Der logische Schein, der in der bloßen Nachahmung der Vernunftform besteht (der Schein der Trug-schlüsse), entspringt lediglich aus einem Mangel der Achtsamkeit auf die logische Regel. So bald daher diese auf den vorliegenden Fall geschärft wird, so verschwindet er gänzlich. Der transzendentale Schein dagegen hört gleichwohl nicht auf, ob man ihn schon aufgedeckt und seine Nichtigkeit durch die transzen-dentale Kritik deutlich eingesehen hat. (Z.B. der Schein in dem Satze: die Welt muß der Zeit nach einen Anfang haben.) Die Ursache hievon ist diese: daß in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Er-kenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das An-sehen objektiver Grundsätze haben, und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer ge-wissen Verknüpfung unserer Begriffe, zu Gunsten des Verstandes, für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten / wird. Eine Illusion, die gar nicht zu vermeiden ist, so wenig als wir es vermeiden können, daß uns das Meer in der Mitte nicht höher scheine, wie an dem Ufer, weil wir jene durch höhere Lichtstrahlen als diese sehen, oder, noch mehr, so wenig selbst der Astronom verhindern kann, daß ihm der Mond im Aufgange nicht größer scheine, ob er gleich durch diesen Schein nicht betrogen wird.
Die transzendentale Dialektik wird also sich damit begnügen, den Schein transzendenter Urteile aufzu-decken, und zugleich zu verhüten, daß er nicht betriege; daß er aber auch (wie der logische Schein) sogar verschwinde, und ein Schein zu sein aufhöre, das kann sie niemals bewerkstelligen. Denn wir haben es mit einer natürlichen und unvermeidlichen Illusion zu tun, die selbst auf subjektiven Grundsätzen beruht, und sie als objektive unterschiebt, anstatt daß die logische Dialektik in Auflösung der Trugschlüsse es nur mit einem Fehler, in Befolgung der Grundsätze, oder mit einem gekünstelten Scheine, in Nachahmung dersel-ben, zu tun hat. Es gibt also eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in die sich etwa ein Stümper, durch Mangel an Kenntnissen, selbst verwickelt, oder die irgend ein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhin-tertreiblich anhängt, und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird, ihr vorzugaukeln, und sie unablässig in augenblickliche Verirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedürfen.
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 309f.
Nota. - Dialektik war zweitausend Jahre lang eines von vielen Kunstwörtern der Schulphilosophie, und kein besonders populäres: fast ein Schimpfwort. Im vergangenen Jahrhundert wurde es zu einer bewaff-neten Macht, die das geistige Leben des halben Erdballs lähmte. Sie war das Herzstück von Stalins Dia-lektischem Materialismus alias Wissenschaftliche Weltanschauung, und während man bei Materialismus immer noch ein paar sichere Anhaltspunkte fand, um zu verstehen, was gemeint war, war man bei Dialektik vor keiner Überraschung sicher. "Das ist undialektisch" oder "Das muss man dialektisch sehen" war der arkanische Zauberspruch, der alles Gültige auf den Kopf stellen konnte und äußerstenfalls über Leben oder Tod entschied.
Der Höhenflug des Wortes begann recht bescheiden bei Kant. Dessen neuer Wortgebrauch war unsicher, teils klang im dialektischen bzw. transzendentalen Schein die alte Abwertung nach, teils sollte aber trans-zendentale Dialektik künftig gerade zum Instrument der Zerstreuung des Scheins gemacht werden.
Während in der Kritik der reinen Vernunft - siehe oben - der "Schein", nämlich dass sich aus bloßen Opera-tionen mit Begriffen reale Erkenntnis konstruieren lasse, noch als ein unvermeidliches Naturrisiko des Ver-standesgebrauchs dargestellt wird, hat zum Zeitpunkt, als die Vorlesungen über Logik im Druck erschienen, die Kritik ihre Wirkung schon getan, und der Schein wird als durch sie vermeidbar dargestellt: Dialektik wird zum Reinigungsmittel des Verstandes, doch nicht als abgeschlossene Lehre, sondern immer nur in processu.
Die Karriere eines Wortes vom Inbegriff der Kritik zur größten intellektuellen Mystifikation aller Zeiten war da noch nicht abzusehen.
JE
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