Seit
Galileo, Descartes und Newton ist der westliche Mensch überzeugt, mit
der Mathematik den Schlüssel der Natur in den Händen zu halten. Mehr als
das. Bei den Schwärmern wie den esoterischen Schmähern der Vernunft,
die alle halb Jahrhunderte Konjunktur haben, gilt die Mathematik als
deren ‘Paradigma’ und als Modell alles Logischen.
Und
tatsächlich haben Messen, Wägen, Zählen und Kalkül seither das Leben
der abendländischen Menschen erobert. War es der Geist der
mathematisierten Naturwis- senschaft, der die westlichen Gesellschaften
durchdrungen hat, oder war es vielmehr das Vordringen von Geld- und
Berechnungs-wesen in den Arbeitsalltag, das der mathematischen
Weltanschauung den Boden bereitet hat?
Das
17. und 18. Jahrhundert war das Zeitalter der großen metaphysischen
Systeme. Die mathematische Weltsicht ist allen gemeinsam:
Descartes-Malebranche, Spinoza, Leibniz-Wolff und
– nicht zu vergessen – Thomas Hobbes. Der Bedarf an Metaphysik war
akut. Die in blutigen Kriegen zerrissene Religion hatte aufgehört, den
Menschen Gewissheit und Orientierung zu geben. Die brauchten sie aber so
nötig wie nie. Wie die katholische Kirche war die ständische
Gesellschaftsordnung in den Grundfesten erschüttert. Das Bürgertum
schickte sich an, ihre Erbschaft anzutreten. Es suchte nach einer neuen,
eigenen Weltanschauung, in der sie ihre Wege vorgezeichnet finden und
ihre Taten gerechtfertigt finden konnte.
Der Zweck der Metaphysik ist nicht derjenige der Naturwissenschaft. Wenn sie nach dem Sein fragt, dann meint sie in Wahrheit dessen Sinn.
Den trägt sie aber heimlich schon lange in ihrer Brust:
Rechenhaftigkeit. Wenn es gelingt, das ureigne Wesen des ganzen großen
Universums als ein Rechenexempel
zu konstruieren; wenn es zugleich gelingt, daraus das Sosein eines
jeden Einzelnen als Bestand-Teil eines (’autopoietischen’, würde man
heute sagen) Systems herzuleiten – dann war es klar, dass
der Sinn im Einzelnen nur der Sinn des großen Ganzen sein kann.
‘Rationalität’ muss der Sinn der Welt sein, damit sie der Sinn des
Lebens sein kann.
Öffentlichkeit
ist das Feld, auf dem die Metaphysik gegen die Religion antritt. An die
Stelle der konfessionell reglementierten Universitäten treten
Gelehrtengesellschaften, die mit dem gebildeten Bürgertum in engster
Beziehung stehen, intellektuell und finanziell, und in der Druckerpresse
verfügen sie gegen die Kanzeln über eine mächtige Waffe. And die Stelle
der Autorität tritt das Argument.
Wenn
die Metaphysik nach dem Sein fragt, meint sie in Wahrheit seinen Sinn –
war das womöglich schon immer so? Damit hatte die Philosophie begonnen:
der Frage nach dem “wahren Sein”. Stand hinter der theoretischen Frage
‘Was ist?’ schon damals die praktische Frage ‘Was soll ich tun’?
Die
Philosophie im engeren Sinne beginnt mit dem Gegensatz von Heraklit und
Parmenides, dem Gegensatz von ewigem Werden und ewigem Sein; einer am
östlichen, der andre am westlichen Rand der hellenischen Welt. Mit ihnen
beginnt der Anfang vom Ende des mythischen Zeitalters.
Ein Beinahe-noch-Zeitgenosse war Sophokles in Athen, dem Zentrum.
Er überführte die Antigone aus dem Mythos in die Tragödie. Dort ist sie
nicht mehr bloßes Opfer ihres Schicksals, sondern wählt zwischen Altem
und Neuem Gesetz ihren Weg selber. Sie schwankt nicht wie Hamlet hin und
her, so modern ist sie nicht. Ihre Wahl steht von Anbeginn fest. Aber
modern ist: Es ist nicht die Zuflüsterung dieser oder jener Gottheit,
sondern sie ist es selber, die gewählt hat.
Sophokles
schrieb für die Öffentlichkeit des perikleischen Athen – in der Blüte
der attischen Demokratie, die angewiesen war auf den eigen-sinnigen polites;
den Bürger, der für seine Wahl mit allem einstand, das er hatte. Ohne
ihn hätte Athen den Pelepponesichen Krieg nicht überlebt. In der
Tragödie wird der Übergang vom Mythos zur Vernunft sinnfälliger als in
der Philosophie selbst. Die griechische Polis trug deutliche Züge einer
bürgerlichen Gesellschaft.
Dann
kamen das Römische Reich, die Völkerwanderung, der Verfall städtischer
Kultur und die Neugeburt Europas im Zeichen der Feudalität. Nicht die
Vernunft trat an die Stelle des Mythos, sondern die katholische Kirche.
Sie war so doppelsinnig wie das finstere, bunte, turbulente Mittelalter.
Zum einen war sie Dogma, aber zum andern lehrte sie, das Leben als eine
Pilgerfahrt aufzufassen, auf der man scheitern kann. Sie lehrte die
Menschen, auf ihr Gewissen zu achten – mehr, als es die antike Tragödie
vermocht hätte; und nur auf ihr Gewissen, wenn man es streng
nahm. Der Mensch, der im Mythos ein Spielball der Götter war, wurde im
christlichen Glauben zum verantwortlichen Subjekt, das sein Leben führen muss.
Und
als ihm die Pfaffen als Wegweiser suspekt wurden, musste ‘die Natur’
herhalten. Die Natur durchherrscht vom Logos, der Mensch ein Teil der
Natur, seine Vernunft ihr ureigenes Gesetz – das ist der Sinn der
Metaphysik. Ratio – reason, raison – heißt
Rechnung. Dieser ‘Sinn des Lebens’, des bürgerlichen Erwerbslebens, war
im Voraus längst “gefunden”, die Philosophie musste ihn nur noch
absegnen.Die
Gleichsetzung von Sinn und Sein gehört zu den naiven
Selbstverständlichkeiten unseres Denkens. Sie liegt vor aller Reflexion,
aller Überlegung, aller… Vernunft. Sie entstammt der kindlichen
Annahme, dass das, was da ist, da sein muss; dass das, was in der
Wirklichkeit geschieht, mit Notwendigkeit geschieht. Sich gegen das
Notwendige stellen ist sinnlos.
Sinn ‘gibt es’ nicht an und für sich. Es muss immer einer da sein, für den irgendwas
Sinn hat oder nicht. Und was kann das heißen: es hat für ihn Sinn? Es
heißt, dass irgendeine Entscheidung, die er zu treffen hat, davon
abhängt. Worüber kann ich entscheiden? Über das, was ich bin? Nein, über
das, was ich tue. Für mich hat all das Sinn, was ich bei meinen
Handlungsentscheidungen bedenken muss. Die Frage nach dem Sinn geht von
den lebenden Subjekten aus. Bevor wir sie den Dingen stellen, müssen wir
sie uns selber stellen. ‘Ich bin ein Teil der Natur und unterliege
ihrem Gesetz’ ist eine Antwort, bevor die Frage gestellt wurde. Sie
könnte falsch sein.
Die
Gleichsetzung von Sein und Sinn ist dasselbe wie die Gleichsetzung von
Logik und Naturgeschehen. Ihr gemeinsames Drittes ist die
“Notwendigkeit”.
Tatsächlich
stammt die Idee eines Notwen- digen nicht aus der Beobachtung der
Natur. Sie stammt aus der Erfahrung unseres Denkens: aus dem richtigen
Schlussfolgern. Aus zwei Voraussetzungen ist nur ein Schluss möglich,
nicht zwei oder drei. Und nur dieser! Das allein ist mit Notwendigkeit so.
Was immer wir in der Welt der Tatsachen beobachten mögen, können wir
per Analogie diesem logischen Modell der ‘hinreichenden Begründung’ nur
annähern. Dass in der Wirklichkeit ein Ereignis ‘mit Notwendigkeit’ aus
einem vorangegangenen Ereignis folgt, lässt sich nicht nur nicht
beobachten. Es lässt sich nicht einmal sagen, was wir uns darunter vorstellen sollen.
zurück: Ist die Welt logisch aufgebaut?
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