Samstag, 9. Februar 2019

Griechische Philosophie für Naturwissenschaftler, II.

Milet
aus spektrum.de, 5. Februar 2019

Die Vorsokratiker: Die Schule von Milet

Die Stadt Milet, an der Küste einer griechischen Siedlung der Landschaft Ionien (Kleinasien) gelegen, gewann im 6. Jhdt. v.Chr. durch weitreihende Handelsbeziehungen wirtschaftliche Bedeutung. Es entwickelte sich eine soziale Schicht, für die „so ziemlich alles zur Annehmlichkeit und höheren Lebensführung vorhanden war“.

Das kulturelle Milieu war geprägt durch orphische oder dionysische Kulte, Erzählungen Homers und Epen von Hesiod (geb. vor -700); auch Einflüsse aus Mesopotamien und Ägypten, von Phöniziern und Chaldäern müssen wohl spürbar gewesen sein. Zeit und Muße brachten aber auch den Versuch mit sich, „der Unwissenheit zu entgehen, ohne deshalb schon einen über das Wissen hinausgehenden Nutzen zu erwarten“ (Aristoteles, nach (Schupp, 2003a, p. 43)). In solch einer Atmosphäre wurde die Philosophie geboren.

Thales

Thales lebte von ca. -625 bis -547 in dieser Stadt. Dabei war er zunächst ein Händler und muss somit in der damaligen Welt viel herumgekommen sein. Er soll insbesondere aus Ägypten geometrische und astronomische Kenntnisse mitgebracht haben. In seinen späteren Jahren hat er sich auch in die Politik eingemischt. Von alledem wissen wir aber nur aus späteren Quellen, deren Glaubwürdigkeit nicht immer gegeben ist.

Fest steht aber wohl, dass er um 585 v.Chr. gelebt haben muss. Er hatte nämlich eine Sonnenfinsternis vorausgesagt, die nach modernen astronomischen Berechnungen gerade im Jahre 585 v.Chr. stattgefunden hat. Babylonische Astronomen kannten schon die Zyklen, mit denen sich Sonnen- und Mondverfinsterungen wiederholten. Sonnenverfinsterungen sind zwar nicht von jedem Ort gleich gut sichtbar; aber man wusste somit, wann man überhaupt mit einer solchen rechnen durfte. Thales hatte vermutlich von diesem Wissen profitiert, sei es durch seine früheren Reisen oder durch aktuellere kulturelle Kontakte. Er war aber auch selbst jemand, der die Sterne studierte. 

Diogenes Laertius wusste, dass man Thales nachsagte, er habe zwei Schriften über Sonnenwenden und Tag- und Nachtgleichen geschrieben. Wegen seiner Kenntnisse sei er auch von späteren Philosophen bewundert worden (Laertius, 2015, p. 13).


Viele von uns können sich sicher daran erinnern, dass sie in der Schule im Mathematikunterricht den Satz von Thales kennen gelernt haben. Ob Thales diesen Satz selbst entdeckt hat, wissen wir nicht. Diogenes Laertius schreibt 800 Jahre später nur: „In der Geometrie ein Schüler der Ägypter, hat er, wie Pamphile berichtet, zuerst das rechtwinklige Dreieck in den Halbkreis eingetragen.“ (Laertius, 2015, p. 13). Dort wird auch erwähnt, dass Thales in Ägypten die Höhe der Pyramiden gemessen haben solle, „vermittelst ihres Schattens, den er genau in dem Zeitpunkt abmaß, wo unser Schatten und unser Leib die gleiche Länge haben.“ (Laertius, 2015, p. 15). Thales muss also auf jeden Fall hoch intelligent gewesen sein und er wusste sein neues Wissen wohl auch eigenständig zu nutzen.

Die Philosophen betrachten Thales von Milet als Ersten ihrer Zunft. Wie Thales zu solchen Gedanken kam, die man heute philosophische nennt, wissen wir nicht. Die Vorgänge „Entstehen und Vergehen“ standen in den mythischen Erzählungen im Vordergrund und auf seinen Reisen wird Thales nicht nur geometrisches und astronomisches Wissen aufgegriffen, sondern auch verschiedenste solcher Erzählungen kennen gelernt haben. Da man in der Natur ständig Veränderungen, auch Entstehen und Vergehen, beobachtet, mag die Frage auftauchen, ob es „hinter“ all diesem nicht ein Bleibendes, Ewiges geben müsse. Dieses müsse dann etwas Ursächliches und „Zugrunde Liegendes“, so etwas wie ein „Urprinzip“ oder ein „Urstoff“ sein, also etwas, das man auch „das Eine“ nennen könnte.

Über die Vorstellungen, die Thales dazu entwickelt hatte, schrieb Aristoteles später:

„Thales, der erste Vertreter dieser Richtung philosophischer Untersuchung, bezeichnet als solches Prinzip das Wasser. Auch das Land, lehrte er deshalb, ruhe auf dem Wasser. Den Anlass zu dieser Ansicht bot ihm wohl die Beobachtung, dass die Nahrung aller Wesen feucht ist, dass die Wärme selber daraus entsteht und davon lebt. Woraus aber jegliches wird, das ist das Prinzip von allem. War dies der eine Anlass zu seiner Ansicht, so war ein andrer wohl der Umstand, dass die Samen aller Wesen von feuchter Beschaffenheit sind, das Wasser aber das Prinzip für die Natur des Feuchten ausmacht.“

Dass  Wasser der Urgrund aller Dinge sein sollte, war nicht weit hergeholt, denn auch die Sumerer und Ägypter sprachen von einem „Urmeer“, und bei Homer wurde ja die bewohnte Welt vom Okeanos, einem gewaltigen Strom umflossen, der mitunter auch als Vater der Götter und als Ursprung der Welt galt.

Bedeutsam ist aber, dass Thales hier und auch sonst so argumentiert: Wasser verursacht die Feuchte, Nahrungsmittel brauchen Wasser, sonst vertrocknen sie und werden ungenießbar. Wasser kann Nebel und Wolken bilden, und daraus entstand im letzten sogar Luft (Wasserdampf) und Feuer. Verlandungen an der Küste zeigen, wie Land aus dem Wasser „geboren“ werden kann. Also: Das Eine ist Wasser, alle Dinge kommen aus diesem und kehren darin zurück.

Anaximander

Mit Thales gelangte eine ganz neue Art des Denkens in die Welt. Anaximander (ca. -610 bis -546), der auch in Milet lebte und von vielen als Schüler von Thales angesehen wird, hat diese Art aufgriffen, aber gleich gezeigt, dass man in dieser auch zu einem anderen Schluss gelangen kann. Ihm war das Wasser als Urstoff vielleicht zu konkret, und er konzentrierte sich mehr auf einen besonderen Aspekt: Das Eine, welches ein Urgrund sein sollte, musste unbegrenzt sein, ein Apeiron (von gr. ἀπέραντος=aperantos, unbegrenzt, unendlich). Die Griechen hatten für „unbegrenzt“ und „unendlich“ das gleiche Wort, konnten sich wohl noch nicht einen gekrümmten Raum vorstellen. Wir kennen ja heute Räume verschiedenster Dimensionen; ein anschauliches Beispiel für einen unbegrenzten, aber nicht unendlichen Raum ist die Oberfläche einer Kugel, ein zweidimensionaler gekrümmter Raum.
 
Hier kam nun der Begriff „Unendlichkeit“ ins Spiel, ein Begriff, der in der Folge fast alle Philosophen und Mathematiker beschäftigt hat und mit dem man erst Ende des 19.Jahrhunderts im Rahmen der Cantorschen Mengenlehre in formaler Weise konsistent umgehen lernte. Für das Apeiron sollte nach Anaximander das gelten, was Menschen nicht kennen, noch sich vorstellen können: „Das Apeiron ist ohne Alter“ und das „Apeiron ist ohne Tod und Verderben“ (nach (Schupp, 2003a, p. 53)).

Das waren Eigenschaften, die man nur den Göttern zubilligte. Das „Eine“ wurde damit auf die gleiche Stufe mit den Göttern gestellt. Damit kam Anaximander der Welt des Mythos verdächtig nahe, die Frage aber, wie denn das „Eine“ die Vielheit aussondern würde, beantwortete er eher als “Physiker”. Er sprach von gegensätzlichen Elementarkräften, trockenem heißen Feuer und feuchtem kalten Dampf, die im Kampf miteinander liegen konnten.

Auf solche Weise machte er sich eine Vorstellung davon, woraus Sonne, Mond und Sterne bestehen, und wusste sogar zu erklären, wie es zu Sonnen- oder Mondfinsternissen kommt. Die Erde befand sich nach ihm im Mittelpunkt der Kreise, auf denen sich die Himmelskörper bewegten, und sie stand dabei, in vollkommener Ruhe, im Gleichgewicht in Bezug auf alle Gestirne.  In der Gestalt eines Zylinders war sie einem „steinernen Säulensegment“ ähnlich. Die Menschen lebten auf der Oberseite des Zylinders; nach dem Geographen Agathemeros hat Anaximander es sogar “gewagt, als erster die Karte der bewohnten Welt zu zeichnen“ (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 65, Nr.2). Die Abstände der Himmelskörper von der Erde standen in bestimmten Verhältnissen zu einander. So berichtet Hyppolyt von Rom im 3. Jhdt., dass bei Anaximander der Kreis des Mondes und der Sonne das 19- bzw. 27-fache des Durchmessers des Erdzylinders beträgt (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 75, Nr.20).

Sogar ein Erlahmen des Kampfes zwischen dem Heißen und dem Feuchten und damit ein Vergehen des „Seienden“ sowie ein neues Entstehen aus dem Apeiron war vorgesehen. Das Apeiron ist für Anaximander damit also nicht nur unendlich; es kann auch unendliche viele Welten erzeugen und wieder vergehen lassen. Man denkt unweigerlich an das Quantenvakuum in der M-Theorie von Stephen Hawking und an die ständige Entstehung neuer Universen aus diesem durch Quantenfluktuationen.

Für die Wechselwirkung zwischen den gegensätzlichen Paaren hatte er eine Antwort, die wieder eher zum Mythos und den Götterhimmel passt: „Aus welchen Dingen die seienden Dinge ihr Entstehen haben, in diese findet auch ihr Vergehen statt, wie es sein muss, denn sie leisten einander Recht und Strafe für das Unrecht, gemäß der zeitlichen Ordnung“ (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 71,Nr.15).
Das ganze Bild enthält schon erstaunlich viele moderne Aspekte wie die Beschreibung der räumlichen Verhältnisse in quantitativer Form und den Begriff der Unendlichkeit.

Anaximenes

Bei Anaximenes (ca. -586 bis -527) ist nun der Urstoff wieder etwas, das man aus dem Alltag kennt und mit dem man umgehen kann: die Luft. Statt eines Abstraktums ist es nun wieder etwas Konkretes. Von dem Doxographen Aёtios aus dem 1. Jhdt. erfahren wir: „Anaximenes setzte als Prinzip der seienden Dinge die Luft an, denn aus dieser entstehe alles und in diese löse sich alles wieder auf. Wie unsere Seele, die Luft ist, uns durch ihre Kraft zusammenhält, so umfasst auch den ganzen Kosmos Atem und Luft“. (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 87,Nr.3).

Vermutlich nahm Anaximenes als Urstoff deshalb die Luft an, weil er an der Luft gegensätzliche Eigenschaften beobachtete; sie konnte warm oder kalt sein, verdichtet oder verdünnt. Aus der Beobachtung eines Hauches glaubte er eine Beziehung zwischen diesen Gegensatzpaaren folgern zu können: “Denn der Atem wird, wenn er von den Lippen zusammengedrückt und verfestigt wird, kalt, während er bei geöffnetem Mund entweicht, durch Verdünnung warm wird.“ (Mansfeld & Primavesi, 2011, pp. 89, Nr.5).

Er sah also in der Verdichtung bzw. Verdünnung das Grundprinzip für den Unterschied der Dinge: Wolken bestehen aus schwach verdichteter Luft, Regen aus stärker verdichteter und Eis wie Erde aus noch stärker verdichteter Luft. Das sich Verfestigende der Materie hat allgemein seinen Ursprung in der kalten, das Dünne und Lockere in der warmen Luft. Wind war bewegte Luft. Der Urstoff war nun etwas, was auch die Vielheit hervorbringen konnte. Er hatte also eine Idee, wie aus dem Einen das Viele werden kann. Die Luft war ein Urstoff, der als Lebenshauch alle Lebewesen in die Einheit aller Dinge aufnahm.

Hier finden wir also die Verbindung von Hauch und Leben, ein Gedanke, dem man immer wieder in der Geistesgeschichte begegnet – so z.B. auch in der Vorstellung des Christentums, dass der Heilige Geist durch Hauchung aus dem Vater und Sohn hervorgegangen ist (siehe Wikipedia: Hauchung). 

In dieser frühsten Schule der Vorsokratiker, der ionischen Schule bzw. der Schule von Milet, steht also der Begriff des „Seins“ bzw. des „Einen“ als ein Urstoff oder ein Urprinzip im Fokus. In späteren Schulen wird auch das „Seiende“ stärker in den Blick geraten und die Frage danach, welche Möglichkeiten der Erkenntnis wir über das Sein wie das Seiende haben können.

Paradigmenwechsel

Mit der ionischen Schule schuf man also ein Weltbild, das sich aus Beobachtungen der Natur herleitete und nicht auf Geschichten über Eingriffen aus einer „Übernatur“. Das war ein großer Schritt für die Menschheit. Aber es war nur ein erster Schritt in eine damals ganz neue Richtung. Eindeutige Antworten gab es dabei natürlich nicht. Die Gründe für solche Aussagen wie „Alles ist Wasser“ oder „Alles ist Luft“ waren nur mehr oder weniger plausibel, zwingend auf keinen Fall.

Später sollte Empedokles (-490 bis -430) noch behaupten, dass „Alles ist Feuer“ gilt. Allgemein sprach man von den vier Grundelementen Wasser, Luft, Erde und Feuer.

Es sollte mehr als 2.000 Jahre dauern, bis ein zweiter Schritt in der Naturforschung getan wurde, aus der dann das folgte, was wir heute die moderne Physik nennen. Dazu musste zwei neue Gedanken auftauchen:

Erstens: Man versuche nicht gleich, die Welt als Ganzes zu verstehen, sondern man „fange es im Kleinen an“, also bei einem einfachen und höchst übersichtlichen Phänomen.

Zweitens: Man versuche, das Phänomen nicht nur qualitativ zu verstehen, sondern auch quantitativ, so dass eine möglichst exakte Überprüfung der Begründung möglich wird. Dazu braucht es eine genügend entwickelte Mathematik.

Galileo Galilei war es, dem im frühen 17. Jahrhundert diese Gedanken kamen, und dem voll bewusst gewesen war, dass er mit einer Demonstration der Fruchtbarkeit solcher Gedanken eine „neue Wissenschaft“ begründet hat. Wenn man den Begriff „Paradigmenwechsel“ liebt, der von Thomas Kuhn (Kuhn, 1973) so unnötig strapaziert worden ist, dann kann man sagen, dass Galilei einen Paradigmenwechsel bewirkt hat. Es wäre der zweite – nach dem ersten Paradigmenwechsel durch Thales und die ionische Schule. Vielleicht erleben wir heute mit dem datengetriebenen Maschinellem Lernen in der künstlichen Intelligenz einen dritten Paradigmenwechsel.

Ich werde in späteren Blogbeiträgen auf all dies zurückkommen. Zunächst müssen wir den Weg verfolgen, auf dem alle Voraussetzungen für diesen zweiten und vielleicht dritten Paradigmenwechsel geschaffen worden sind. Dazu gehört insbesondere eine Mathematik, in der man das quantitative und wahrheitsbewahrende Begründen lernt. Pythagoras (ca. -570 bis nach -510) steht am Anfang einer solchen Mathematik. In den nächsten beiden Blogbeiträgen müssen wir uns mit ihm und seinen Schülern befassen.

Literaturverzeichnis

Kuhn, T., 1973. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main: suhrkamp .
Laertius, D., 2015. Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Hamburg: Felix Meiner.
Mansfeld, J. & Primavesi, O., 2011. Die Vorsokratiker. Stuttgart: Philipp Reclam jun..
Schupp, F., 2003a. Geschichte der Philosophie im Überblick – Bd.1 Antike. Hamburg: Felix Meiner.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen