Dienstag, 22. August 2017

Vom Wege abgekommen.

sigrid rossmann  / pixelio.de

Nicht nur meine ich wirklich, dass Fichte konsequenterweise die notwendige Idee des Wahren und Absoluten als eine ästhetische Fiktion hätte erkennen sollen. Ich meine sogar, dass er sich bereits auf diesen Weg begeben hatte und dass es der Atheismusstreit war, der ihn stattdessen auf den Abweg der spekulativen Metaphysik verführt hat.

Jacobi hatte Recht, ihn an seine Herkunft aus dem Spinozismus zu erinnern: Der Gedanke an die Vernunft als deus sive natura mag in seinem Hinterkopf ebenso gegeistert haben wie in Kants 'Ding-an-sich' die Leibniz'schen Monaden. Jener hatte lange geschwankt, ob er das Ding an sich mehr als ein Reale oder doch mehr als bloßes Noumenon auffassen sollte, und erst im Opus postumum scheint er sich ganz vom Realismus zu lösen. Bei Fichte dagegen standen praktischer Aktivismus und logischer Aktualismus ganz im Vordergrund, aller Gedanke an ein Sein-an-Sich war ihm ein Gräuel. Aber das war vor dem 18. Brumaire.* Das war vor dem Ende der Revolution und vor dem Ende der Jenaer Romantik. 

Und vor dem Atheismusstreit.

Im Streit um den Aufsatz Über Geist und Buschstab in der Philosophie, in dem er das Ästhetische als eine Art Vorraum der Vernunft darstellte und den Schiller nicht in seine Zeitschrift Horen aufgenommen hatte, schrieb Fichte, wie weit er den Begriff des Ästhetischen fasse, könne jener sich nicht einmal vorstellen.** "Nur der Sinn für das Ästhetische ist es, der in unserem Innern uns den ersten festen Standpunkt gibt", hatte es dort geheißen.*** Noch in der Sittenlehre° schreibt er: "Ästhetischer Sinn ist nicht Tugend: denn das Sittengesetz fordert Selbständigkeit nach Begriffen, der erstere aber kommt ohne alle Begriffe von selbst. Aber er ist Vorbereitung zur Tugend, er bereitet ihr den Boden, und wenn die Moralität eintritt, so findet sie die halbe Arbeit, die Befreiung aus den Banden der Sinnlichkeit, schon vollendet. Ästhetische Bildung hat sonach eine höchst wirksame Beziehung auf die Beförderung des Vernunftzwecks."

Das ist bloß eine empirische, "historische" Beschreibung, keine Transzendentalphilosophie. Aber wir wissen heute,°° dass Fichte immer wieder - bis zum Atheismussteit! - den Plan fasste, seine Gedanken zu einer systematische Ästhetik auszubauen, und wohl nur durch dringendere Geschäfte davon abgehalten wurde.

Bis zum Atheismusstreit, wohlbemerkt. In den Rückerinnerungen taucht dann der bizarre Einfall eines "intellektuellen Gefühls" auf, den er unter Jacobis Einfluss gleich wieder fallen lässt. Doch hätte er den Gedanken ausgearbeitet - ich zweifle nicht daran, dass er jenes 'intellektuelle Gefühl' als ein ästhetisches Urteil hätte identifizieren müssen.

*) am 9. 11. 1799; 
**) Fichte an Schiller, 27. 7. 1795; in: Fichte, Briefe, Bln. (O) 1986, S. 154; desgl.
in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971, S. XXXVII
***) Über Geist und Buchstab in der Philosophie, SW VII, S. 291
°) System der Sittenlehre [1798] SW IV, S. 354f.
°°) Giorgia Cecchinato, Fichte und das Problem einer Ästhetik, Würzburg 2009




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