Der maskierte Philosoph
Dieser feine Ironiker und Verführer: Friedrich Nietzsche ist neu zu entdecken.
Zu
Lebzeiten ein nahezu Unbekannter, hatte Nietzsche nach seiner geistigen
Umnachtung im Jahre 1889 nicht nur immer mehr Jünger, sondern auch
prominente Leser. Die meisten versuchten sein Werk um einen zentralen
Begriff zu gruppieren: Karl Löwith etwa um die ewige Wiederkehr des
Gleichen, Martin Heidegger um die Lehre des Willens zur Macht, Gilles
Deleuze um Nietzsches Typologie der Figuren, vom Sklaven über den
Priester bis hin zum Übermenschen. Doch sie alle scheiterten auf ihre
Weise, denn Nietzsche lässt sich nicht systematisieren. Seine
angeblichen Lehren sind in Sommers Sichtweise nichts anderes als
«intellektuelle und existenzielle Experimente», die dieser unablässig
auf ihre Wirkung hin prüfte. Und die Wirkung war bemerkenswert.
Nietzsche hatte recht, als er in späten Jahren einmal schrieb, er sei
kein Mensch, sondern Dynamit.
Sommer,
als Herausgeber des kritischen Nietzsche-Kommentars der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften zweifellos einer der besten Kenner der
Materie, verwirft die in Handbüchern übliche Einteilung in verschiedene
Denkperioden. Vielmehr zeigt er, wie Nietzsches Gedanken seit jungen
Jahren um dieselben Themen kreisen. Stets geht es um philosophische
Selbstreflexion, die das eigene Ich zum Inhalt hat, um Kritik am
Christentum, um ein Lob des Mythos, um die Diagnostizierung einer
kulturellen Krise der Gegenwart, um eine Zurückführung alles Seienden
auf das Gewordensein, um einen Vorrang des Kulturalismus über jede Form
von Materialismus oder Metaphysik.
Nietzsche
arbeitete mit einer bewundernswerten Konsequenz an einer Befreiung des
Menschen, die zugleich seine eigene Befreiung meinte. An die Stelle des memento mori setzte er ein memento vivere,
das er einmal salbungsvoll beschreibt als «Neu-Anpflanzen,
Kühn-Versuchen, Frei-Begehren». Nietzsche war ein dilettierender Denker
erster Güte.
Die Karriere
Seine
Karriere als öffentlicher, wenn auch zunächst nicht gerade
öffentlichkeitswirksamer Intellektueller begann mit seiner
Philologie-Professur 1869 in Basel im zarten Alter von 25 Jahren. Kaum
hatte er sein Studium beim grossen Philologen Friedrich Ritschl in
Leipzig abgeschlossen, wurde er nach Basel berufen – dank Ritschls
Vermittlung, doch ohne Promotion. Nietzsche fühlte sich nie wirklich
wohl in Basel. Bereits 1876 nahm er ein Jahr Urlaub, und 1879 quittierte
er den Dienst, wobei ihm eine Pension in der Höhe von zwei Dritteln des
Professorengehalts zugesprochen wurde. Damit liess sich leben – und
reisen. Nietzsche liess fortan alles Akademische hinter sich. Er wurde
zum philosophischen Grenzgänger und Könner der aphoristischen Form.
Sommer
zeichnet mit viel Witz nach, wie Nietzsche sich als eine Art
Fortsetzungsschriftsteller betätigte. 1878 legt er mit «Menschliches,
Allzumenschliches» ein Werk vor, das kaum rezipiert wird – im ersten
Jahr werden bloss 120 Exemplare verkauft. Er plant Neuauflagen mit neuen
Anhängen und Vorworten, daraus gehen neue Werke hervor, die ebenfalls
Ladenhüter bleiben. Von der «Morgenröte» über die «Fröhliche
Wissenschaft» bis hin zu «Also sprach Zarathustra» und «Jenseits von Gut
und Böse» – Nietzsche probiert immer wieder neue Denkexperimente und
Schreibstile aus, denen der kommerzielle Erfolg versagt bleibt. Halbwegs
erfolgreich ist erst das im Jahre 1888 erschienene Buch «Der Fall
Wagner», in dem er mit dem einst verehrten Musikgenie abrechnet. Dieser
Umstand dürfte Nietzsche nicht nur wegen des Inhalts gefreut haben, denn
das Werk hatte er auf eigene Rechnung publiziert.
Die Versuchung
Zehn
Jahre lang schreibt Nietzsche unentwegt, und stets geht es um Alles
oder Nichts, um die ersten und letzten Dinge. Er macht sich lustig über
die grossen Begriffe wie Wahrheit, Gott und Gerechtigkeit. Doch will er
nicht als Erkenntnistheoretiker deren Inexistenz beweisen, sondern als
Ironiker zeigen, wie langweilig, unnütz und sinnlos der Glaube daran
ist. Zugleich formuliert er in einer philosophischen Gegenbewegung
eigene Mythologeme wie die «ewige Wiederkehr des Gleichen» oder die
«Umwertung aller Werte», um so die entstandene Lücke zu füllen. Er
propagiert sie allerdings nicht im Sinne metaphysischer Lehren, sondern
als neue fiktive Deutungsangebote, zu denen er sich selbst und seine
Leser verführen will.
Nietzsche
hat die neuen Philosophen einmal als «Versucher» charakterisiert, als
jene, die Versuche wagen und in Versuchung führen. Darin besteht nach
Sommer Nietzsches Novum. Er ist kein Metaphysiker, sondern ein Spieler.
Zu diesem Behuf erfindet er ein Schreiben, das sich seine Leser erst
erschafft. Er verfährt – je nach eigenem Gestimmtsein – appellierend,
mobilisierend und agitierend. Und jeder Leser darf sich nehmen, was ihm
passt.
Zuletzt ist
Nietzsche, der in seinen schriftlich fixierten Selbstgesprächen sich
auch selbst immer wieder überrascht und verführt, vollständig von sich
eingenommen. Der experimentelle Philosoph hat sich durch seine
Sprachspiele gewissermassen selbst hypnotisiert und ist zu seinem
eigenen Schüler geworden – er nimmt das Geschriebene für bare Münze. Das
ist zugleich der Moment, in dem er im Januar 1889 vom Wahnsinn
übermannt wird.
Sein
Denken kommt damit an sein Ende. Die Rezeption aber beginnt erst. Und
sie hält bis heute an. Andreas Urs Sommer zeigt in seinem ebenso
kundigen wie vergnüglichen Werk, warum der Philosoph mit dem Schnauzbart
zugleich er selbst war – und doch immer auch ein anderer gewesen sein
wird.
Andreas Urs Sommer: Nietzsche und die Folgen. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2017. 208 S., Fr. 26.90.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen