Mittwoch, 20. Dezember 2017

Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.

aus nzz.ch, 19.12.2017, 05:30 Uhr

Der maskierte Philosoph
Dieser feine Ironiker und Verführer: Friedrich Nietzsche ist neu zu entdecken. 

von René Scheu 

Friedrich Nietzsche, das ist der Philosoph mit dem Schnauzbart. So inszenierte er sich auf den Fotografien, die überliefert sind. Mit wuchernder Haarpracht mitten im Gesicht wollte er der Nachwelt in Erinnerung bleiben. Dieses eine, immer wieder variierte und auf merkwürdige Weise gleichsam alterslose Konterfei des Denkers prägt die Wahrnehmung bis heute. Was aber wollte der Philosoph uns Nachgeborenen mit dieser Selbststilisierung übermitteln: seine Radikalität, seine Männlichkeit, seine Entschlossenheit oder – kompensatorisch – seine Schüchternheit? 

Wer so fragt, muss die Pointe verfehlen. Nietzsche war ein Meister des Hinterfragens, das er selbst einmal als besondere Kunst des Lesens charakterisierte: «Bei allem, was ein Mensch sichtbar werden lässt, kann man fragen: was soll es verbergen?» Indem Nietzsche das eine Gesicht zur Schau stellte, versteckte er hinter seinem Schnauzbart die vielen Gesichter, die er in seinen Schriften vor seinem Publikum ausbreitete. Nietzsche als Virtuose der Masken, des Spiels, des Experiments – als feiner Ironiker, der seine Leser ebenso herausfordert wie sich selbst: Das ist der Nietzsche, der auch über hundert Jahre nach seinem Tod noch zu entdecken bleibt. Und so führt ihn uns der Schweizer Philosoph Andreas Urs Sommer in seiner neuen Einführung vor. 

Memento vivere

Zu Lebzeiten ein nahezu Unbekannter, hatte Nietzsche nach seiner geistigen Umnachtung im Jahre 1889 nicht nur immer mehr Jünger, sondern auch prominente Leser. Die meisten versuchten sein Werk um einen zentralen Begriff zu gruppieren: Karl Löwith etwa um die ewige Wiederkehr des Gleichen, Martin Heidegger um die Lehre des Willens zur Macht, Gilles Deleuze um Nietzsches Typologie der Figuren, vom Sklaven über den Priester bis hin zum Übermenschen. Doch sie alle scheiterten auf ihre Weise, denn Nietzsche lässt sich nicht systematisieren. Seine angeblichen Lehren sind in Sommers Sichtweise nichts anderes als «intellektuelle und existenzielle Experimente», die dieser unablässig auf ihre Wirkung hin prüfte. Und die Wirkung war bemerkenswert. Nietzsche hatte recht, als er in späten Jahren einmal schrieb, er sei kein Mensch, sondern Dynamit.

Sommer, als Herausgeber des kritischen Nietzsche-Kommentars der Heidelberger Akademie der Wissenschaften zweifellos einer der besten Kenner der Materie, verwirft die in Handbüchern übliche Einteilung in verschiedene Denkperioden. Vielmehr zeigt er, wie Nietzsches Gedanken seit jungen Jahren um dieselben Themen kreisen. Stets geht es um philosophische Selbstreflexion, die das eigene Ich zum Inhalt hat, um Kritik am Christentum, um ein Lob des Mythos, um die Diagnostizierung einer kulturellen Krise der Gegenwart, um eine Zurückführung alles Seienden auf das Gewordensein, um einen Vorrang des Kulturalismus über jede Form von Materialismus oder Metaphysik.

Nietzsche arbeitete mit einer bewundernswerten Konsequenz an einer Befreiung des Menschen, die zugleich seine eigene Befreiung meinte. An die Stelle des memento mori setzte er ein memento vivere, das er einmal salbungsvoll beschreibt als «Neu-Anpflanzen, Kühn-Versuchen, Frei-Begehren». Nietzsche war ein dilettierender Denker erster Güte.

Die Karriere

Seine Karriere als öffentlicher, wenn auch zunächst nicht gerade öffentlichkeitswirksamer Intellektueller begann mit seiner Philologie-Professur 1869 in Basel im zarten Alter von 25 Jahren. Kaum hatte er sein Studium beim grossen Philologen Friedrich Ritschl in Leipzig abgeschlossen, wurde er nach Basel berufen – dank Ritschls Vermittlung, doch ohne Promotion. Nietzsche fühlte sich nie wirklich wohl in Basel. Bereits 1876 nahm er ein Jahr Urlaub, und 1879 quittierte er den Dienst, wobei ihm eine Pension in der Höhe von zwei Dritteln des Professorengehalts zugesprochen wurde. Damit liess sich leben – und reisen. Nietzsche liess fortan alles Akademische hinter sich. Er wurde zum philosophischen Grenzgänger und Könner der aphoristischen Form.

Sommer zeichnet mit viel Witz nach, wie Nietzsche sich als eine Art Fortsetzungsschriftsteller betätigte. 1878 legt er mit «Menschliches, Allzumenschliches» ein Werk vor, das kaum rezipiert wird – im ersten Jahr werden bloss 120 Exemplare verkauft. Er plant Neuauflagen mit neuen Anhängen und Vorworten, daraus gehen neue Werke hervor, die ebenfalls Ladenhüter bleiben. Von der «Morgenröte» über die «Fröhliche Wissenschaft» bis hin zu «Also sprach Zarathustra» und «Jenseits von Gut und Böse» – Nietzsche probiert immer wieder neue Denkexperimente und Schreibstile aus, denen der kommerzielle Erfolg versagt bleibt. Halbwegs erfolgreich ist erst das im Jahre 1888 erschienene Buch «Der Fall Wagner», in dem er mit dem einst verehrten Musikgenie abrechnet. Dieser Umstand dürfte Nietzsche nicht nur wegen des Inhalts gefreut haben, denn das Werk hatte er auf eigene Rechnung publiziert.

Die Versuchung

Zehn Jahre lang schreibt Nietzsche unentwegt, und stets geht es um Alles oder Nichts, um die ersten und letzten Dinge. Er macht sich lustig über die grossen Begriffe wie Wahrheit, Gott und Gerechtigkeit. Doch will er nicht als Erkenntnistheoretiker deren Inexistenz beweisen, sondern als Ironiker zeigen, wie langweilig, unnütz und sinnlos der Glaube daran ist. Zugleich formuliert er in einer philosophischen Gegenbewegung eigene Mythologeme wie die «ewige Wiederkehr des Gleichen» oder die «Umwertung aller Werte», um so die entstandene Lücke zu füllen. Er propagiert sie allerdings nicht im Sinne metaphysischer Lehren, sondern als neue fiktive Deutungsangebote, zu denen er sich selbst und seine Leser verführen will.

Nietzsche hat die neuen Philosophen einmal als «Versucher» charakterisiert, als jene, die Versuche wagen und in Versuchung führen. Darin besteht nach Sommer Nietzsches Novum. Er ist kein Metaphysiker, sondern ein Spieler. Zu diesem Behuf erfindet er ein Schreiben, das sich seine Leser erst erschafft. Er verfährt – je nach eigenem Gestimmtsein – appellierend, mobilisierend und agitierend. Und jeder Leser darf sich nehmen, was ihm passt.

Zuletzt ist Nietzsche, der in seinen schriftlich fixierten Selbstgesprächen sich auch selbst immer wieder überrascht und verführt, vollständig von sich eingenommen. Der experimentelle Philosoph hat sich durch seine Sprachspiele gewissermassen selbst hypnotisiert und ist zu seinem eigenen Schüler geworden – er nimmt das Geschriebene für bare Münze. Das ist zugleich der Moment, in dem er im Januar 1889 vom Wahnsinn übermannt wird.

Sein Denken kommt damit an sein Ende. Die Rezeption aber beginnt erst. Und sie hält bis heute an. Andreas Urs Sommer zeigt in seinem ebenso kundigen wie vergnüglichen Werk, warum der Philosoph mit dem Schnauzbart zugleich er selbst war – und doch immer auch ein anderer gewesen sein wird.

Andreas Urs Sommer: Nietzsche und die Folgen. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2017. 208 S., Fr. 26.90.



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