aus Wilhelm von Ockham, Summa Logicae I, 12
(1) Da [im vorangehenden Kapitel] gesagt worden ist, gewisse Namen seien Namen erster und andere Namen zweiter Intention, und da für viele die Unkenntnis der Wortbedeutung eine Gelegenheit zum Irren bietet, ist nun beiläufig zu sehen, was eine erste Intention sei und was eine zweite, und wie sie unterschieden werden.
(2) Man muß zuerst wissen, daß ein Etwas in der Seele, das fähig ist, etwas anderes zu bedeuten, eine Intention der Seele genannt wird. Wie früher gesagt worden ist, sind die Laute auf dieselbe Weise, wie die Schrift zweitrangiges Zeichen im Verhältnis zu den Lauten ist - denn unter den konventionell eingesetzten Zeichen kommt den Lauten der Vorrang zu -, zweitrangige Zeichen dafür, wofür die Intentionen der Seele erstrangige Zeichen sind. In diesem Sinne sagt Aristoteles, die Laute seien Zeichen der Eindrücke in der Seele. Dieses in der Seele Existierende, welches ein Zeichen des Dinges ist und woraus ein mentaler Satz zusammengesetzt wird, nennt man manchmal Intention der Seele, manchmal Begriff der Seele, manchmal Eindruck der Seele, manchmal Ähnlichkeit des Dinges, und Boethius in seinem Kommentar zur Lehre vom Satz nennt es Erkanntes. ... Wann immer jemand eine gesprochene Aussage ausspricht, hat er vorher in seinem Inneren eine mentale Aussage gebildet, die zu keinem Idiom gehört; das ist so sehr wahr, daß viele oft in ihrem Innern Aussagen bilden, die sie wegen der Mangelhaftigkeit des Idioms nicht ausdrücken können. Die Bestandteile solcher mentalen Aussagen werden Begriffe, Intentionen, Ähnlichkeiten oder Erkannte genannt.
(3) Aber was ist dieses Etwas in der Seele, welches ein derartiges Zeichen ist?
(4) Es ist zu sagen, daß es diesbezüglich verschiedene Meinungen gibt: Einige sagen, es sei nichts anderes als etwas von der Seele Eingebildetes; andere behaupten, es sei eine gewisse vom Erkenntnisakt verschiedene Qualität, welche subjektiv in der Seele existiere; andere sagen, es sei der Erkenntnisakt selbst.
(5) Zugunsten der letzten Ansicht spricht folgender Grund: überflüssigerweise wird etwas durch mehrere gemacht, was durch wenigere gemacht werden kann. Alles, was man erklären kann, wenn man etwas vom Erkenntnisakt Verschiedenes annimmt, kann man ebenso gut auch ohne dieses Verschiedene erklären, denn für ein anderes stehen und etwas bedeuten kann dem Erkenntnisakt ebenso zukommen wie einem anderen Zeichen. Es ist also nicht erforderlich, etwas neben dem Erkenntnisakt anzunehmen.
(6) Diese Meinungen werden später geprüft werden. Im Augenblick genügt es zu wissen, daß die Intention etwas in der Seele ist, das ein Zeichen ist, welches von Natur aus etwas, wofür es supponieren kann, bedeuten kann, oder daß es Teil eines mentalen Satzes sein kann.
(7) Ein solches Zeichen ist zweifacher Art: Das eine ist Zeichen eines Dinges, das selbst kein Zeichen ist, ungeachtet dessen, ob es gleichzeitig auch ein solches Zeichen bedeutet oder nicht. Ein solches Zeichen nennt man eine erste Intention. Von dieser Art ist jene Intention der Seele, welche von allen Menschen ausgesagt werden kann; und auf ähnliche Weise die von aller Weiße und Schwärze aussagbare Intention und ebenso bei anderen Fällen.
(8) Man muß jedoch wissen, daß man erste Intention im engeren und weiteren Sinne auffassen kann.
(9) Im weiteren Sinne wird jedes in der Seele existierende intentionale Zeichen erste Intention genannt, das nicht einzig eine Intention oder ein Zeichen bedeutet, ob man nun Zeichen im engeren Sinne auffasse als das, was so bedeutet, daß es in einer Aussage für sein Bedeutetes stehen kann, oder ob man Zeichen im weiteren Sinne verstehe in der Weise, wie die synkategorematischen Ausdrücke (z.B. Ausdrücke wie jeder, einer, keiner, neben, nur, als ) bedeuteten. Und auf diese Weise können mentale Verben, synkategorematische Ausdrücke, Konjunktionen und Derartiges erste Intentionen genannt werden.
(10) Im engeren Sinne wird nur der mentale Name, der für sein Bedeutetes supponieren kann, erste Intention genannt.
(11) Eine zweite Intention ist Zeichen solcher erster Intentionen. Von dieser Art sind die Begriffe Gattung, Art und Derartiges. So wie von allen Menschen eine allen gemeinsame Intention ausgesagt wird, wenn ich sage, Dieser Mensch ist ein Mensch, Jener Mensch ist ein Mensch und ebenso von allen einzelnen, ebenso wird von allen Intentionen, die bedeuten und für Dinge supponieren (für Dinge stehen), eine gemeinsame Intention ausgesagt, wenn ich sage Diese Art ist eine Art, Jene Art ist eine Art und ebenso in anderen Fällen.
Ebenso wenn man sagt Stein ist eine Gattung, Tier ist eine Gattung, Farbe ist eine Gattung und ebenso in anderen Fällen wird von Intentionen eine Intention ausgesagt in der Weise, wie in den Aussagen Mensch ist ein Name, Esel ist ein Name, Weiße ist ein Name von verschiedenen Namen ein Name ausgesagt wird. Und ebenso wie die Namen der zweiten Namengebung konventionell Namen der ersten Namengebung bedeuten, ebenso bedeutet die zweite Intention von Natur aus die erste. Und wie ein Name der ersten Namengebung anderes als Namen bedeutet, ebenso bedeutet die erste Intention andere Dinge als Intentionen.
(12) Man kann sagen, die zweite Intention werde im engeren Sinne für eine Intention verwendet, die ausdrücklich erste Intention bedeute; im weiteren Sinne für eine Intention, die Intentionen und konventionell eingesetzte Zeichen bedeute - wenn es Derartiges überhaupt gibt!
__________________________________________________________________________________________
Quelle: Wilhelm von Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, lat.-dt. (Hrsg. Ruedi Imbach), Stuttgart 1984, Reclam
Nota. - Die Unterscheidung von meinen, Zeichen und Gemeintem ist tatsächlich eine erster Schritt zur Kritischen Philosophie. Immerfort denkt man bei der Lektüre Ockhams: Aber auf der nächsten Seite entdeckt er den Weg zur Transzendentalphilosophie! Und dann passiert es doch nicht. Denn das Einzelne, von dem es 'keine Wis-senschaft gibt', das ist in seiner Vorstellungswelt die aristotelische Entelechie, in die zwar kein anderer Einblick hat, weil sie ohne Fenster ist; die aber ihre Bestimmung in sich hat; um nicht zu sagen: Die an sich ist.
Das Kant'sche Ding-an-sich ist systematisch immer nur Noumenon, doch hört man es an so vielen Stellen flüstern: 'Mich gibt es wirklich!' Es ist aber nicht (was absurd wäre) das Caput mortuum von Platos generischer Idee, sondern das entfernte Wetterleuchten der Leibniz'schen Monade, in der Aris singuläre Entelechie zeitgerecht verpackt war.
JE
Das Kant'sche Ding-an-sich ist systematisch immer nur Noumenon, doch hört man es an so vielen Stellen flüstern: 'Mich gibt es wirklich!' Es ist aber nicht (was absurd wäre) das Caput mortuum von Platos generischer Idee, sondern das entfernte Wetterleuchten der Leibniz'schen Monade, in der Aris singuläre Entelechie zeitgerecht verpackt war.
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen