J. G. Fichte
Ich, das Absolute
Vor 250 Jahren wurde der Philosoph Johann Gottlieb Fichte geboren. Es lohnt, den riskanten Klassiker wiederzuentdecken. 

von Thomas Meyer

Die Akte "Johann Gottlieb Fichte" kann, nachdem sie vor 250 Jahren am 19. Mai 1762 mit dessen Geburt in Rammenau eröffnet wurde, nunmehr geschlossen werden – jedenfalls dann, wenn es nach dem in Boston lehrenden Philosophiehistoriker Manfred Kühn geht. Der zu Recht viel gelobte Biograf Immanuel Kants fällt am Ende seiner neuen Studie folgenden Richterspruch: "Das Urteil der Geschichte ist eindeutig: Fichte hatte einen unheilvollen Einfluss auf die deutsche Geschichte. Allen Beschönigungsversuchen zum Trotz muss er als einer der Vorväter zum unseligen deutschen Nationalismus gelten und spielt damit auch eine Rolle in der Entstehung des Nationalsozialismus." Bei allem Talent, das Fichte gehabt habe: Mehr als die Rolle des "Vermittlers zwischen Kant und Hegel" und eine "hervorragende Inspiration für Romantiker und Transzendentalisten" könne ihm nicht zugestanden werden. Das ist eindeutig. Aber ist es auch richtig?

Bevor man diese Frage beantwortet, sollte man auf die Fakten schauen. Fichtes Werke und Korrespondenzen umfassen in der kritischen Edition der Bayerischen Akademie der Wissenschaft 42 Bände. Zudem wurden in separaten Veröffentlichungen zeitgenössische Besprechungen und Kommentare zugänglich gemacht. Die im Verlag Frommann-Holzboog erschienenen Schriften stellen nicht nur ein Dokument herausragender Editionsphilologie dar, sondern liefern tatsächlich das erste Gesamtbild eines deutschen Klassikers im 18. und 19. Jahrhundert. Gewiss, das ist keine Totalrevision des Fichte-Bildes in der Ideengeschichte, doch damit werden erst mal die Besonderheiten seines Leben-Werk-Zusammenhanges umfassend wahrnehmbar.


Dass dem jungen Fichte der Aufstieg aus dem Bandweber-Milieu in der Oberlausitz an die Bildungsanstalt Schulpforta gelingt, ist zunächst nichts Besonderes. Er studiert Theologie und erleidet die üblichen Qualen eines Hofmeisters, die ihn nach Leipzig, Zürich, Warschau und an andere Orte treiben. Als Fichte dann 1792 den Versuch einer Kritik aller Offenbarung anonym veröffentlicht (und man kurze Zeit Kant für den Autor hält), scheint der erste Schritt in die bürgerliche Gelehrtenexistenz getan. Im Jahr darauf heiratet er Johanne Rahn, alles scheint in geordnete Bahnen überzugehen.

Doch Fichte entwickelt früh einen merkwürdigen Eigensinn, der sich weder durch die Wechselfälle seines Lebens noch durch seinen Charakter erklären lässt. Denn wie soll man Fichtes Unterstützung der Französischen Revolution (1793), seine grundstürzende Transformation der Kantischen Vernunftkritik in der Wissenschaftslehre (1794/95) und schließlich den "Streit" über die Bedeutung von Religion und Atheismus – wie soll man all das als Werk ein und desselben Autors verstehen?

Aber das ist nur der Anfang. Mit größter Aufmerksamkeit beobachtet Fichte die Bewegungen in Literatur, Philosophie , Theologie und Staatswissenschaften und verknüpft sie mit realgeschichtlichen Umbrüchen seiner Zeit. Dabei entsteht eine Vielzahl sogenannter populärwissenschaftlicher Schriften, die sich an ein gebildetes Publikum wenden. Zudem schreibt Fichte seine Wissenschaftslehre fort, um sie 1804 letztmalig der Öffentlichkeit vorzustellen. Dabei nimmt er die Herausforderungen an, die sich durch Schellings Systementwürfe, die unter dem Stichwort "Naturphilosophie" auftraten, ergeben haben.

Damit nicht genug. Fichte machte sich daran, die beiden Sphären von "Wissenschaftslehre" und "populären" Gegenwartsanalysen miteinander zu verbinden. In einem 1807 veröffentlichten Aufsatz über Machiavelli verschob er kunstvoll seine Geschichtsphilosophie in die Richtung eines neuen Verständnisses der Beziehung zwischen Theorie und Praxis, beide bildeten fortan eine denknotwendige Einheit für ihn. Für Fichte lautete die entscheidende Frage, wie die Philosophie ihre Verantwortung gegenüber dem Einzelnen, der Gesellschaft und der Menschheit wahrnehmen und sich ihnen gegenüber rechtfertigen kann. Philosophie versteht sich für Fichte nicht von selbst. Man kann sie nicht einfach erlernen, sondern sie verdankt sich, wie bei Plato, einer "Erleuchtung". Damit hob Fichte die Philosophie, oder wie er sagte: die "Wissenschaftslehre", allerdings in problematische metaphysische Höhen. Er machte sie zu einem Hochrisikoprojekt, dessen mögliches Scheitern im Moment des Denkens reflektiert werden muss.

Dieses uns heute fremd erscheinende Unterfangen vollzog sich inmitten aufregender Kontroversen. Fichte stand in einer Konstellation, deren verwirrende Vielschichtigkeit uns auch heute noch Rätsel aufgibt. Zwischen Weimar, Jena, Berlin, Königsberg, Göttingen und vielen anderen Orten gehen Briefe, Traktate, Bücher hin und her; ihre Autoren schauen parallel auf das Absolute und auf Napoleon, auf das Paradox, das Fragment und auf Gott. Die Deutungskonkurrenzen entzünden sich dabei stets am Höchsten, Prinzipiellen, auch die sogenannten "Vermittler" können ihre eigenen Interessenlagen im Kampf um die Wahrheit nicht verbergen.
Seite 2/2:
 
Fichte war ausdrücklich ein Kind seiner Zeit

Fichte spielte damals ein raffiniertes Spiel mit der Öffentlichkeit. Er ließ seine metaphilosophischen Überlegungen als "ungeschriebene Lehre" nur unter Studenten kursieren und lieferte gleichzeitig ununterbrochen Kostproben seiner Gegenwartsanalysen. Wie er dabei Philosophie und Gegenwartsanalyse zusammenbrachte, das versetzte bereits die Zeitgenossen in Rage. Doch Wolfgang Janke hat in seinem wichtigen Buch Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus (2009) gezeigt, dass Fichte damit die entscheidende Alternative zu den Systemen Hegels und Schellings formulierte – von bloßer "Vermittlung" kann also keine Rede sein. Und so wird Fichte bis zu seinem Tod im Januar 1814 in Berlin zwanzig Jahre lang an einer neuen Idee von Philosophie gearbeitet haben, einer Philosophie, die sich als eine umfassend begründete Kenntnis von Ich und Welt verstand.

Bei allem Vorbehalt: Man muss all diese von Kant bis Schopenhauer sich ablösenden, transzendentalphilosophischen, romantischen und letztlich mystischen Gedankengebäude zumindest für einen Moment ernst nehmen; man sollte den ungeheuerlichen Variationsreichtum intellektueller Fantasie nicht sogleich als weltfremde Hybris verwerfen, sondern sie als Ringen mit den Zeitläuften mitsamt ihren Abgründen als ungeheure Umwälzung erkennen. Und mag man die Beteiligten als "heroische" oder "wilde" Denker ruhigstellen wollen, ihren Provokationen, die vor keinerlei Schranken und Gesetzen haltmachen, entkommt man damit nicht. Vielmehr muss man sich eingestehen, dass ein Ordnungsschema, geschweige denn eine angemessene rekonstruierende Sprache für die Abenteuer des Geistes, bislang noch nicht gefunden wurde. Aber immerhin: Einen Wegweiser durch Fichtes Positionendschungel haben jetzt Walter Jaeschke und Andreas Arndt vorgelegt. Es ist eine Studie, die in ihrer Konzentration auf die Debatten um den "System"-Begriff einen lebendigen Eindruck von den längst nicht erledigten Fragen und Antworten der Reinholds, Schlegels, Maimons und all der anderen vermittelt.

Fichte, dies bleibt festzuhalten, war ausdrücklich ein Kind seiner Zeit und konnte sich doch nicht damit beruhigen, von aller transhistorischen Wahrheit abgeschnitten zu sein. Schon damals hat man sich über seine Mischung aus Weltbezogenheit und Weltfremdheit gewundert und zugleich die spekulative Kraft gelobt, die sich zunächst an einem absoluten, später dann relativen "Ich" entzündete. Seine herablassenden Urteile über andere Philosophen hat man allerdings schon damals nicht verstanden. Vor allem an den Reden zur deutschen Nation von 1807/08 entzünden sich bis heute Diskussionen. Sind diese Schriften letztlich, wie andere Äußerungen über Juden, Teil eines Antisemitismus, der im Vernunftbegriff liegt? Oder, wie Manfred Kühn sogar meint, ein Fingerzeig hin zum nationalsozialistischen "Generalplan Ost"? Oder doch in allererster Linie Teil eines nur schattenhaft bekannten, komplexen philosophisch-rhetorischen Werkes, in dem gelegentlicher krasser Nationalismus und Kosmopolitismus untrennbar nebeneinander stehen? Von einem eindeutigen Urteil, gefällt gar von der "Geschichte", kann keine Rede sein, und die Werkedition stellt hier alle vor neue Herausforderungen.

Aber man sollte trotzdem – oder jetzt erst recht – Kühns Buch lesen, das trotz einer gelegentlich auf die Nerven gehenden Nörgelei sicherlich die autoritative Fichte-Biografie in deutscher Sprache darstellt. Am besten tut man es zusammen mit dem solide informierenden Buch des bedeutenden Idealismus-Forschers Wilhelm G. Jacobs, der sehr umsichtig dieses schwierige Terrain zugänglich macht. Anders als Kühn konzentriert sich Jacobs auf Fichte in seiner Zeit; er versteht es, dem Leser nicht nur die Plausibilität der "Wissenschaftslehren" vor Augen zu führen, sondern behutsam die philosophischen Sprachen des 19. Jahrhunderts zu übersetzen.

Kurzum, wer den "ganzen Fichte" haben möchte, dem stehen im Jubiläumsjahr ebenso anregende wie herausfordernde Lektüren ins Haus. Johann Gottlieb Fichte, daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen, ist in unserer Öffentlichkeit noch gar nicht angekommen. Wir dürfen gespannt sein, wie man mit seiner "Lehre" umgeht.


Nota.

Ich für mein' Teil empfehle Ihnen, Fichte nicht nur "für einen Moment" ernstzunehmen. Ich bin der Auffassung, die Transzendentalphilosophie, die von Fichte, bevor er von ihr abfiel, auf den Punkt gebracht wurde, ihre kritische Aufgabe gerade in ihrem Hauptstück, nämlich der Anthropologie, noch gar nicht abgeschlossen hat; und dass sie im Allgemeinen ihrer Natur nach gar nicht abgeschlossen werden kann. 

Dass dies eine besondere Auffassung der Fichte'schen Philosophie voraussetzt, versteht sich von allein. 
JE