Mittwoch, 23. August 2017
Geist und Buchstaben.
Die neue Reihe der Dinge, in die wir eingeführt werden sollen, ist die der Handlungen des menschlichen Geistes selbst, nicht mehr die der Objekte dieser Handlungen. Diese Handlungen sollen vorgestellt werden; keine Vorstellung ist mögllich ohne ein Bild. Es müssen demnach Bilder dieser Handlungen vorhanden sein. Alle Bilder aber werden durch die absolute Spontaneität der Einbildungskraft hervorgebracht, mithin auch dieses.
Ein Teil dieser Bilder - freilich bei weitem noch nicht [die] der höchsten Handlungen des menschlichen Geistes - sind aud den Kantischen Schriften unter dem Namen der Schemata, und das Verfahren der Einbildungskraft mit denselben unter dem Namen des Schematismus bekannt. Die ganze Transzendentalphilosophie soll und kann nichts anderes sein, als ein getroffenes Schema des menschlichen Geistes überhaupt.
Wer sieht nicht, dass dies der Einbildungskraft ein ganz neues und ungeahntes Geschäft gibt; ein Geschäft, das ihr nur um weniges leichter sein wird, als ihr Entwerfen der Bilder überhaupt beim Anfange des irdischen Lebens war?
Wer sieht nicht, daß die Gefühle für diese Bilder um eine Region tiefer im menschlichen Gemüte liegen, und dass das Vermögen, dieselben zu entwerfen, ganz eigentlich dasjenige sei, was wir als Geist beschrieben haben? Wer sieht demnach nicht, dass die Möglichkeit des Stoffes aller Philosophie Geist voraussetze, und dass ohne Geist alles Philosophieren völlig leer und ein Philosophieren über das absolute Nichts ist?
Dass ich darüber ein erschöpfendes Beispiel anführe. - Es ist wohl keinem unter Ihnen völlig unberkannt, dass an einer streng wissenschaftlichen Transzendentalphilosophie unter dem Namen einer Wissenschaftslehre ge- arbeitet und das dieselbe auf dasjenige aufgeführt [aufgebaut] wird, was als reines Ich übrigbleibt, nachdem man von allem abstrahiert hat, wovon nur abstrahiert werden kann. Eine solche Wissenschaft kann keine andere Regel geben als die: Man abstrahiere von / allem, wovon man abstrahieren kann, bis etwas übrig bleibe, wovon völlig unmöglich ist zu abstrahieren: Die Übrigbleibende ist das reine Ich, welches zugleich als reines Ich als Regulativ für das Denkvermögen vollkommen bestimmt ist. Es ist dasjenige, von dem man schlechterdings nicht abstrahieren kann, weil es das Abstrahierende selbst ist, oder, was gerade das[selbe] heißt, dasjenige, was sich selbst schlechthin setzt.
Diesen Satz kann man nun als bloßes Regulativ für das Denkvermögen fassen; es muss ihm [nur] im Laufe der Untersuchung nicht widersprochen werden, und so wird man denn aus ihm gar leicht die Unzulänglichkeit aller Systeme dartun können, in denen irgend etwas, so gering dasselbe auch sei, angenommen wird, gegen welches das Ich bloß sich leidend verhalten soll; weil dem Ich, so gewiss es ein Ich sein soll, gar nichts zukommen kann, das es sich nicht selbst zuschriebe und gegen welches es sich demnach nicht auch zugleich tätig verhalte.
Wenn man aber auch gleich diesen ganz richtigen Gebrauch von jenem Satze macht, so bleibt es noch immer gar wohl möglich, dss man bloß den Buchstaben desselben gelernt, nicht aber seinen Geist ufgefasst habe. Man macht Gebrauch von der Formel, in der jener Satz ausgedrückt ist, weil man sie etwa auf Treu und Glauben angenommen hat, oder weil man ihre Brauchbarkeit zur bestimmten Erklärung alles dessen, was die Philoso- phie erklären soll, bemerkt: Aber man hat auch nichts als eine Formel, wenn man nicht die Anschauung dessen hat, was durch sie ausgedrückt ist. Gesetzt auch man trüge ein System vor, das für einen Andern Geist und Leben bekommen möchte, so hat es für uns doch keinen, sondern ist für uns nur bloße Formularphilosophie.
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J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 72f.;
Nota. - Zuerst also eine Berichtigung: Von den Vorträgen Über Geist und Buchstaben... sind, anders, als ich in meinem Kommentar zum vorgestrigen Eintrag schrieb, die ersten drei sehr wohl als Ms. enthalten; erst die folgenden, die Fichte für Schillers Horen umgearbeitet hat, sind verloren.
Der Wissenschaftslehre selbst fügen diese Prolegomena sachlich nichts hinzu: Sie entwickeln keine Gedanken, sondern berichten sie, und das gilt bei Fichte nicht als Philosophie. Aber sie erläutern, und dies in entscheidenden Punkten, wie dieses und jenes, das in den folgenden Darstellungen der Wissenschaftslehre entwickelt werden wird, von Fichte gemeint ist. Es wird mir klar, dass ich mir einige Wirrungen, die mir bei meinem Fichte-Studium untergekommen sind, hätte ersparen können, wenn ich mich um diesen Auftakt zu seiner Lehrtätigkeit früher bekümmert hätte.
JE
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