasser aber das Prinzip für die
Natur des Feuchten ausmacht.“
Dass Wasser der Urgrund aller Dinge sein sollte, war nicht weit
hergeholt, denn auch die Sumerer und Ägypter sprachen von einem
„Urmeer“, und bei Homer wurde ja die bewohnte Welt vom Okeanos, einem
gewaltigen Strom umflossen, der mitunter auch als Vater der Götter und
als Ursprung der Welt galt.
Bedeutsam ist aber, dass Thales hier und auch sonst so argumentiert:
Wasser verursacht die Feuchte, Nahrungsmittel brauchen Wasser, sonst
vertrocknen sie und werden ungenießbar. Wasser kann Nebel und Wolken
bilden, und daraus entstand im letzten sogar Luft (Wasserdampf) und
Feuer. Verlandungen an der Küste zeigen, wie Land aus dem Wasser
„geboren“ werden kann. Also: Das Eine ist Wasser, alle Dinge kommen aus
diesem und kehren darin zurück.
Anaximander
Mit Thales gelangte eine ganz neue Art des Denkens in die Welt.
Anaximander (ca. -610 bis -546), der auch in Milet lebte und von vielen
als Schüler von Thales angesehen wird, hat diese Art aufgriffen, aber
gleich gezeigt, dass man in dieser auch zu einem anderen Schluss
gelangen kann. Ihm war das Wasser als Urstoff vielleicht zu konkret, und
er konzentrierte sich mehr auf einen besonderen Aspekt: Das Eine,
welches ein Urgrund sein sollte, musste unbegrenzt sein, ein Apeiron
(von gr. ἀπέραντος=aperantos, unbegrenzt, unendlich). Die Griechen
hatten für „unbegrenzt“ und „unendlich“ das gleiche Wort, konnten sich
wohl noch nicht einen gekrümmten Raum vorstellen. Wir kennen ja heute
Räume verschiedenster Dimensionen; ein anschauliches Beispiel für einen
unbegrenzten, aber nicht unendlichen Raum ist die Oberfläche einer
Kugel, ein zweidimensionaler gekrümmter Raum.
Hier kam nun der Begriff „Unendlichkeit“ ins Spiel, ein Begriff, der
in der Folge fast alle Philosophen und Mathematiker beschäftigt hat und
mit dem man erst Ende des 19.Jahrhunderts im Rahmen der Cantorschen
Mengenlehre in formaler Weise konsistent umgehen lernte. Für das Apeiron
sollte nach Anaximander das gelten, was Menschen nicht kennen, noch
sich vorstellen können: „Das Apeiron ist ohne Alter“ und das „Apeiron
ist ohne Tod und Verderben“ (nach (Schupp, 2003a, p. 53)).
Das waren Eigenschaften, die man nur den Göttern zubilligte. Das
„Eine“ wurde damit auf die gleiche Stufe mit den Göttern gestellt. Damit
kam Anaximander der Welt des Mythos verdächtig nahe, die Frage aber,
wie denn das „Eine“ die Vielheit aussondern würde, beantwortete er eher
als “Physiker”. Er sprach von gegensätzlichen Elementarkräften,
trockenem heißen Feuer und feuchtem kalten Dampf, die im Kampf
miteinander liegen konnten.
Auf solche Weise machte er sich eine Vorstellung davon, woraus Sonne,
Mond und Sterne bestehen, und wusste sogar zu erklären, wie es zu
Sonnen- oder Mondfinsternissen kommt. Die Erde befand sich nach ihm im
Mittelpunkt der Kreise, auf denen sich die Himmelskörper bewegten, und
sie stand dabei, in vollkommener Ruhe, im Gleichgewicht in Bezug auf
alle Gestirne. In der Gestalt eines Zylinders war sie einem „steinernen
Säulensegment“ ähnlich. Die Menschen lebten auf der Oberseite des
Zylinders; nach dem Geographen Agathemeros hat Anaximander es sogar
“gewagt, als erster die Karte der bewohnten Welt zu zeichnen“ (Mansfeld
& Primavesi, 2011, pp. 65, Nr.2). Die Abstände der Himmelskörper von
der Erde standen in bestimmten Verhältnissen zu einander. So berichtet
Hyppolyt von Rom im 3. Jhdt., dass bei Anaximander der Kreis des Mondes
und der Sonne das 19- bzw. 27-fache des Durchmessers des Erdzylinders
beträgt (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 75, Nr.20).
Sogar ein Erlahmen des Kampfes zwischen dem Heißen und dem Feuchten
und damit ein Vergehen des „Seienden“ sowie ein neues Entstehen aus dem
Apeiron war vorgesehen. Das Apeiron ist für Anaximander damit also nicht
nur unendlich; es kann auch unendliche viele Welten erzeugen und wieder
vergehen lassen. Man denkt unweigerlich an das Quantenvakuum in der
M-Theorie von Stephen Hawking und an die ständige Entstehung neuer
Universen aus diesem durch Quantenfluktuationen.
Für die Wechselwirkung zwischen den gegensätzlichen Paaren hatte er
eine Antwort, die wieder eher zum Mythos und den Götterhimmel passt:
„Aus welchen Dingen die seienden Dinge ihr Entstehen haben, in diese
findet auch ihr Vergehen statt, wie es sein muss, denn sie leisten
einander Recht und Strafe für das Unrecht, gemäß der zeitlichen
Ordnung“ (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 71,Nr.15).
Das ganze Bild enthält schon erstaunlich viele moderne Aspekte wie
die Beschreibung der räumlichen Verhältnisse in quantitativer Form und
den Begriff der Unendlichkeit.
Anaximenes
Bei Anaximenes (ca. -586 bis -527) ist nun der Urstoff wieder etwas,
das man aus dem Alltag kennt und mit dem man umgehen kann: die Luft.
Statt eines Abstraktums ist es nun wieder etwas Konkretes. Von dem
Doxographen Aёtios aus dem 1. Jhdt. erfahren wir: „Anaximenes setzte als
Prinzip der seienden Dinge die Luft an, denn aus dieser entstehe alles
und in diese löse sich alles wieder auf. Wie unsere Seele, die Luft ist,
uns durch ihre Kraft zusammenhält, so umfasst auch den ganzen Kosmos
Atem und Luft“. (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 87,Nr.3).
Vermutlich nahm Anaximenes als Urstoff deshalb die Luft an, weil er
an der Luft gegensätzliche Eigenschaften beobachtete; sie konnte warm
oder kalt sein, verdichtet oder verdünnt. Aus der Beobachtung eines
Hauches glaubte er eine Beziehung zwischen diesen Gegensatzpaaren
folgern zu können: “Denn der Atem wird, wenn er von den Lippen
zusammengedrückt und verfestigt wird, kalt, während er bei geöffnetem
Mund entweicht, durch Verdünnung warm wird.“ (Mansfeld & Primavesi,
2011, pp. 89, Nr.5).
Er sah also in der Verdichtung bzw. Verdünnung das Grundprinzip für
den Unterschied der Dinge: Wolken bestehen aus schwach verdichteter
Luft, Regen aus stärker verdichteter und Eis wie Erde aus noch stärker
verdichteter Luft. Das sich Verfestigende der Materie hat allgemein
seinen Ursprung in der kalten, das Dünne und Lockere in der warmen Luft.
Wind war bewegte Luft. Der Urstoff war nun etwas, was auch die Vielheit
hervorbringen konnte. Er hatte also eine Idee, wie aus dem Einen das
Viele werden kann. Die Luft war ein Urstoff, der als Lebenshauch alle
Lebewesen in die Einheit aller Dinge aufnahm.
Hier finden wir also die Verbindung von Hauch und Leben, ein Gedanke,
dem man immer wieder in der Geistesgeschichte begegnet – so z.B. auch
in der Vorstellung des Christentums, dass der Heilige Geist durch
Hauchung aus dem Vater und Sohn hervorgegangen ist (siehe Wikipedia:
Hauchung).
In dieser frühsten Schule der Vorsokratiker, der ionischen Schule
bzw. der Schule von Milet, steht also der Begriff des „Seins“ bzw. des
„Einen“ als ein Urstoff oder ein Urprinzip im Fokus. In späteren Schulen
wird auch das „Seiende“ stärker in den Blick geraten und die Frage
danach, welche Möglichkeiten der Erkenntnis wir über das Sein wie das
Seiende haben können.
Paradigmenwechsel
Mit der ionischen Schule schuf man also ein Weltbild, das sich aus
Beobachtungen der Natur herleitete und nicht auf Geschichten über
Eingriffen aus einer „Übernatur“. Das war ein großer Schritt für die
Menschheit. Aber es war nur ein erster Schritt in eine damals ganz neue
Richtung. Eindeutige Antworten gab es dabei natürlich nicht. Die Gründe
für solche Aussagen wie „Alles ist Wasser“ oder „Alles ist Luft“ waren
nur mehr oder weniger plausibel, zwingend auf keinen Fall.
Später sollte
Empedokles (-490 bis -430) noch behaupten, dass „Alles ist Feuer“ gilt.
Allgemein sprach man von den vier Grundelementen Wasser, Luft, Erde und
Feuer.
Es sollte mehr als 2.000 Jahre dauern, bis ein zweiter Schritt in der
Naturforschung getan wurde, aus der dann das folgte, was wir heute die
moderne Physik nennen. Dazu musste zwei neue Gedanken auftauchen:
Erstens: Man versuche nicht gleich, die Welt als Ganzes zu verstehen,
sondern man „fange es im Kleinen an“, also bei einem einfachen und
höchst übersichtlichen Phänomen.
Zweitens: Man versuche, das Phänomen nicht nur qualitativ zu
verstehen, sondern auch quantitativ, so dass eine möglichst exakte
Überprüfung der Begründung möglich wird. Dazu braucht es eine genügend
entwickelte Mathematik.
Galileo Galilei war es, dem im frühen 17. Jahrhundert diese Gedanken
kamen, und dem voll bewusst gewesen war, dass er mit einer Demonstration
der Fruchtbarkeit solcher Gedanken eine „neue Wissenschaft“ begründet
hat. Wenn man den Begriff „Paradigmenwechsel“ liebt, der von Thomas
Kuhn (Kuhn, 1973) so unnötig strapaziert worden ist, dann kann man
sagen, dass Galilei einen Paradigmenwechsel bewirkt hat. Es wäre der
zweite – nach dem ersten Paradigmenwechsel durch Thales und die ionische
Schule. Vielleicht erleben wir heute mit dem datengetriebenen
Maschinellem Lernen in der künstlichen Intelligenz einen dritten
Paradigmenwechsel.
Ich werde in späteren Blogbeiträgen auf all dies zurückkommen.
Zunächst müssen wir den Weg verfolgen, auf dem alle Voraussetzungen für
diesen zweiten und vielleicht dritten Paradigmenwechsel geschaffen
worden sind. Dazu gehört insbesondere eine Mathematik, in der man das
quantitative und wahrheitsbewahrende Begründen lernt. Pythagoras (ca.
-570 bis nach -510) steht am Anfang einer solchen Mathematik. In den
nächsten beiden Blogbeiträgen müssen wir uns mit ihm und seinen Schülern
befassen.
Literaturverzeichnis
Kuhn, T., 1973. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main: suhrkamp .
Laertius, D., 2015. Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Hamburg: Felix Meiner.
Mansfeld, J. & Primavesi, O., 2011. Die Vorsokratiker. Stuttgart: Philipp Reclam jun..
Schupp, F., 2003a. Geschichte der Philosophie im Überblick – Bd.1 Antike. Hamburg: Felix Meiner.
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