Donnerstag, 23. Juni 2016

Wozu braucht man Philosophie?

Alexander Zick

Die Philosophie ist keine Wissenschaft, die unsere Erkenntnis um ein Großes bereichert. Sie tut fast weiter nichts, als dass sie unsere Erkentnis verdeutlichet und berichtiget. Man hat freilich von der Philosophie viele Aufschlüsse gefordert und erwartet über Dinge, die jenseits des Gebiets der Erfahrung in einer Welt liegen sollen, die nur dem Verstande und mich den Sinnen zugänglich sei; aber die Philosophie hat bisher wenigstens diese Erwartungen niemals erfüllt und wird sie auch - wie wir uns in der Folge überzeugen werden - niemals erfüllen.

Wer daher wissen will, wie es um seine philosophische Erkenntnis stehe, der darf sich nicht fragen: wie viel weiß ich mehr als andere, die keine Philosophen sind? (Auf diese Frage würde die Antwort, wenn er aufrichtig sein will, keine andere sein können als die: ich weiß eigentlich nichts mehr, als jeder bloß durch seine gesunde Vernunft ohne Wissenschaft wissen kann): sondern er muss sich fragen: wie viel weiß ich besser als andere, die keine Philosophen sind?
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Friedrich Carl Forberg, Fragmente aus meinen Papieren, Jena 1796, S. 93f.






Von wie viel Dingen habe ich jetzt eine bestimmte und deutliche Erkenntnis statt der ungewissen und verwor- renen, die der große Haufe davon hat? ist in der Masse meines Wissens Licht und Ordnung? hat jedes darin seine rechte Stelle? greifen meine Erkenntnisse in einander ein? ist die eine die Stütze von den andern, während sie selbst von einer dritten gestützt wird? würde, wenn eine ausfiele, sogleich das System der übrigen in Verwirrung geraten, oder würde alles bleiben, wie es ist, ohne dass man etwas vermisste? 

Bin ich bloß der Besitzer meines Erkenntnisse, oder bin ich Herr darüber? kann ich mit meinen Begriffen machen, was ich will? oder muss ich es mir zuweilen gefallen lassen, dass sie mit mir machen, was ich nicht will? - Beherrsche ich mein System und bin ich fähig, es aufzugeben, so bald ich ein besseres finde? oder beherrscht vielmehr mein System mich und hat es sich mir unentbehrlich gemacht? Kann ich den Gedanken ertragen, alle meine Meinungen fahren zu lassen und andere anzunehmen, die bisher nicht die meinigen waren? ... 

Kann ich mir von allem, was ich denke und annehme und behaupte und meine und weiß, Rechenschaft geben, warum ich das alles tue? oder finde ich vielmehr eine ganze Menge von Meinungen in mir, von denen ich durchaus nicht anzugeben weiß, wie ich zu ihnen gekommen bin, und die sich bei all dem sehr unentbehrlich, mitunter auch sehr unnütz gemacht haben?
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Friedrich Carl Forberg, Fragmente aus meinen Papieren, Jena 1796, S. 94f.





Città del Sole

Kann ich alle diese Fragen zu meinem Vorteil beantworten, so hat meine Erkenntnis den Rang einer philosophischen Erkenntnis, und ich selbst kann mich, wenn ich will, als Mitglied des Ordens der Philosophen betrachten, d. h. ich kann mich zu der Klasse der denkenden Menschen rechnen, die von Natur dazu bestimmt sind, die Vormünder der übrigen zu sein, das Geschäft des Denkens für sie zu übernehmen, für ihre Kultivierung, ihre Zivilisierung und ihre Moralisierung Sorge zu tragen, und wo nicht ihre Hände und Füße, doch ganz unfehlbar ihre Geister zu beherrschen.
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Friedrich Carl Forberg, Fragmente aus meinen Papieren, Jena 1796, S. 95f. 


Nota. - Das kommt etwas überraschend. Man hätte erwartet, er sagt uns, welche Vorteile es für seine eigene Lebensführung bringt, alles so viel genauer und so viel sicherer zu wissen als der große Haufe; oder welche Vorteile es für die andern Wissenschaften und das Wohl der Gemeinschaft überhaupt hat, wenn die Philosophie den Platz, der ihr öffentlich eingeräumt wird, in dem von ihm beschriebenen Sinn ausfüllt. 

Lebensweisheit hier, Wissenschaftstheorie und -politik da - das war noch nicht zur Bestimmung der Philosophie geworden, schon gar nicht zur ausschließlichen. In einer noch ständisch geprägten Gesellschaft ist die Gelehrsamkeit der einzige Weg, auf dem man weiter nach oben kommen kann - Kant und Fichte waren durchaus repräsentativ in diesem Sinn. Bei Plato war die Idee einer von den Weisen regierten Polis vom Heimweh nach der vormaligen Adelsherrschaft geprägt. Bei Forberg umgekehrt gegen einen Adel gerichtet, dessen Herrschaft weder durch Erkenntnis noch Tugend, sondern lediglich durchs ererbte Privileg begründet war. 

Doch während Fichtes platonisierende Träume von einer "Republik der Deutschen" ausdrücklich für den Übergang gedacht waren, für eine Epoche, in der auch "die Übrigen" zu Freiheit und Selbstbestimmung gelangen sollen, ist für Forberg die Klassenherrschaft der Gelehrten "von der Natur" vorherbestimmt; und wenn nicht anstelle des Adels, dann notfalls in seinem Dienst. Er hat denn auch den größeren Teil seines Lebens als Bibliothekar an einem Adelshof verbracht.
JE





Weichensteller 











Eigentliche Philosopheme einer Transzendentalphilosophie sind an sich tot und haben gar keinen Einfluß in das Leben, weder guten noch bösen; ebenso wenig als ein Gemälde gehen kann. Auch ist es ganz gegen den Zweck dieser Philosophie, sich den Menschen als Menschen mitzuteilen. Der Gelehrte als Erzieher und Führer des Volks, besonders der Volkslehrer, soll sie allerdings besitzen, als Regulativ, als pädagogische Regel, und nur in ihm werden sie insofern praktisch; nicht aber sie ihnen selbst mitteilen, welche sie gar nicht verstehen noch beurteilen können. (Man sehe meine Sittenlehre.) 

Aber daß er sie treu und mit Eifer anwende, wird dieser gute Wille schon vorausgesetzt, aber nicht etwa durch sie hervorgebracht: ebenso wie bei dem Philosophen von Profession Unparteilichkeit, Wahrheitsliebe [und] Fleiß schon vorausgesetzt, nicht aber durch sein Philosophieren erst erzeugt wird.
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Johann Gottlieb Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen in: Gesamtausgabe Bd. II/5, S. 134




weg    aus Die Wendeltreppe, oder Philosophische Propädeutik.

Und das war alles – dass das Wahre ein Problem ist? Das wussten wir vorher. Mehr hat die Philosophie nicht zu bieten? Keine Lösung?

Na ja – jetzt wissen wir es mit Gewissheit. Das ist ja auch schon was: Das Wahre ist kein Problem, das wir noch lösen werden, sondern eins, das bleibt. Nein, positiv ist die Philosophie nicht. Sie kommt zu keinen Ergebnissen, an die man sich halten kann – und nur 'auf die Praxis anwenden' muss. Sie ist keine Lehre, und darum kann man sie nicht lernen. Philosophieren kann man lernen; wenn man will.

Muss man wollen?

Man kann nicht philosophieren, ohne zu leben, aber man kann leben, ohne zu philosophieren, und womöglich bequemer. Allerdings ist das Zusammenleben der Menschen darauf angewiesen, dass nicht stets alle das Bequemere wählen. Ein paar Leute, die philosophieren, werden immer gebraucht, und so trifft es sich günstig, dass es immer ein paar Leute gibt, die das Philosophieren brauchen.

Der Nutzen "ist negativ und kritisch", sagt mein Gewährsmann. Wenn der Mensch etwas braucht, woran er sich halten kann, muss er bei sich selber suchen. Sie ist "kritisch und pädagogisch", denn sie lehrt ihn – das doch! -, dass er es dort auch suchen soll. "Ihr Einfluss auf die Gesinnung des Menschengeschlechts überhaupt ist, dass sie ihnen Kraft, Mut und Selbstvertrauen beibringt, indem sie zeigt, dass sie und ihr ganzes Schicksal lediglich von sich selbst abhängen; indem sie den Menschen auf seine eignen Füße stellt." 

Welch tiefere Lebensweisheit es sonst noch geben soll, kann ich mir nicht vorstellen. Und welch gründlichere Pädagogik auch nicht.

JE



J.-Fr. Millet                                                                                                                                 Vorbemerkung zu Abstieg; II. Teil meiner Wendeltreppe

Mit meiner Wendeltreppe wollte ich darstellen, wie das praktische Interesse der Menschen an einem "rechten Leben" der Urheber für die theoretischen Betrachtungen über den Sinn und die Beschaffenheit ihrer Welt wurde – und wie die daraus hervorgegangene Philosophie ihrerseits den Grund für die positiven Wissenschaften der Neuzeit gelegt hat.

Dabei war die Philosophie 
lange von ihrem Weg abgekommen. Wenn der Mensch als Teil eines sinnvoll geordneten Kosmos angesehen wird, dann wird wohl der Sinn jener Ordnung des Ganzen auch dessen Teile durchdringen, so musste es scheinen. Die umfassende Einsicht in die Gesetze der Natur würde mir die Stelle anweisen, wo ich hin gehöre; und wer und was ich bin, würde darüber bestimmen, was ich in der Welt soll. Meine Freiheit beschränkte sich dann auf meine Einsicht in die Notwendigkeiten. 

Das kann dem Menschen nicht genügen, und darum fand er auch bald den Fehler darin: Er ist nicht nur Objekt der Naturgesetze, sondern auch Subjekt seines Wollens. Seine Freiheit in einer objektiven Welt von Zufällen und Notwendigkeiten mag nur eine ganz kleine sein; aber sie ist es, worauf es ihm ankommt. Die Kritische oder Transzendentalphilosophie hat dem wissenschaftlichen Denken gezeigt, bis wo es reicht. Was wahr ist, kann sie nur kritisch prüfen. Positiv herleiten kann sie es nicht. Dass 'es Wahrheit gibt', ist zwar seine unverzichtbare Prämisse, aber es muss vorausgesetzt werden und lässt sich nicht nachweisen. So weit sie selber Wissenschaft ist, kann die Philosophie auf die Frage nach dem rechten Leben, die sie doch hervor-gerufen hatte, gerade nicht antworten. 



Allerdings kann sie, gerade weil sie Wissenschaft ist, zeigen, was unter den zahllosen Sinn-Angeboten, die schon immer auf den Märkten gewimmelt haben, der Kritik nicht standhält und als Scharlatanerie und Bauernfängerei zum Tempel hinaus gepeitscht gehört.

Insofern hat die wissenschaftliche Philosophie ihr Geschäft noch lange nicht erledigt. Je mehr Weisheitschulen auf dem öffentlichen Platz sich tummeln und um die Gunst des Publikums buhlen, um so mehr bekommt sie zu tun. Ihr "praktischer" Teil geht überhaupt erst richtig los!


JE


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