Sonntag, 31. Januar 2016

Das Absolute ist der Vereinigungspunkt beider Welten.


In meiner Welt entsteht das Absolute als Inbegriff meines sittlichen Sollens ("Gefallen ohne Inter-esse").

In unserer Welt* entsteht es als Fluchtpunkt möglicher gemeinsamer Zwecke ("allgemeines Inter-esse").

Es ist im Rückblick in beiderlei Gestalt von meiner und von unserer Welt. Es ist der Vereinigungs-punkt. Von ihm aus lassen sich beide Welten überblicken – wo sie sich überschneiden und wo nicht.

(Daraus erhellt, dass Sittlichkeit und Recht verschiednen Ursprungs sind. Im Politischen über-schneiden sie sich regelmäßig, und der Philister unterscheidet dann zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. )

2. 6. 2015

*) 'Reihe vernünftiger Wesen'





Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Samstag, 30. Januar 2016

Eine Welt vernünftiger Wesen und der kategorische Imperativ.



Nun ist auf solche Weise eine Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke möglich, und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder. Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre. Das formale Prinzip dieser Maximen ist: handle so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetze (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte. 

Ein Reich der Zwecke ist also nur möglich nach der Analogie mit einem Reiche der Natur, jenes aber nur nach Maximen, d.i. sich selbst auferlegten Regeln, diese nur nach Gesetzen äußerlich genötigter wirkenden Ursachen. Demunerachtet gibt man doch auch dem Naturganzen, ob es schon als Maschine angesehen wird, dennoch, so fern es auf vernünftige Wesen, als seine Zwecke, Beziehung hat, aus diesem Grunde den Namen eines Reichs der Natur. Ein solches Reich der Zwecke würde nun durch Maximen, deren Regel der kategorische Imperativ aller vernünftigen Wesen vorschreibt, wirklich zu Stande kommen, wenn sie allge-mein befolgt würden. 

Allein, obgleich das vernünftige Wesen darauf nicht rechnen kann, daß, wenn es auch gleich / diese Maxi-me selbst pünktlich befolgte, darum jedes andere eben derselben treu sein würde, imgleichen, daß das Reich der Natur und die zweckmäßige Anordnung desselben, mit ihm, als einem schicklichen Gliede, zu einem durch ihn selbst möglichen Reiche der Zwecke zusammenstimmen, d.i. seine Erwartung der Glück-seligkeit begünstigen werde: so bleibt doch jenes Gesetz: handle nach Maximen eines allgemein gesetzge-benden Gliedes zu einem bloß möglichen Reiche der Zwecke, in seiner vollen Kraft, weil es kategorisch gebietend ist.
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Kant, Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, WW ed. Weischedel, Bd. VII, S. 72f.


Nota. - Vernünftig ist nach Fichte ein Denken (Handeln), das vom Unbestimmten zum Bestimmten fort-schreitet, wobei Bestimmen heißt: einer Sache einen Zweck zuschreiben. Vernünftig wird ein Individuum nur durch die Aufforderung seitens einer ihm vorausgesetzten 'Reihe vernünftiger Wesen'.

Das Fortschreiten vom Bestimmbaren zum Bestimmten ist nicht das Verfahren Kants. Zweck, Vernunft und eine 'Welt vernünftiger Wesen' gehören wohl auch bei ihm zusammen; doch welcher Zweck vernünftig sei, ist bei ihm schon immer bestimmt. Vorherbestimmt? Auch dies eine der vielen Stellen, wo er 'dem Glauben Platz schafft'...
JE



Mittwoch, 27. Januar 2016

Dass.



Da ist die Kirsche. Der Star fliegt hin und pickt. Und findet, was er erwartet hat. Er wusste, was er erwartet hat. Doch jetzt weiß er es nicht mehr. Denn nie wusste er, dass er etwas erwartet hat. Nie wusste er, dass die Kirsche auch ohne ihn da war und dass er auch ohne die Kirsche da ist. Er weiß immer nur dieses oder das, aber nie, dass.

'Dass' ist die Bedingung der Erinnerung, und Erinnerung ist die Bedingung der Reflexion.

Juni 17, 2010


Nota. Trivial gesagt: 'Dass' ist der Wirklichkeitsmodus der zweiten semantischen Ebene. Erstens: Das ist eine Kirsche. Zweitens: Ich weiß – sage, denke, bemerke... –, dass das eine Kirsche ist. – Das lässt sich unendlich wiederholen. Sachlich bleibt es immer dieselbe Operation: das Reflektieren auf... Objektebene und Metaeben unterscheiden sich durch Dass.

im März 2012 





Dienstag, 26. Januar 2016

Mein System.

Tinguely, Fastnachtsbrunnen 

Lieber Leser, 'mein System', von dem ich immer wieder rede und von dem Sie vielleicht doch noch nicht viel erkennen konnten, nimmt langsam Gestalt an; weniger literarisch als sachlich. Das Ästhetische schimmert immer öfter aus dem Strom der Wörter hervor, und nicht bloß als thematischer roter Faden oder als Hintergrundrauschen, das alle andern Töne einfärbt, sondern als das Bindemittel zwischen der Anthropologie auf der empirischen und der Transzendentalphilosophie auf der theoretischen Seite.

Das klingt nun ebenso eitel wie trivial; wenn man nämlich von dem Ästhetischen einen trivialen Begriff hat. Ich fasse aber das Ästhetische (wie Fichte an Schiller schrieb) so weit, wie Sie es sich nicht einmal träumen lassen. So weit und so scharf, wie ich ergänzend hinzufüge, und dann ist es nicht mehr trivial.



Auf den ersten Blick ist es freilich das Thema der Vernunft, durch das die Anthropologie mit der Transzendentalphilosophie zusammenhängt; als das specificum humanum hier und als Medium und Gegenstand dort: Selbstreflexion der Intelligenz.

Die Intelligenz selber zeichnet das Humane schon lange nicht mehr aus. Je länger die Ethologen observieren, um so weiter wird das Feld der tierischen Intelligenz. Angefangen hat es mit dem Werkzeuggebrauch der Schimpansen, inzwischen sind wir bei absichtlicher Täuschung und Perspektivenwechsel bei den Rabenvögeln, und wer weiß, was noch kommt.

Es ist wohl wahr, tierische Intelligenz manifestiert sich immer punktuell und momentan, nur bei der Familie Homo ist ihr Gebrauch habituell und ubiquitär. Wäre das kein Unterschied? Es wäre keiner, der sich bestimmen lässt. Denn dazu müsstest du eine Grenze ziehen. Doch auf welchen Punkt du immer reflektierst, der Übergang ist fließend.

Qualitativ dagegen ist dieser Unterschied: Im Tierreich steht aller Intelligenzgebrauch im Dienste der Selbst- oder der Arterhaltung, auch da, wo er nicht genetisch, sondern kulturell vererbt wirbt. Allein Homo sapiens bemüht – und je länger seine Geschichte auf Erden dauert, umso wissentlicher – Zwecke, die abseits der Erhaltungsfunktion liegen: Verum, bonum, pulchrum.

Das ist es, was den Menschen vor andern Lebewesen auszeichnet: Er kann nicht nur wahr-, sondern auch wertnehmen. Und recht eigentlich muss er wertnehmen, so dass Max Scheler sagen konnte: Wertnehmen kommt vor wahrnehmen, es ist seine Bedingung.

Das ist ein Satz, der der Anthropologie ebenso angehört wie der Transzendentalphilosophie, die das Praktische vor und über das Theoretische stellt. Wertnehmen ist das Wahrnehmen von Qualitäten, und so nennen wir Eigenschaften, die schlechterdings – "ohne Interesse" – von einem Urteil des Beifallens oder der Missbilligung begleitet sind. Und eben das ist das Ästhetische.

Was morphologisch der aufrechte Gang für die Hominisation bedeutete, bedeutet für die geistige Hominisation die Entwicklung seines ästhetischen Vermögens. Es ist der Stoff der Vernunft.

 

So weit die Anthropologie.

Vernunft nennen wir nun diejenige Intelligenz, die nicht nur die Wirkzusammenhänge der Dinge in Hinblick auf unsere Zwecke beurteilt, sondern die Zwecke selbst. Eine Intelligenz, die sich als einem Maß unterworfen vorstellt. Vernünftig nennen wir ein Handeln, das seine Zwecke als einer obersten Instanz, als einem Zweck der Zwecke verantwortlich erachtet. Dies genetisch herzuleiten aus dem idealen Ursprung der Vernunft selbst, jener Tathandlung, in der sich das Ich als frei setzt, ist wiederum Sache der Transzendentalphilosophie. Die Fiktion eines obersten Zwecks – verum, bonum, pulchrum – ist eine ästhetische Idee. Sie ist nicht bedingt, sondern durch Freiheit möglich. Und recht besehen, ist am äußersten Ende der Vernunft nur sie noch durch Freiheit möglich.

*

Das sind die beiden Pole, zwischen denen "mein System" verläuft.*

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*) Wie es verläuft, sehen Sie, wenn Sie meinen Links folgen. 


27. Juni 2014

Montag, 25. Januar 2016

Es gibt nichts Unbestimmtes.


uschi dreiucker, pixelio.de

Das logisch Unbestimmte ist phänomenal (entwicklungsgeschichtlich, genetisch) ein Zubestimmendes; nicht unbestimmt, sondern bestimmt als ein mit einem Mangel Behaftetes. Es ist als Frage gegeben. Es begegnet nicht als etwas, das im allgemeinen Verweisungszusammenhang der Bedeutungen keinen Platz hat, sondern als eines, dessen Platz noch aufzufinden ist. Es ist (schon) eine Aufgabe.

Dem Tier begegnet in seiner geschlossenen Umwelt nichts schlechthin Bedeutendes, sondern immer schon ein Dieses-Bedeutendes. Was in seiner Umwelt nichts zu bedeuten hat, begegnet ihm nicht als unbedeutend, sondern begegnet ihm so-gut-wie-gar-nicht. Das Gesamt aller ihm möglichen Bedeutungen ist in seiner Umwelt, als seine Umwelt abgeschlossen. Es ist kein zu realisierender Verweisungszusammenhang, sondern realisiert sich selber als ein Dieses-hier-und-jetzt.

Der logischen Betrachtung erscheint das Reich der Bedeutungen als gegeben, der transzendentalen Betrachtung erscheint es als gemacht.

*

Was ist daran aber romantisch?

Dies: Das Schöne ist nach Kant das, was so aussieht, als ob es seinem Zweck vollends entspräche – ohne dass ein Zweck doch an ihm zu erkennen wäre.
 
Im Reich der Bedeutungen ist ihr Zweck immer das, was eine Sache zu 'dieser' bestimmen kann. Die ewige Subversion des ästhetischen Phänomens – das, was das Reich der gefügten Bedeutungen allezeit unterwühlt – ist ja nicht, dass es keine Bedeutung hat, sondern dass es den Betrachter heraus-fordert, eine neue Bedeutung, einen noch ungeahnten Zweck zu erfinden, die das bewährte Gefüge der gegebenen Bedeutungen aus dem Gleichgewicht bringen mögen. Und damit hat es nie ein Ende.

•Juni 13, 2010

Sonntag, 24. Januar 2016

Wovon handelt Transzendentalphilosophie überhaupt?

Maurits Cornelis Escher, SelbstbildnisEscher 


Es gibt zwei sehr verschiedene Standpunkte des Denkens; den des natürlichen und gemeinen, da man unmittelbar Objekte denkt, und den des vorzugsweise so zu nennenden künstlichen, da man, mit Absicht und Bewußtsein, sein Denken selbst denkt. Auf dem ersten steht das gemeine Leben, und die Wissenschaft; auf dem zweiten die Transzendentalphilosophie, die ich eben deshalb Wissenschaftslehre genannt habe, Theorie und Wissenschaft alles Wissens, keineswegs aber selber ein reelles und objektives Wissen.

Die philosophischen Systeme vor Kant kannten großenteils ihren Standpunkt nicht recht, und schwankten hin und her zwischen beiden. Das unmittelbar vor Kant herrschende Wolffisch-Baumgartensche stellte sich mit seinem guten Bewußtsein in dem Standpunkte des gemeinen Denkens und hatte nichts geringeres zur Absicht, als die Sphäre desselben zu erweitern und durch die Kraft ihrer Syllogismen neue Objekte des natürlichen Denkens zu erschaffen. [...]

Diesem System ist das unsrige darin gerade entgegengesetzt, daß es die Möglichkeit, ein für das Leben und die Wissenschaft gültiges Objekt durch das bloße Denken hervorzubringen, gänzlich ableugnet und nichts für reell gelten läßt, das sich nicht auf innere oder äußere Wahrnehmung gründet. In dieser Rücksicht, inwiefern die Metaphysik das System reeller, durch das bloße Denken hervorgebrachter Erkenntnisse sein soll, leugnet z. B. Kant, und ich mit ihm, die Möglichkeit der Metaphysik gänzlich. Er rühmt sich, dieselbe mit der Wurzel ausgerottet zu haben, und es wird, da noch kein verständiges und verständliches Wort vorgebracht worden, um dieselbe zu retten, dabei ohne Zweifel auf ewige Zeiten sein Bewenden haben.

Unser System, das die Erweiterungen wieder zurückweist, läßt sich ebensowenig einfallen, das gemeine und allein reelle Denken selbst zu erweitern,  sondern will dasselbe lediglich darstellen und erschöpfend umfassen. Wir denken im philosophischen, das objektive Denken. Unser philosophisches Denken bedeutet nichts und hat nicht den mindesten Gehalt; nur das in diesem Denken gedachte Denken bedeutet und hat Gehalt. Unser philosophisches Denken ist lediglich ein Instrument, durch welches wir unser Werk zusammensetzen. Ist das Werk fertig, so wird das Instrument als unnütz weggeworfen. 
M. C. EscherEscher
Johann Gottlieb Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen in: GesamtausgabeBd. II/5, S. 111-115

Samstag, 23. Januar 2016

Schreckliche Vereinfacher.

Malevitch, Carré noir 

Denken heißt vereinfachen.

Wir nehmen keine 'Dinge' wahr. Auf unser Sensorium prasselt ohne Pause ein Sturzflut aller erdenklichen Reize ein. Nicht alle werden wohl an die Zentrale weiter geleitet: Redundanz betäubt. Und nicht alle kommen in der Zentrale an – weil die nämlich vorab schon filtert, was des Bemerkens wert ist und was nicht.

Noch bevor übrigens gedacht wurde. Die Stammesgeschichte hat unser Gehirn mit Regionen ausgestattet, die nur bei Homo sapiens vorkommmen – weil die dort verarbeiteten Informationen für die Lebenswirklichkeit von Homo sapiens von Belang sind, aber für andere Lebensformen nicht. Und jeder von uns bringt eine ganze Masse von Verschaltungen zwischen den Regionen fix und fertig mit auf die Welt, teils als die materialisierte Kollektiverinnerung unserer Gattung, teils – und keiner weiß, in welchem Maße – als individuelle Erbschaft.

Sie alle sind mit Vereinfachung beschäftigt.

Aber nun erst das Denken selbst! Es handelt sich – nach der unwillkürlichen, genetisch vorgegeben Auslese – um die willkürliche Anordnung der wahrgenommenen Gegebenheiten auf eine vorgängige Absicht hin. Nichts wird "nur so" wahrgenommen. Auch die zweckfreie ästhetische Betrachtung geschieht "um etwas willen" – um ihrer selbst willen, anders fände sie nicht statt. Für wahr wird nur das genommen, was in einem irgend erkennbaren Verhältnis zur Absicht steht; und im Erkennen unerwarteter und verborgener Verhältnisse zeichnet sich Intelligenz aus (Humor+Gedächtnis).

Das gilt für das alltägliche Denken des gesunden Menschenverstands nicht minder als für die Wissenschaft. Und namentlich die Philosophie. Man kann, ohne einen allzu großen Schnitzer zu riskieren, sagen: Philosophieren heißt vereinfachen. Die subtilen Distinktionen der Schulphilosophie sind nicht der Zweck des Philosophierens, sondern sein Mittel. Die historisch-philologische Arbeit bereitet der Philosophie 'nach dem Weltbegriff', wie Kant es nennt, das Material zu. Der Sinn ist immer: Ordnung in das Mannigfaltige bringen; festlegen, was das Wichtige sein soll und was hintan gestellt werden darf. Und zwar so, dass im Idealfall eine einfache Frage übrigbleibt, die mit ja oder nein zu beantworten wäre. Es ist, in einem Akt, das Abstrahieren vom Zufälligen und das Reflektieren auf das Notwendige.

Eine Antwort auf eine philosophische Frage von Erheblichkeit kann erst dann richtig sein, wenn sie einfach ist. (Sie kann allerdings auch dann noch falsch sein.)


23. 1. 2009


Freitag, 22. Januar 2016

Philosophie und Weisheitslehre.

Manfred Janzen-Habetz, pixelio.de

Aus einem online-Forum, im Februar 2010: 

  
... Die real existierenden Wissenschaften sind eben darum keine Philosophie, weil sie (ihrer Bestimmung nach: im Öffentlichen Raum ein Feld des Einverständnisses erzwingen zu können) positiv sein müssen. Sie müssen also in ihrer Praxis notwendig davon ausgehen, dass ein Wissen da ist, das (öffentlich) gegeben (und nicht erst noch aufgegeben) ist: "Stand der Wissenschaft". Insofern verfährt jede reale Wissenschaft (vorläufig) 'dogma-tisch', wie Herr K. sagt. Dogmatist isch wäre sie, wenn sie vergäße, dass das gültige Wissen, von dem sie aus gehen muss, nur ein einstweiliges ist - und jederzeit von den Resultaten der wissenschaftlichen Praxis (und von nichts anderem) 'aufgehoben' werden kann.

Die Geschichte der Wissenschaften ist die Geschichte ihres Herausfallens aus der Philosophie (Galilei bis Newton): eine Scheidung, die zugleich zur Selbstbereinigung der Philosophie (Kant) geworden ist.


Von der Philosophie habe ich, anders als Sie, keine Idee, sondern einen Begriff. Ich sage: Philosophie ist, sofern sie Wissenschaft sein kann (oder will), lediglich negativ und kritisch. Das Feld des Positiven hat sie den Realwissenschaften (zu) überlassen - seit Kant.

Sie leistet aber damit nicht das, wofür sie vor zweieinhalb tausend Jahren erfunden worden ist: den Sinn des Lebens entdecken. Sondern nur dies: immer und immer wieder neu darzulegen, dass der Sinn des Lebens (oder "der Welt" oder wie man das immer nennen will) aus keinerlei positivem Befund heraus zu lesen ist, sondern als Problem, als Aufgabe, als Frage der praktische Lebensführung anheimgegeben bleibt.

Letztere Formulierung wird der eine oder andere mit "existenzialistisch" beschreiben wollen, und das wollte ich nicht einmal zurückweisen. Zurückweisen würde ich allerdings, wenn er das nutzt für den Folgegesatz: "Das ist doch aber auch Philosophie!"

In einem strengen, und das heißt: wissenschaftlichen Sinn ist das keine Philosophie. 'Wissenschaftlich' bedeutet nicht: Gegenstand + Methode. Die sind beide sekundär, abgeleitet nämlich aus der wesentlichen Bestimmung: Wissenschaftlich ist das Verfahren, das nur die Bestimmungen gelten lässt, die auf die Tragfähigkeit ihrer Gründeerfolgreich geprüft wurden. Darin hat Plato die Anstrengungen seiner griechischen Vorgänger zusammen- gefasst (êpistêmê versus dóxa).

Überprüfen der Gründe, das ist Kritik, und die radikale, weil unendliche Kritik ist Öffentlichkeit. (Das ist ganz wurscht, ob die Wissenschaftler selber diesen 'kritischen' Begriff von Wissenschaft haben; denn kritisieren werden sie den lieben Kollegen so wie so.)

Der springende Punkt: Eine wie immer geartete Aussage über den Sinn der Welt, des Lebens, der... wird nie zu begründen sein, denn dann müsste sie irgendwann auf einen letzten Grund stoßen, der seinerseits nicht mehr begründet ist; der aber aus eben demselben 'Grund' nicht gelten kann - weil er eben nicht... begründet ist.

Langer Rede kurzer 'Sinn': Der Sinn der Welt pp. kann nicht (wissenschaftlich) bewiesen, sondern allenfalls (sofern man ihn will!!) behauptet werden. Das geeignete Medium seiner Darstellung ist nicht der (Begriffe folgernd miteinander verknüpfende) Diskurs, sondern die bildliche Anschauung: ist nicht Logik, sondern Ästhetik. (Lässt sich noch viel weiter ausführen...)

Ob dieses Genre, zu dem ich auch einiges beizutragen hätte, dann "Lebensphilosophie", "Philosophie der Tat" oder ähnlich genannt werden darf, ist einen Streit nicht wert. Entscheidend ist, welchem Zweck die Philosophie, 'sofern sie wissenschaftlich ist', nämlich die kritische, eigentlich dient; d. h. welchen 'Sinn' sie hat. Es ist, wie immer die Antworten jeweils ausfallen, Meta-Philosophie - ein Denken, Reden, Meinen über die Philosophie.

Als Motiv liegt sie der Philosophie 'zu Grunde'. Ausführen lässt sie sich allerdings erst, wenn die Philosophie ihre wissenschaftliche, weil kritische Arbeit vollendet hat. Der Anfang muss sich als Ende behaupten.


Ich bin freilich der Meinung, dass die Philosophie mit der "Kritischen" alias Tranzendentalphilosophie (Kant bis Fichte) ihrem Umfang nach 'abgeschlossen' ist; nämlich nur als Kritik besteht an allen ('metaphysischen') Versuchen, aus reinen Denkbestimmungen Aussagen über das Wirkliche destillieren zu wollen. Mit dem 'Umfang' ist allerdings nicht ihr 'Stoff' erschöpft; denn die Versuchung, aus einem (postulierten) 'Sinn' auf ein (vorfindliches) 'Sein' zu schließen, tritt tagtäglich im Alltagsverständnis wie im Wissenschaftsbetrieb in Gestalt ihrer Umkehrung immer wieder an das Denken heran: nämlich aus einem (zuvor klammheimlich mit 'Sinn' aufgeladenen) Sein (zirkulär) auf dessen (und meinen) Sinn zu schließen.

Ihre Sache ist es, das Feld des Denkens zu bereinigen.

Das schließt offenkundig die Möglichkeit aus, 'Sinn' als ein Objektivum aufzufassen. Ich meine also das Gegenteil von dem, was Sie bei mir verstanden haben; nämlich "dass der Sinn des Lebens (oder 'der Welt' oder wie man das immer nennen will) aus keinerlei positivem Befund heraus zu lesen ist, sondern als Problem, als Aufgabe, als Frage der praktische Lebensführung anheimgegeben ist." Sein Leben kann jeder nur selber führen. Und welchen Sinn sein Leben hatte, stellt sich am Ende als der rote Faden heraus, den er hindurchgesponnen hat. Der eine spinnt ihn bewusster ("Lebensphilosophie"), der andere intuitiver: je von Entscheidung zu Entscheidung. Über die "Richtigkeit" ist damit nichts gesagt. Mit andern Worten - ob ihm die Lehren der Kritischen Philosophie bei seiner Lebensführung geholfen haben oder nicht, steht ganz in den Sternen und ist seinem eigenen Urteil unterworfen. Dasselbe gilt für die diversen konkurrierenden Weisheitslehren, die er privatim für sich wählen mag oder auch nicht, und für die er niemandem (und das heißt: nicht öffentlich) Rechenschaft zu geben hat.

Ihre Erlebnisse mit dem Wissenschaftsbetrieb nenne ich deshalb privat, weil irgendein Anderer ganz andere Erlebnisse haben kann. Ich selber habe nie einen Posten im akademischen Betrieb bekleidet, weil ich nie einen erstrebt habe. Ich muss daher auch nicht verbittert sein. Dass ich meinen Bemühungen im Feld des Denkens eine größere Resonanz wünsche, als sie tatsächlich haben, steht auf einem ganz anderen Blatt. Nämlich auf dem Blatt, wo eingetragen ist, dass diese Bemühungen nicht im Geist der Zeit liegen. Das könnte ich ja ändern, wenn ich wollte, aber ich will es nicht.

Stattdessen bediene ich mich eines Mediums, das neu ist und dem die akademische Zunftphilosophie auf die Dauer nicht standhalten wird: des Internets.
 

25. Dezember 2014




Mittwoch, 20. Januar 2016

Ist Philosophie ein Fach?


Ob die Philosophie ein Fach ist, mag ich gar nicht entscheiden. Das finge an mit einem Pfennigfuchsen darüber, was man alles dazu zählen will und was nicht, und da bisse sich die Katze in den Schwanz. In zweieinhalb Jahr-tausenden hat sich in Europa – anderswo nicht – eine Tradition der kritischen Reflexion auf das, WAS wir wis-sen, und darauf, WIE wir wissen, ausgebildet. Da haben sich Einsichten angesammelt – selbst wenn man’s bloß kritisch nimmt  –, die nur vielleicht liebenswerte, aber dummfreche Rotznasen ignorieren können, wenn sie sich denn diesen Dingen zuwenden wollen.

Daraus sind an den Universitäten Fakultäten und 'Fachbereiche' hervorgegangen. Dass es ein 'Fach' ist, be-haupten sie gern, um das Monopol zu wahren, das sie seit 150 Jahren darüber haben. Als nichtakademischer Privatmann kann ich das eigentlich nicht gutheißen.

Ich verteidige also nicht die Selbstständigkeit 'der Philosophie'. Ich verteidige die Einzigkeit der Wissenschafts-lehre (in meiner Emendation, versteht sich). Sie ist der harte Kern, der Prüfstein, die Kritik des Wissens, soweit es mehr sein soll als die Sammlung verwertbarer Fakten.

Das Sammeln verwertbarer Fakten dient dazu, das Leben einfacher, bequemer, befriedigender zu führen. Was immer über solche Fragen hinausgeht, läuft früher oder später auf die Eine Frage zu, wohin und wozu man sein Leben führen will. Das nennt man herkömmlich Praktische Philosophie. Um die Wörter geht es ja nicht, Philo-sophie ist kein eingetragenes Warenzeichen. Es geht darum, dass sie nicht wirklich wissenschaftlich, nämlich nicht wirklich kritisch sein können: denn sie wollen – und müssen, wenn sie was taugen sollen – positiv werden und Zwecke behaupten; wenn Sie so wollen, im weitesten Sinn 'politisch'. Das ist nicht Wissenschaft, sondern Meinungs-Kampf.

Gottseidank gibt es die Kritik und die Wissenschaftslehre als den Fels, auf dem sie baut! So haben die mannig-faltigen Meinungen immerhin etwas Gewisses, woran sie sich halten können; wenn schon nicht positiv, so doch negativ: was alles nicht geht.

Der springende Punkt ist aber: Die Wissenschaftslehre ist nicht der Bericht darüber, 'wie das Ich sich konstitu-iert', 'wie das Bewusstsein zustande kommt' und 'welches meine Pflichten sind'. Sie ist ein abstraktes Modell jenseits von Raum und Zeit – Schema, sagt Fichte immer wieder; "ohne alle Erfahrung"  – von einem Bewusst-sein, das vernünftig verfährt. Die Wissenschaftslehre ist das Schema der Vernünftigkeit.

*

Ist es also "rein formal"? "Bloße Methode"? – In der Wissenschaftslehre geht sowas gar nicht. Denkbar wäre es nur, wenn das Materiale – der Stoff oder die autarken Bedeutungspartikel vorgegeben wäre und das Verfahren sich ganz auf deren Verknüpfung beschränken könnte. (So etwas hat Hegel an Schellings dialektischer Triade bemängelt: Das ginge klipp-klapp und ohne Inhalt; während bei ihm der Inhalt des Begriffs seine Bewegung vor-ausbestimmte...) 

Mit andern Worten, wenn als Material der Begriff vorausgesetzt wird. Aber der Begriff ist ein Derivat. Ursprüng-lich war er Vorstellung, und die ist eine Abstraktion von der Tätigkeit 'vorstellen'. Eine Vorstellung 'gibt es', wenn und sofern einer sich etwas vorstellt; sonst nicht. Als Begriff ist sie aus der Tätigkeit herausgerissen und zu einem Dauernden mumifiziert. 

Gegenstand der Wissenschaftslehre ist aber der Gang des Vorstellens selbst. Es ist der Gang vom Bestimmba-ren, weil Unbestimmten oder wenig bestimmten, zum Bestimmteren. Das ist offenbar keine bloß formale Be-stimmung. Das Bedeutungsfeld wird von Schritt zu Schritt enger, aber dichter. Es ist nicht Kombination, son-dern Qualifizierung. Das Verfahren ist der Gehalt, aktual. Für andere darstellen, nämlich so, dass sie's nur nach-lesen müssten, lässt es sich nicht. Man muss schon das Vorstellen selber betreiben, um seiner gewärtig zu werden.

*

Summa summarum – die Wissenschaftslehre ist die ganze Philosophie. Außerdem gibt es nur Kritik.






Subtile Freuden.



214. Die Entdecker von Trivialitäten. — Subtile Geister, denen Nichts ferner liegt als eine Trivialität, entdecken oft nach allerlei Umschweifen und Gebirgspfaden eine solche und haben grosse Freude daran, zur Verwunderung der Nicht-Subtilen. 
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Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches; N° 214




Dienstag, 19. Januar 2016

In Verlegenheit.

natur-portrait

Die Transzendentalphilosophie kommt immer in Verlegenheit, wenn eine positive Wissenschaft Ergebnisse zu Tage fördert, die so aussehen, als könnten sie auf einen ihrer eigenen Begriffe passen. Wenn nämlich empiri-sche Forschung dasselbe herausfinden kann wie die Transzendentalphilosophie, dann ist letztere überflüssig – denn die empirische Forschung ist es jedenfalls nicht und war früher da.

Zum Glück passiert so etwas in der Regel nur ex negationem. Als etwa die Hirnforschung herausfand, dass es in unserm Zentralorgan keinen Homunculus, keinen obersten Steuermann gibt, sagte sie ja nur, was nicht ist: Das Ich ist keine Substanz; doch nicht etwa, das Ich sei lediglich transzendental – davon wusste sie ja gar nichts.

Andererseits wäre die Transzendentalphilosophie buchstäblich gegenstandslos, wenn sie nicht von etwas Wirkli-chem handelte. Allerdings beschreibt sie das Wirkliche nicht so, wie es ist; das ist ja Sache positiver Wissen-schaft (und taugt immer soviel, wie es sich technisch verwerten lässt). Sondern so, wie es in unserm Bewusst-sein vorkommt, als das, was es bedeutet – doch auch nur für die, die nach Bedeutung fragen, weil sie danach ihr Leben führen müssen. Wenn also beide dieselben Gegenstände haben, tun sie doch je etwas vollkommen ande-res.

*

Ich bin nun auf meiner Suche nach der Herkunft unseres poietischen, wertnehmenden und -setzenden Vermö-gens auf ein empirisches Resultat gestoßen, das, wenn es in weiterer Forschung bestätigt wird, seine Bedeutung sozusagen biologisch eingeprägt in sich trägt. 

Es ist Ernst Pöppels hirnphysiologische Hypothese von der Einbildungskraft.

Die Versuchung ist natürlich groß, hier das missing link zu feiern, das ungeahnte Zwischenstück, das biologische Anthropologie und Transzendentalphilosophie in einander – in beide Richtungen – übergehen lässt.

Und was bin ich froh, dass es das Internet gibt und ich hier bloggen kann! Ich kann meine Versuchung vor aller Welt (soweit sie mich anklickt) zum Besten geben, und muss mich doch nicht darauf festnageln lassen. Das wäre in Gutenbergs Reich nicht möglich gewesen.






Sonntag, 17. Januar 2016

Und nochmal: Analytisch oder kontinental?


Mineralienatlas Lydischer Stein, "Prüfstein"

Unter der Überschrift Was ohne Deutung bleibt, ist leer veröffentlichte die FAZ gestern einen kurzen Beitrag des kanadischen Philosophen Charles Taylor zu der von ihr begonnenen Kontroverse zwischen 'analytischer' und 'kontinentaler' Philosophie. Diese Gegenüberstellung sei nur die Oberfläche, meint Taylor. Wichtiger sei viel mehr der "Unterschied, der sich aus den verschiedenen Antworten auf die Frage ergibt, ob die Philosophie eine autarke Fachdisziplin ist; ob Philosophen also ihre Fragen ohne Rückgriff auf die Erkenntnisse anderer Fach-gebiete beantworten können oder nicht."

Er knüpft dabei an den Kernsatz aus dem Beitrag von Tobias Rosefeldt an: Zweck der Philosophie sei es, eine eigene Sprache zu entwickeln, "deren Bedeutung so klar ist, dass sie nicht erst der Interpretation bedarf." Sind die Begriffe scharf genug definiert, bleiben keine Probleme übrig. Das meint Taylor mit der "verhängnisvollen Vorliebe vieler analytischer Philosophen für das selbstgenügsame Philosophiemodell". Wenn schon innerhalb des Fachs kein Raum für Interpretation bleiben soll, dann ist ein Aus-, Zurück- und Übergreifen auf andere Fächer – Geschichte, Ethik, Soziologie – schon gar nicht mehr statthaft.


Dies wiederum beruhe auf "einem positivistischen Weltbild, das die Hermeneutik unter Generalverdacht stellt". Was immerhin eine originelle Wende wäre, denn bislang hatte man den Positivismus so verstanden, als würde er die ganze Philosophie als bloße Hermeneutik abtun und ins Reich der Fabeln verweisen. Dies hätten die 'Analytiker' mithin überwunden, indem sie die Philosophie selber zu einer autarken positiven Wissenschaft 'von den Begriffen' purifiziert und gerettet hätten.


An dem Punkt bricht Charles Taylor ab. Für ihn ist damit das Terrain abgesteckt, und auf welcher Seite er steht, ist ja außer Frage, weshalb ihn die Redaktion der FAZ auch ohne Zögern einen Sozialphilosophen nennt.

Der Beitrag schafft mehr Verwirrung, als dass er zur Klärung beitrüge. Ob die Philosophie 'ein Fach' ist – oder vielleicht das öffentliche Forum aller andern Fächer –, ist eine Frage; wie weit dieses Fach reicht, bedürfte gege-benenfalls einer eigenen Erörterung. Darf es übergreifen? Darf es Anleihen machen? Worauf darf es sich beru-fen?

Letzeres kommt dem Kern der Sache näher. Wenn sie ein Fach ist – ein wissenschaftliches, denke ich wohl –, dann muss sie auf eigenen Prämissen beruhen. Dann aber muss ihre Kritik – immanent – von diesen Prämissen ausgehen. Von anderen, äußeren Prämissen aus ließe sich bestreiten, dass sie ein Fach und dass sie eine Wis-senschaft ist. Das eine ist Kritik, das andere Metakritik, das sind zwei Paar Schuhe.

Soviel gegen Taylor. Es geht aber auch gegen die Analytischen. Denn Prämissen, die das Philosophieren zu einem Fach konstituieren könnten, kennen sie nicht und wollen sie nicht kennen. An denen müssten sich die scharf definierten Begriffsmoleküle ja überprüfen lassen – und das hieße interpretieren. Ein Fach kann ihr Philoso-phieren daher nicht sein, und eine Wissenschaft schon gar nicht. Jeder Begriff für sich und aus eignem Rechts-grund (vermutlich der "Anschlussfähigkeit" im jeweiligen Kontext): Das ergäbe gerade kein 'Fach', sondern nur eine pragmatische Hilfsdisziplin der realen Wissenschaften. Womit wir dann doch wieder beim "positivisti-schen Weltbild" wären.

Das positivistische Weltbild beruht – nach Kant muss man es genau so formulieren – auf dem Verbot jedweder Wissenskritik. Die Dinge sind, was sie sind, wo ist da das Problem? Die Transzendentalphilosophie hat ein für allemal geantwortet: Von der Wirklichkeit weiß du gar nichts, sondern nur von dem, was in deinem Bewusst-sein vorkommt, und das sind Vorstellungen. Die mögen ja richtig sein, das wollen wir gerne unterstellen. Aber wie das möglich ist – das würden wir doch schon herausfinden wollen. Dieses Herausfinden heißt Philosophieren.

Hieße die Frage: Ist diese oder jene Vorstellung berechtigt? – so müsste auf reales Wissen von außerhalb der Philosophie zurückgegriffen werden. Aber wo es um das Vorstellen selber geht, kann nicht auf reales Wissen von außerhalb zurückgegriffen werden; denn dessen Begründetheit steht ja hier in Frage, und das gilt auch von der empirischen Psychologie: Deren Wissen kann höchstens so begründet sein, wie Wissen überhaupt, also kann sie es nicht selber begründen.*

Das ist ein eng gefasster Begriff von Philosophie, er ist rein kritisch; aber er ist hart und haltbar. Unmittelbar taugt er zu nichts, da haben die Nörgler Recht. Doch mittelbar taugt er zu allem und ohne ihn taugt nichts: Er ist der Prüfstein, an dem sich Alles bewähren muss. Aber um das Vorstellen selber geht es. Die brauchbaren Be-griffe sind bloß Derivate, die seien euch geschenkt.

  
*) Sollte die Hirnphysiologie eines Tages bildgebend sichtbar machen, wie aus einem Sinneseindruck eine Vor-stellung entsteht, so könnte das nur beweisen, dass sich diese Praxis gattungsgeschichtlich als nützlich bewährt hat; aber wir wollten mehr wissen.

Von der Wirklichkeit weiß ich nichts.



Mit der Wirklichkeit komme ich in Berührung, wenn ich etwa mit dem Knie gegen die Stuhlkante stoße. Doch schon, wenn ich Knie und Stuhlkante weiß, habe ich es nur noch mit ihren Repräsentationen zu tun.






Samstag, 16. Januar 2016

Nur Urteile sind wahr oder unwahr.


Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, so fern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, so fern er gedacht wird. Man kann also zwar richtig sagen: daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen. Daher sind Wahrheit sowohl als Irrtum, mithin auch der Schein, als die Verleitung zum letzteren, nur im Urteile, d.i. nur in dem Verhält-nisse des Gegenstandes zu unserm Verstande anzutreffen.
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 308





Freitag, 15. Januar 2016

Notwendig ist der Zufall.



Ein Reich der Notwendigkeit gibt es nur in Gedanken. 'So muss es sein und etwas anderes ist nicht möglich.' Im Reich des Faktischen ist im Vergleich dazu alles zufällig. 'Wäre die Welt anders eingerichtet, müsste ich etwas anderes von ihr denken.' (Das aber wäre notwendig.)

Das Mysterium: Die Welt der Gedanken spielt sich ab in einem Reich von Faktischem. Ist das nun zufällig?

(Ich denke nicht etwas, sondern von etwas, über etwas. Mein Gedanke ist nicht die Sache, sondern ein Bild.)

aus e. Notizbuch, 1. 4. 08




Donnerstag, 14. Januar 2016

Das Paradox der Geltung.


Tatsächlich liegt das Mysterium der Vernunft in der Urteilskraft. Im Urteil richte ich über die Gültig-keit der Gründe (Werte...); aber Grund des Urteils ist eben... die Gültigkeit. "Geltung" ist ein Paradox: 'Ich' stellt sich über die Geltung, macht sich zu ihrem Maßstab, indem es Geltungen vergleicht. Anderer-seits muss es die Geltungen als unabhängig von ihm denken: "Entweder gibt es gar keinen Wert, oder es gibt einen notwendigen Wert."*

Das Ich 'macht' sich seine Gründe selber, aber so, als ob sie absolut wären. Mit andern Worten, die "absolute" Geltung ist immer nur eine Behauptung.

*) Fr. Schlegel, in Materialen zu Kants Kritik der Urteilskraft, Ffm. 1974, S. 198

aus e. Notizbuch, 11. 7. 03






Mittwoch, 13. Januar 2016

Von der Überlegung.

Eine Paradoxe

Man rühmt den Nutzen der Überlegung 21a_editedin alle Himmel; besonders der kaltblütigen und langwierigen, vor der Tat. Wenn ich ein Spanier, ein Italiener oder ein Franzose wäre: so möchte es damit sein Bewenden haben. Da ich aber ein Deutscher bin, so denke ich meinem Sohn einst, besonders wenn er sich zum Soldaten bestimmen sollte, folgende Rede zu halten. “Die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat. Wenn sie vorher, oder in dem Augenblick der Entscheidung selbst, ins Spiel tritt: so scheint sie nur die zum Handeln nötige Kraft, die aus dem herrlichen 9a_editedGefühl quillt, zu verwirren, zu hemmen und zu unterdrücken, dagegen sich nachher, wenn die Handlung abgetan ist, der Gebrauch von ihr machen läßt, zu welchem sie dem Menschen eigentlich gegeben ist, nämlich sich dessen, was in dem Verfahren fehlerhaft und gebrechlich war, bewußt zu werden, und das Gefühl für andere künftige Fälle zu regulieren. Das Leben selbst ist ein Kampf mit dem Schicksal; und es verhält sich mit dem Handeln wie mit dem Ringen.

Der Athlet kann, in dem Augenblick, da er seinen Gegener umfaßt hält, schlechthin nach keiner anderen Rücksicht, als nach 4a_edited_editedbloßen augenblicklichen Eingebungen verfahren, und derjenige, der berechnen wollte, welche Muskeln er anstrengen, und welche Glieder er in Bewegung setzen soll, um zu überwinden, würde unfehlbar den kürzeren ziehen, und unterliegen. Aber nachher, wenn er gesiegt hat oder am Boden liegt, mag es zweckmäßig und an seinem Ort sein, zu überlegen, durch welchen Druck er seinen Gegner niederwarf, oder welches Bein er ihm hätte stellen sollen, um sich aufrecht zu erhalten. Wer das Leben nicht, wie ein solcher Ringer, umfaßt hält, und tausendgliedrig, nach allen Windungen des Kampfs, nach allen Widerständen,14a_edited Drücken, Ausweichungen und Reaktionen, empfindet und spürt, der wird, was er will, in keinem Gespräch durchsetzen; viel weniger in der Schlacht.”
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Heinrich von KleistSämtliche Werke und BriefeMünchen 1965, Bd. II, S. 337f.



Dienstag, 12. Januar 2016

Begriffsfetisch.


Bura, Niger Valley

Der springende Punkt beim Begriff ist nicht, wie scharf er definiert wurde, sondern wie weit er wann und unter welchen Bedingungen gilt.

Darüber kann er freilich selber keine Auskunft geben. Man kann es nur aus der Distanz beurteilen.






Montag, 11. Januar 2016

Faktenfetisch?


provetextures

In der französischen Kunstkritik ist mir unlängst die hübsche Wortschöpfung faitiche begegnet: eine Verbin-dung von fétiche – Fetisch – mit fait Tat-Sache. Das Wortspiel ist aber weniger geglückt, als seine Schöpfer dachten. Denn der Fetisch besteht darin, dass die Fakten vorderhand als ihren Begriffen unterstellt gedacht werden; aber gewiss nicht darin, dass sie als getane Sachen durchschaut würden.