Montag, 28. August 2017

Sinnliche und geistige Gefühle; leiden und handeln.



Nämlich in allen Menschen entstehen Vorstellungen nur durch Gefühle und durch die schaffende Einbildungkraft. Unter diesen Gefühlen aber ist ein großer Unterschied. - Einige beziehen sich nur auf das animalische sinnliche Leben des Menschen usw., andere auf sein höheres geistiges Leben, auf seine Vorstellungen pp, die er freilich nur galubt, aus Gründen, die sich sogleich zeigen werden.

Zur Erhebnung aller [Gefühle - sinnlicher und geistiger] z. B. gehört Selbsttäigkeit. - Kein geistiges Wesen ist in irgend einer seiner Verrichtungen bloß leidend, oder es ist kein geistiges Wesen. Alle Hypothesen und alle Philosophen, die so etwas voraussetzen, verstehen sich selbst nicht, oder sie stehen in dem größten Widerspruche mit sich selbst: Sie erweisen und räsonnieren, dass sie garnicht räsonnieren können. - 

Ein Wesen kann nicht geistig und körperlich zugleich sein; was einmal und in einer einzigen Handlung sich bloß leidend verhält, verhält sich durch gäng-/gig bloß leidend. Aber bei den ersten [=den sinnlichen Gefühlen] bekommt die Selbsttätigkeit eine Veranlassung unmittelbar [sic] von außen, sie steht unter der Bedingung von etwas, das dem Ich entgegengesetzt wird (denn es versteht sich, dass ich nicht von etwas Äußern und Innern an sich und unabhängig von unsrer Vorstellung reden kann; wie könnte ich davon reden, ohne es vorzustellen?)

Zur Erhebung der letzten [der geistigen] Gefühle bekommt sie den Trieb gar nicht mittelbar von außen, sondern sehr unmittelbar, und die Bestimmung der Einbildungskraft ist ganz durch absolute Freiheit von innen. - Es ist nicht ein Gefühl von irgend einem Anstoße von außen, sondern von unsrer eignen Handlungsweise auf diesen Anstoß. - Von unserm Handeln, unserm eignen Sein unter der Bedingung ... überhaupt gar nicht auf unser Leiden, sondeern auf unser Handeln beziehen sie sich.

Kein Mensch ist an sich ohne Handeln, kein Mensch könnte es sein. - Der Mensch ist schlechthin handelndes Wesen, darinnen liegt der Grund seines ganzen Seins - und alles Vorstellen gründet sich auf Handeln. In Jedem also liegen die Gefühle des Handelns da. 

Aber es ist zugleich wahr, dass unter den Menschen, wie sie gegenwärtg sind, nur die wenigstgen sich zum Bewusstsein dieses Ihres Handelns, zum Handeln auf dieses Handeln selbst erheben. Auf Handeln selber aber kann nur durch absolute Freiheit gehandelt werden. Einige Menschen aber sind nicht frei.

Es sind alle Bedingungen der Freiheit da: die Gefühle sind da, die Kraft ist da, aber nicht die Anwendung, und so leben wir wie ganz verschiedne Menschenklassen; nicht der Anlage nach, aber der Wirklichkeit nach.
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 J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie; Eerster Entwurf" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 130f. 



Nota I. -
'Der Mensch ist schlechthin handelndes Wesen': Zuerst einmal handelt es sich bei den Prolegomena samt und sonders um anthropologische Voraussetzungen des Gesamtsystems der Wissenschaftlehre; sie werden an dieser Stelle postuliert, und wenn alles gut geht, werden sie im Verlauf der Arbeit am System rückwirkend 'bestätigt'. Doch nicht in jedem Punkt: Die Unterscheidung zwischen sinnlichen und 'geistigen' Gefühlen wird im Verlauf verwendet - das erweist ihre Brauchbarkeit; aber begründet wird sie dadurch eben nicht.

Immerhin wird hier in den Vorbemerkungen aber deutlich, woher sie stammt. Der Obersatz lautet, Gefühle kämen nur durch Handeln zustande. Es gibt reales und geistiges Handeln, "folglich" erzeuge das geistige Handeln ebenso Gefühle wie des reale. Folglich ist nichts daran. Mein wirkliches Handeln = Handeln in der Wirklichkeit ist stets vermittelt durch den artikulierten Teil meines Leibes. Das Gefühl meldet sich 'folglich' im Leib, wer kennte das nicht! - Dass er das 'Gefühl', beim Denken dieser oder jener Sache "nicht anders zu können", als so und so zu verfahren; wenn er also das Erlebnis des "Denkzwangs" eben falls ein Gefühl nennt, ist eine Analogie und kein Begriff.

Nota II. - Da steht nicht: Alle Gefühle gehen auf Handlungen zurück, und daraus entstehen Vorstellungen. So hat er's vielleicht gemeint, aber geschrieben hat er doch nur: Vorstellungen entstehen aus Gefühlen, die auf Handlungen zurückgehen. Wenn mich eine Wespe sticht, fühle ich das, aber wenn ich Glück habe, kann ich es ignorieren.
JE




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