Montag, 29. Februar 2016
Sonntag, 28. Februar 2016
Witz und Gedächtnis.
Das Gedächtnis ist der Individualsinn – das Element der Individuation. N°1248
Der Witz ist schöpferisch – er macht Ähnlichkeiten. N°1298 ______________________________________________
Novalis, Neue Fragmente, aus: Projekt Gutenberg
Samstag, 27. Februar 2016
Witz ist der Finder.
Der Witz ist der Finder (finder) und der Verstand der Beobachter.
Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft J, N° 1288
Wenn Scharfsinn ein Vergrößerungsglas ist, so ist Witz ein Verkleinerungsglas. Glaubt ihr denn, dass sich bloß Entdeckungen mit Vergrößerungsgläsern machen ließen? Ich glaube mit Verkleinerungsgläsern, oder wenig-stens durch ähnliche Instrumente sind wohl mehr Entdeckungen gemacht worden.
ebd., Heft D, N° 465
Ohne Witz wäre eigentlich der Mensch gar nichts, denn Ähnlichkeit in den Umständen ist ja alles was uns die wissenschaftliche Erkenntnis bringt, wir können ja bloß nach Ähnlichkeiten ordnen und behalten.
ebd., Heft J, N° 936
Freitag, 26. Februar 2016
Gedächtnis plus Humor.
Man kann Humor haben, ohne intelligent zu sein. Doch kann man intelligent nicht sein ohne Humor.
Scharfsinnig kann man auch ohne Humor sein. Scharfsinn ist das Vermögen, Unterschiede zu erkennen, die nicht ins Auge springen.
Intelligenz ist Gedächtnis plus Humor. Allein das Gedächtnis bildet den Sinn für die Unterschiede. Der Humor sieht Bezüge dort, wo man sie nicht erwartet.
Gedächtnis kann man trainieren. Humor nicht. Doch der will unterhalten sein.
September 16, 2008
Donnerstag, 25. Februar 2016
Das Bewusstsein ist für uns nur als Gedächtnis eine Tatsache.
Gedächtnis
von FRITZ MAUTHNER
aus:
Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Kap. 27
Zur Sprache und Psychologie, Kap. 27
HOBBES, der mit seinen Freunden GASSENDI und MERSENNE von der Notwendigkeit einer nominalistischen, d. h. materialistischen Psychologie überzeugt war, hat bei Gelegenheit einer mechanischen Erklärung der Sinnesempfindungen eine Bemerkung von erstaunlicher Tragweite gemacht; er hat entdeckt, daß auch zur einfachsten Sinneswahrnehmung Gedächtnis mithelfen müsse. Ohne Gedächtnis könnte nicht einmal der Tastsinn etwas wahrnehmen.
"Das Rauhe und Glätte, wie Größe und Figur werden nicht durch den Tastsinn allein, sondern auch durch das Gedächtnis empfunden; denn obgleich manche Dinge in einem Punkte getastet werden, kann man doch jene nicht empfinden, ohne den Fluß eines Punktes, d. h. ohne Zeit; Zeit aber zu empfinden, dazu bedarf es des Gedächtnisses."Bevor wir die ungeheure Bedeutung der Gedächtniserscheinungen für unser Sprachleben wie für unser Naturleben darstellen können, müssen wir auf den Wortaberglauben verzichten, daß es eine "Kraft" sei.
Es ist dem menschlichen Verstand ganz natürlich, sich die Kräfte als Wirklichkeiten vorzustellen; und selbst den Denkern, die diese anthropomorphische Täuschung des Verstandes durchschauten, ist es immer schwer geworden, sich ganz und gar von dem zu befreien, was an Personifikation im Kraftbegriffe liegt. Schon GALILEI wußte, daß der Kraftbegriff eine Metapher ist, von dem Bewußtsein oder der Vorstellung oder der Bezeichnung unserer eigenen Muskelkraft hergenommen. Alle Kräfte, wie alle anderen mythologischen Begriffe und Götter, sind nach dem Bilde des Menschen geschaffen worden. Auch NEWTON glaubte nicht, eine "Kraft" der Gravitation materialistisch gefunden zu haben. Er setzte die Energie, die er Attraction resp. Gravitation nannte, ganz bewußt den mechanischen Kräften entgegen, wo er mir eine Regenbogenbrücke von AUGUSTINUS zu KANT zu schlagen scheint.
Alle Wirklichkeit ist unaufhörliche Tätigkeit oder Wirkung. Unter Kraft verstehen wir eigentlich jede mögliche Tätigkeit, jede mögliche Wirkung. Wären wir Scholastiker, so würden wir Möglichkeit als den Gegensatz der Wirklichkeit erkennen und so eilfertig die Kraft in Gegensatz bringen zur Wirklichkeit, während sie doch die Wirklichkeit selbst ist, nur auf eine gewisse Erklärung oder Beschreibung hin angesehen. Es sind eben da immer nur Worte gesprochen worden, deren Bedeutung sich unaufhörlich durch den Einfluß der Nachbarworte verschiebt. Auf diese Weise kann man im Banne der Sprache entsetzlich tiefsinnig philosophieren, ohne vorwärts zu kommen. Ich gebe ein Beispiel.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe diese Buchstaben nieder. Dabei blicke ich auf das Papier. Ich nehme nichts wahr als etwas Papier, einige Finger meiner Hand und die Feder. Die übrige Welt existiert gleichzeitig nur in meiner Vorstellung, als Möglichkeit, wahrgenommen zu werden. Unzählige unbewußte Experimente haben es mir jedoch zu einer unumstößlichen Gewißheit gemacht, daß diese übrige Welt Wirklichkeitskraft hat; ich brauche nur leise die Augen zu heben und erblicke die Büste GOETHEs, ich brauche nur ans Fenster zu treten und erblicke die Kiefern meines Gartens; ich brauche nur über den Atlantischen Ozean zu fahren und werde Amerika betreten, von dessen Wirklichkeitskraft ich, ohne es je gesehen zu haben, ebenso überzeugt bin wie von der Anziehungskraft der Erde oder der sogenannten Schwere meines Körpers, wie von der sogenannten Gravitation, die die Erde um die Sonne bewegt. Überzeugt bin ich von der Wirklichkeit und Wirklichkeitskraft eines Nordpols, eines Erdmittelpunkts, trotzdem beide Orte noch von keinem Menschen betreten worden sind. Diese Wirklichkeitskraft der Körper, vermöge deren sie die Möglichkeit besitzen, unter Umständen wahrgenommen zu werden, ist eine so allgemein verbreitete Kraft, daß man sie gar nicht erst mit einem so ehrenvollen Namen benennt. Den Namen Kraft hat man für Spezialfälle der Wirklichkeitsmöglichkeit reserviert.
Der Name Kraft für diese Gruppe von Vorstellungen mag daher kommen, daß alle unsere Wahrnehmungen, Vorstellungen, Kenntnisse auf Sinnesempfindungen zurückgehen, daß alle unsere Sinnesempfindungen nur veränderte Tastempfindungen sind und daß bei der Tastempfindung jedesmal eine, wenn auch noch so geringe Muskelkraft notwendig ist, wenn wir einen körperlichen Eindruck durch Vergleichung klassifizieren wollen. Unsere eigene Muskelkraft ist die einzige Kraft, von der wir ein Bewußtsein haben. Die Vorstellungen "glatt, rauh", noch besser "weich, hart" werden an dieser einzigen Kraft gemessen. Alle Wirkungen der Natur werden dann ebenfalls an dieser unserer Muskelkraft indirekt gemessen und so als Kräfte beschrieben. Das Urphänomen der Wirklichkeit ist der Widerstand, welchen jeder einzelne Körper unserer Muskelkraft entgegensetzt; die Physik nennt diese Erscheinung die Undurchdringlichkeit der Körper. Alle sogenannten Naturkräfte sind also nur Veränderungen in der Wirklichkeit, deren erfahrene oder erwartete Arbeitsleistung wir (oft sehr indirekt) mit der Muskelkraft messen, die wir dem Widerstande eines festen Körpers entgegensetzen müssen. Die Regelmäßigkeit dieser Veränderungen läßt es uns bequem erscheinen, ihre Beziehungen, die wir Ursachen nennen, als einheitliche Naturkräfte zu personifizieren.
Erkennen wir so selbst die sogenannten realen Kräfte als Unbekannte, die wir nur infolge der Armut unseres Bewußtseins mit dem einzigen vergleichen, was wir selbst wirkend in die Außenwelt tragen können, die wir also in einem eigentlich kühnen Bilde mit unseren Muskelkräften vergleichen und sie darum Kräfte nennen, so wird klar, ein wie unähnliches, ein wie inhaltsloses Bild herauskommen muß, wenn wir nun diesen Kräftebegriff wieder auf Gruppen von Geistestätigkeiten anwenden und die einzelnen "Seelenvermögen" geistige Kräfte nennen, wenn wir von der Kraft des Willens, des Verstandes oder des Gedächtnisses reden. Ein Psychologe meint, wenn er solche Worte gebraucht, auch nicht ernsthaft, daß über dem Willen, dem Verstand, dem Gedächtnisse eine Gottheit sitze, die den Willen, den Verstand, das Gedächtnis zu höheren Leistungen sporne. Aber dieser Psychologe meint doch ungefähr, diese "Seelenvermögen" seien selber eben solche Kräfte wie die Naturkräfte.
Wir haben in diesen Untersuchungen auf hundert Wegen immer wieder erfahren, daß in unseren seelischen Äußerungen nichts sein kann, was nicht vorher in den Sinnen gewesen ist, und daß es darum in unserem Seelenleben außer Sinneseindrücken nichts geben könne, als Erinnerungen an diese Sinneseindrücke, unendlich viele Erinnerungen, deren Existenz man eben mit dem Worte Gedächtniskraft oder Gedächtnis zusammenfaßt. Und nun gelangen wir zu einem überraschenden Aperçu, das freilich vielleicht nur ein Aperçu der Sprache ist. Es scheint mir nämlich, wie die Undurchdringlichkeit oder das Beharren das Urphänomen der Wirklichkeit ist, das Beharren oder die relative Undurchdringlichkeit der einmal aufgenommenen Sinneseindrücke das Urphänomen aller geistigen Tätigkeit zu sein. Es mag Menschen geben, die nach Erkenntnis des Gesetzes von der Erhaltung der Energie lachend ausrufen werden: "Aber das ist ja die Trägheit, die wir schon als Kinder gelernt, schon gehabt haben" - und nicht ahnen, daß viele Jahrhunderte an der Aufstellung des Trägheitsgesetzes gearbeitet wurde. Es wird Menschen geben, die das Gedächtnis als Urphänomen aller Geistestätigkeit lachend begreifen werden: "Das Gedächtnis ist also die Trägheit der Sinneseindrücke." Nicht das Erinnern wäre also zu erklären, sondern - wie schon MAX MÜLLER erkannt hat - das Vergessen.
Das Gedächtnis ist eine Tatsache des Bewußtseins und das Bewußtsein ist für uns nur als Gedächtnis eine Tatsache. Man könnte mit diesen Worten noch weiter jonglieren und würde doch nicht einmal in dem skeptischen Sinne der Sprachkritik zu einer festen Definition der beiden Begriffe gelangen. Wir ahnen jedoch, daß eine durch Selbstbeobachtung ermittelte Tatsache des Bewußtseins nicht das Abstraktum Gedächtnis ist, sondern nur die Reihe einzelner Erinnerungsbilder; wir ahnen, daß das Wort Bewußtsein eigentlich nichts anderes bedeutet als den Zusammenhang der Erinnerungsbilder.
Auch die Bezeichnung Erinnerungsbilder ist für die Wissenschaft schlecht genug gewählt. Sagten wir aber dafür Erinnerungen oder Erinnerungsakte, so würde sich zwischen ihnen als irgend welche Tätigkeit und zwischen uns als forschende Zuschauer sofort irgend ein Faktor hineinschieben, den unsere Phantasie erfunden hätte, entweder ein Götze Gedächtnis, der die Erinnerungsakte vollzieht, oder sonst ein Ich, welches sich erinnert und welches doch wieder nur das Abstraktum Gedächtnis sein könnte. Die Bezeichnung Erinnerungsbilder ist nur insofern besser, als sie unsere scheinbare Passivität bei dem ganzen Vorgang metaphorisch auszudrücken scheint. Wir müssen jedoch festhalten, daß es sich dabei um eine Metapher handelt, daß wir theoretisch zwischen den unmittelbaren Bildern unserer Wahrnehmung und den mittelbaren unserer Erinnerung nicht genau unterscheiden können. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, die unmittelbaren und die mittelbaren Bilder als starke und schwache Wahrnehmungen, als Formen von starken und schwachen Reizen zu unterscheiden. Die Reizfrage wie überhaupt die physiologische Seite müssen wir als noch völlig unaufgeklärt ruhen lassen.
Es kann uns jedoch die einfachste Besinnung lehren, daß Stärke oder Schwäche der Wahrnehmungen, ganz abgesehen von der Relativität dieser Begriffe, uns nicht weiter führt. Bei Halluzinationen nehmen Erinnerungsbilder die volle Stärke von unmittelbaren Wahrnehmungen an; und umgekehrt erkennen wir die leisesten und duftigsten Töne, wie beim Betrachten eines fernen im Nebel verschwindenden Gebirgszuges, als unmittelbare Wahrnehmungen an. Bei Gefühlen gar, wie z.B. beim Zorn, den der Feind meines Lebens in mir erregt, steht Stärke oder Schwäche in gar keinem Zusammenhang mit der Unmittelbarkeit. Die Zeit kann das Gefühl abschwächen, muß es aber nicht tun. Der Anblick des Feindes braucht meinen Zorn nicht so stark zu reizen, wie die Erinnerung an ihn. Das hängt sicherlich mit Lebenserscheinungen zusammen, welche neben dem Gehirngedächtnis hergehen; wie denn Gefühle des Hungers, der Liebe u.s.w. in starken oder leichten Graden schon durch das Gedächtnis erregt werden können. Wir erinnern uns nicht nur unseres Denkens, sondern auch unseres Lebens. Wir erinnern uns nicht nur unserer Wahrnehmungen und ihrer Verbindungen zu Begriffen, Urteilen und Schlüssen, wir erinnern uns - wir d.h. in unserem Bewußtsein - auch unserer Gefühle und unserer Bedürfnisse. Ist aber bei der Erinnerung just an unsere Bedürfnisse das Bewußtsein immer im Spiel?
Es scheint mir gewiß, daß uns auch da wieder die Sprache im Stiche läßt. Die Vorstellung Hunger oder Liebe, d.h. die Erinnerung an die entsprechenden Begriffe oder Worte, wird sicherlich sehr oft hervorgerufen durch die natürlichen Bedürfnisse dieser Art, und zwar unabsichtlich, unbewußt; noch häufiger wird, das sollten Pädagogen sich merken, das unabweisbare Bedürfnis hervorgerufen durch die unbewußte Einübung der Befriedigung, also durch Erinnerung. Wer täglich dreimal z.B. zu essen gewohnt ist, wird täglich dreimal an das Bedürfnis erinnert, er hat täglich dreimal Hunger; wer täglich fünfmal zu essen gewohnt ist, hat täglich fünfmal Hunger. Und wer noch gar nicht zu essen gewohnt ist, wie das neugeborene Tier, der kann nur ein Unbehagen empfinden, aber nicht das differenzierte Gefühl des Hungers. Pädagogen mögen diese Lehren auf die Gefühle des Durstes und auf die der Geschlechtsliebe übertragen. Wir brauchen also gar nicht tiefer in die Welt der Organismen hinabzusteigen, um zu erkennen, daß das Gedächtnis ein viel weiter verbreiteter Zustand ist als das sogenannte Bewußtsein. Das Bewußtseinist nur eine der vielen menschlichen Vorstellungsformen des Gedächtnisses. Wir haben also zu untersuchen, worin sich das Gedächtnis unseres sogenannten Selbstbewußtseins von dem unbewußten Gedächtnis jeder organisierten Materie, von dem unbewußten Gedächtnis, das auch den Tatsachen der Chemie und der Kristallisation zu Grunde liegen muß, unterscheiden mag.
Um uns dieser Frage ein wenig zu nähern, müssen wir einmal ausmachen, was wir eigentlich tun, wenn wir uns erinnern. So wunderbar es klingt, es ist auf den Hauptpunkt noch niemals hingewiesen worden, darauf nämlich, daß das normale Gehirn gar nicht, wie die landläufige Ansicht behauptet, seine Erfahrungen von selber wiederholt. Es ist nicht wahr, daß wir gesehene Farben abgeschwächt in unserem Gedächtnisse produzieren können, es ist nicht wahr, daß wir eine noch so bekannte Melodie im Gedächtnisse haben . Eine Disposition zur Wiederholung ist vorhanden, aber dieses Wort Disposition ist nur eine Verdunkelung der Frage, nicht ihre Lösung. Was geht denn in uns vor, wenn aus der Möglichkeit Wirklichkeit wird, wenn wir uns infolge unserer Disposition wirklich erinnern? Das ganze Wesen der Sprache lichtet sich ein wenig, und wieder von einer neuen Seite, wenn wir diesen alten Irrtum aufgeben. Das Folgende ist nicht nur das Ergebnis strenger Selbstbeobachtung, es ist auch durch vorsichtige Umfragen bei Hunderten von Menschen, auch bei Künstlern, welche sich lange gegen das Zugeständnis sträubten, kontrolliert.
Wenn ich mich auf eine bekannte Melodie besinnen will, so hilft mir alles passive Besinnen, alles Warten nichts; die Melodie fällt mir nicht ein. Ich muß sie innerlich singen, damit ich mich ihrer erinnere. Ich erinnere mich ihrer im Halse und nicht im Kopfe. Man halte sich gegenwärtig, daß - wie wir bald sehen werden - auch das Verstehen der Sprache mit Bewegungsgefühlen im Sprachorgan zusammenhängt. Das geht nicht nur unmusikalischen Menschen so. Eine eminent musikalische und zuverlässige Violinistin hat mir, nachdem die erste Überraschung überwunden war, bezeugt, daß auch sie eine Melodie nicht ganz passiv ins Gedächtnis zurückrufen könne, daß sie sie zur Herstellung der Erinnerung innerlich singen müsse, daß sie sich ihrer im Halse und daneben zugleich in den Fingern erinnere, indem sie sie unwillkürlich auf ihrem Instrument zu greifen glaube. Einer Farbe kann ich mich überhaupt nicht erinnern, wahrscheinlich weil ich Farben nicht wie Töne erzeugen kann. Nicht erzeugen durch einfache Arbeit meines Körpers. Wohl aber kann ich - lächerlich schlecht natürlich, aber das tut nichts zur Sache - mit dem Tuschkasten in der Hand eine Landschaft, ein Gesicht nach der Erinnerung reproduzieren.
Ein begabter Maler hat mir nach erbittertem Widerspruch zugestanden, daß es auch ihm nicht anders gehe. Er muß eine Zeichnung, er muß ein farbiges Gemälde schaffen, um sich seiner zu erinnern. Der Künstler hat besser gesehen, was ihn interessierte, als der Laie; ein passives Gedächtnis besitzt aber auch er nicht, auch er ist aktiv bei der Erinnerung. Der Alltagsmensch sieht so schlecht, daß er die Form eines Schrankes, der zwanzig Jahre in seinem Zimmer steht, aus dem Gedächtnisse nicht genau beschreiben könnte, daß er, auch wenn er zwanzigmal bewundernd vor der Sixtinischen Madonna gestanden hat, aus dem Gedächtnis nicht sagen könnte, ob sie den Jesusknaben auf dem rechten oder auf dem linken Arme trägt. Man irrt aber, wenn man das dem Gedächtnisse in die Schuhe schiebt; man hat eben unaufmerksam gesehen. Der aufmerksame Künstler kann den Schrank, kann die Sixtinische Madonna richtig nachzeichnen, aus dem Gedächtnisse, aber er muß tatsächlich oder in der Phantasie nachzeichnen, wenn er sich erinnern will. Jede Erinnerung ist eine Aktion.
Nun tritt aber in dieser Aktion etwas sehr Merkwürdiges hinzu, und darin steckt ein Rätsel des Gedächtnisses. Ich singe innerlich eine Melodie und empfinde, daß ich sie falsch singe; ich kann sie nicht richtig singen, aber ich weiß, daß sie anders ist. Der Maler zeichnet aus dem Gedächtnisse den Kopf eines Bekannten; er korrigiert die Fehler aus dem Gedächtnisse, und wenn er fertig ist, so weiß er, ob das Bildnis ähnlich geworden ist oder nicht. Wir besitzen also keine andere Erinnerung, als die wir uns aktiv neu schaffen, und doch sind wir imstande, unser Geschaffenes mit etwas zu vergleichen.
Was ist das? Was ist das im Bewußtsein nicht Vorhandene, womit ich die in das Bewußtsein eintretende, von außen oder von innen eintretende Empfindung vergleiche? Dieses Etwas muß nun ganz allgemein etwas Physiologisches genannt werden; denn physiologisch sind die Nervenzustände, solange sie nicht zum Bewußtsein kommen, solange sie nicht psychologisch werden. Dies deckt sich nun freilich mit der Bezeichnung Disposition, mit welcher die neuere Psychologie versucht hat, eine unklare, aber dafür unwiderlegliche Grundlage für die Gedächtnistätigkeit zu schaffen. Früher nahm man im Gedächtnis haftende, bleibende Spuren älterer Eindrücke an; da diese Spuren unter dem Mikroskop nicht sichtbar wurden (vielleicht könnte man die von FLECHSIG beobachteten Gehirnänderungen als die ersten breiten Spuren von Masseneindrücken auffassen), mußte man an ihre Stelle die Hypothese unsichtbarer Spuren setzen, und das ist eben die Disposition. Das Wort hat sich zur rechten Zeit eingestellt.
Das Rätsel ist also zwar nicht gelöst, aber mit einer alltäglichen Erscheinung in Zusammenhang gebracht, wie wir gleich sehen werden. Ich habe eine Melodie gehört. Ich erinnere mich ihrer, d.h. ich singe sie in meinem Innern nach. Es gelingt mir nicht, sie richtig nachzusingen, aber ich empfinde die Gewißheit, daß ich mich ihrer falsch erinnere, d.h. ich vergleiche die Nervenerregung, die mir mein innerliches Falschsingen verursacht, mit der zurückgebliebenen Disposition zur Nervenerregung, welche die richtige Melodie in mir verursachte. Dieser Vorgang ist aber kein anderer als der, auf welchem von Anfang bis zu Ende alle unsere Begriffe oder Worte, all unser Denken oder Sprechen beruhen. Die gesamte Tätigkeit der Klassifikation, welche unsere Menschensprache hervorgebracht hat, ist ja nichts anderes als die Vergleichung von Eindrücken und die Gleichsetzung ähnlicher Eindrücke durch ein gemeinsames Wort. Alles Urteilen ist nichts anderes als die Anwendung einer bestehenden Klassifikation auf einen neuen Eindruck, d.h. die Vergleichung einer gegenwärtigen Nervenerregung mit der Erinnerung an frühere Nervenerregungen. Alles Schließen und Denken ist eine komplizierte Vergleichung.
SPENCER schon hat erkannt, daß alles Denken aus dem Erkennen der Beziehungen von Gleichheit und Ungleichheit besteht. Er hat gezeigt, daß jede solche Beziehung nichts ist als eine Veränderung im Bewußtsein und daß jede Veränderung im Bewußtsein mit einer Erregung verbunden ist. Plötzliche Veränderungen im Bewußtsein können lebhafte Erschütterungen erzeugen, wie ein greller Blitz bei Nacht oder der Donner eines einschlagenden Blitzes. Aber auch Erinnerungen, also nicht von außen kommende plötzliche Veränderungen des Bewußtseins können uns einen Ruck geben, wie wenn es mir zu spät einfällt, daß ich eine Verabredung vergessen habe. Je weniger plötzlich oder je geringer die Veränderung ist, desto weniger leicht tritt sie über die Schwelle des Bewußtseins.
Der Begriff Veränderung hat überdies den großen Vorteil, daß er auf unser Denken angewandt werden kann, einerlei, ob wir es physiologisch oder psychologisch zu analysieren versuchen. Und er ist, wenn wir vor der letzten Konsequenz nicht zurückschrecken, der Oberbegriff für die Beziehungen der Gleichheit und Ungleichheit. Ich kann an dieser Einsicht nicht ganz schnell vorübergehen, weil sie bei der Reziprozität von Gedächtnis und Vergleichung einerseits, Gedächtnis und Sprache anderseits, also bei der nahezu vollständigen Gleichwertigkeit der Begriffe Sprache und Vergleichung wieder einmal ein Licht auf den Glauben wirft, man könne mit Hilfe der Sprache im Denken fortschreiten.
Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Kap. 27; Stuttgart/Berlin 1906
Zur Sprache und Psychologie, Kap. 27; Stuttgart/Berlin 1906
Mittwoch, 24. Februar 2016
Vorstellen und begreifen.
A.Dreher / pixelio.de
Das Wunder ist, dass wir Sachen begreifen, die wir uns nicht vorstellen können.
Im bloßen Begriff geht der anschauliche Anteil der Vorstellung verloren. Das stammt offenbar aus der Reflexion. In der Reflexion unterscheidet der Vorstellende sich-selbst von seiner Vorstellung; und die Vorstellung von ihm-selbst. Nicht nur das Subjekt wird verselbständigt, sondern sein Objekt: Im Vorstellen sind Ich und das Vorgestellte noch ungeschieden. Im Vorstellen2 des Vorstellens1 verdreifacht sich die Vorstellung: in das Vorgestellte, in den Vorstellenden und in den Vorstellungsakt – als dem tätigen Verhalten des einen zum andern. Dabei müssen die Anschauung als das Was und der Anschauende als der Wer der Vorstellung verloren gehen (können) und das Wie des Vorgestellten sich verselbständigen (können).
Der springende Punkt ist offenbar die Symbolisierung – als der Sprung aus dem analogen in den digitalen Modus der Repräsentation. Sie entsteht bereits im Übergang vom unmittelbaren Anschauen zum Wieder-Hervorholen aus dem Gedächtnisfundus; das nämlich so lange prekär und zufällig blieb, als der Gedächtnisspeicher nicht geordnet war. Wie soll ich eine gehabte Anschauung wiederfinden in all dem Chaos ohne einen hervorstechenden Anhaltspunkt? Das ist schwerer als ein Element in einem tausendteiligen Puzzle aufzufinden, von dem ich immerhin Größe und Umriss kenne.
Ob das Symbolisieren eher aus der Vorratshaltung oder eher aus den Erfordernissen der Mitteilung entstanden ist, ist unerheblich, weil die selber mit- und auseinander entstanden sein werden. Man könnte annehmen, dass die ersten Symbolisierungen aus dem Herausgreifen besonders augenfälliger 'Aspekte' hervorgegangen sind, die so zu Merkmalen werden – immer noch im analogen Modus.
Der Übergang zum bloßen Zeichen ohne anschaulichen Nachahmungsanteil macht die Digitalisierung der Vorstellung in specie aus. Es handelt sich offenbar um Lautzeichen, um Wörter; um die Entstehung der Sprache. Denn zwar nicht für das Vorstellen selbst, aber sehr wohl für das diskursive Denken in Begriffen, das notfalls ohne jedes anschauliche Residuum auskommt, ist die Ausbildung von Sprachen die Bedingung: eines artikulierten Systems, eines "Spiels" mit vereinbarten Figuren und Regeln.
Wobei die Anschauung offenbar nicht wirklich verloren geht, sondern nur einstweilen abgelegt wird – in den Gedächtnisspeicher, wo es aufgehoben ist und aus dem es durch Aufrufen des zugeordneten digits zu jeder Zeit reaktiviert und vergegenwärtigt werden kann.
*
Der Übergang vom analogen in den digitalen Modus bleibt das eigentliche Mysterium des Geistes – von dem wir allerdings wissen, dass es wirklich stattgefunden hat. Der Schritt vom Lautzeichen zum Schriftzeichen und vom Wortzeichen zum mathematischen Symbol erscheint demgegenüber nur als die geschäftsmäßig Leistung eines tüchtigen Handwerkers. Auch das Übersetzen ganzer Operationsstränge in mathematische Formeln bleibt in diesem Rahmen.
Anschauung ohne Begriff sei blind, meinte Kant, aber Begriffe ohne Anschauung seien leer. Das bezog sich auf die Philosophie der Wolffs und Baumgartens, der er selber angehangen hatte und die so verfuhr, als wenn eine Sache schon verstanden sei, wenn man nur ein Wort durch so und so viele andere 'definiert' hatte; und die arglos darauf vertraute, aus dem Kombinieren von Begriffen materiale Erkenntnisse synthetisieren zu können.
Nicht gedacht hat er an die moderne Physik, die sowohl im Makro- wie im Mikrobereich in mathematischen Formeln Sachverhalte beschreibt, die als wirklich gelten, bei denen sich aber niemand mehr etwas vorstellen kann, weil sie jenseits unserer Anschauungsmöglichkeiten liegen. Und es lassen sich daraus operativ Hypothesen entwickeln, die ihrerseits durch Experimente verifizierbar sind: Es lässt sich aus Begriffen materiales Wissen konstruieren! Allerdings immer nur mittelbar, durch Rückschluss; nie direkt.
Vorstellen können wir uns nur einen Raum mit drei Dimensionen – und die Zeit gesondert daneben. Ein vierdimensionales Raum-Zeit-Kontinuum können wir im Begriff denken; aber wenn es sich einer vorstellen will, muss er hilfsweise auf ganz unzulängliche Analogien aus unserer dreidimensionalen Anschauung zurückgreifen. Dem theoretischen Physiker unserer Tage wird das Operieren mit mathematischen Symbolen und Formeln so geläufig geworden sein, dass er sich darin zu Hause fühlt und meint, er könne sich 'dabei was vorstellen'. Doch dann müsste er es einem Außenstehenden veranschaulichen können. Und das geht mit einem Partikel, das zugleich, aber ebenso ausschließend eine Welle ist, genau so wenig wie mit einem Raum, der selber Zeit ist.
Hier wird als Begriff im Gedächtnisspeicher etwas abgelegt, dem nie ein anschauliches Substrat zu- grunde lag. Es werden begriffliche Kombinationen der ersten Ordnung in mathematische Formeln gefasst und durch einen Begriff zweiter Ordnung ausgezeichnet, durch den sie ihrerseits abrufbar sind. Aber eine Anschauung, so residual sie sei, schiebt sich nicht dazwischen. Da wird nichts vor- gestellt.
*
Wenn Ihnen einer sagt, er könne sich unterm Urknall etwas vorstellen, erliegt er einer Täuschung. Er hat an die Stelle einer mathematischen Formel ein mythisches Bild geschoben, und das ist allerdings anschaulich. Überführen können sie ihn, wenn Sie ihn auffordern, sich die letzte Sekunde – oder Nanosekunde – vor dem Urknall vorzustellen. Da könnte er nämlich nur den flüchtigen Schatten von Gottvater 'anschauen'.
Und recht besehen reichen auch die mathematischen Formeln gar nicht bis in den Urknall hinein, sondern immer nur bis ganz kurz – 'unendlich nah' – davor. Drinnen lässt sich nicht einmal mehr etwas denken. Aber dass es in der Sekunde – oder Nanosekunde – davor Nichts gegeben haben sollte, können wir schon gar nicht denken, weil wir uns dabei… nichts vorstellen können.
im Sommer 2013
Nota. – Hier handelt es sich um die wirkliche Geschichte der Entstehung unserer Begriffe aus dem Verkehr. Das transzendentale Verständnis der Begriffe in ihrem jeweiligen Verhältnis zu Zweck und Anschauung ist ein anderes Kapitel.
JE
Das Wunder ist, dass wir Sachen begreifen, die wir uns nicht vorstellen können.
Im bloßen Begriff geht der anschauliche Anteil der Vorstellung verloren. Das stammt offenbar aus der Reflexion. In der Reflexion unterscheidet der Vorstellende sich-selbst von seiner Vorstellung; und die Vorstellung von ihm-selbst. Nicht nur das Subjekt wird verselbständigt, sondern sein Objekt: Im Vorstellen sind Ich und das Vorgestellte noch ungeschieden. Im Vorstellen2 des Vorstellens1 verdreifacht sich die Vorstellung: in das Vorgestellte, in den Vorstellenden und in den Vorstellungsakt – als dem tätigen Verhalten des einen zum andern. Dabei müssen die Anschauung als das Was und der Anschauende als der Wer der Vorstellung verloren gehen (können) und das Wie des Vorgestellten sich verselbständigen (können).
Der springende Punkt ist offenbar die Symbolisierung – als der Sprung aus dem analogen in den digitalen Modus der Repräsentation. Sie entsteht bereits im Übergang vom unmittelbaren Anschauen zum Wieder-Hervorholen aus dem Gedächtnisfundus; das nämlich so lange prekär und zufällig blieb, als der Gedächtnisspeicher nicht geordnet war. Wie soll ich eine gehabte Anschauung wiederfinden in all dem Chaos ohne einen hervorstechenden Anhaltspunkt? Das ist schwerer als ein Element in einem tausendteiligen Puzzle aufzufinden, von dem ich immerhin Größe und Umriss kenne.
Ob das Symbolisieren eher aus der Vorratshaltung oder eher aus den Erfordernissen der Mitteilung entstanden ist, ist unerheblich, weil die selber mit- und auseinander entstanden sein werden. Man könnte annehmen, dass die ersten Symbolisierungen aus dem Herausgreifen besonders augenfälliger 'Aspekte' hervorgegangen sind, die so zu Merkmalen werden – immer noch im analogen Modus.
Der Übergang zum bloßen Zeichen ohne anschaulichen Nachahmungsanteil macht die Digitalisierung der Vorstellung in specie aus. Es handelt sich offenbar um Lautzeichen, um Wörter; um die Entstehung der Sprache. Denn zwar nicht für das Vorstellen selbst, aber sehr wohl für das diskursive Denken in Begriffen, das notfalls ohne jedes anschauliche Residuum auskommt, ist die Ausbildung von Sprachen die Bedingung: eines artikulierten Systems, eines "Spiels" mit vereinbarten Figuren und Regeln.
Wobei die Anschauung offenbar nicht wirklich verloren geht, sondern nur einstweilen abgelegt wird – in den Gedächtnisspeicher, wo es aufgehoben ist und aus dem es durch Aufrufen des zugeordneten digits zu jeder Zeit reaktiviert und vergegenwärtigt werden kann.
*
Der Übergang vom analogen in den digitalen Modus bleibt das eigentliche Mysterium des Geistes – von dem wir allerdings wissen, dass es wirklich stattgefunden hat. Der Schritt vom Lautzeichen zum Schriftzeichen und vom Wortzeichen zum mathematischen Symbol erscheint demgegenüber nur als die geschäftsmäßig Leistung eines tüchtigen Handwerkers. Auch das Übersetzen ganzer Operationsstränge in mathematische Formeln bleibt in diesem Rahmen.
Anschauung ohne Begriff sei blind, meinte Kant, aber Begriffe ohne Anschauung seien leer. Das bezog sich auf die Philosophie der Wolffs und Baumgartens, der er selber angehangen hatte und die so verfuhr, als wenn eine Sache schon verstanden sei, wenn man nur ein Wort durch so und so viele andere 'definiert' hatte; und die arglos darauf vertraute, aus dem Kombinieren von Begriffen materiale Erkenntnisse synthetisieren zu können.
Nicht gedacht hat er an die moderne Physik, die sowohl im Makro- wie im Mikrobereich in mathematischen Formeln Sachverhalte beschreibt, die als wirklich gelten, bei denen sich aber niemand mehr etwas vorstellen kann, weil sie jenseits unserer Anschauungsmöglichkeiten liegen. Und es lassen sich daraus operativ Hypothesen entwickeln, die ihrerseits durch Experimente verifizierbar sind: Es lässt sich aus Begriffen materiales Wissen konstruieren! Allerdings immer nur mittelbar, durch Rückschluss; nie direkt.
Vorstellen können wir uns nur einen Raum mit drei Dimensionen – und die Zeit gesondert daneben. Ein vierdimensionales Raum-Zeit-Kontinuum können wir im Begriff denken; aber wenn es sich einer vorstellen will, muss er hilfsweise auf ganz unzulängliche Analogien aus unserer dreidimensionalen Anschauung zurückgreifen. Dem theoretischen Physiker unserer Tage wird das Operieren mit mathematischen Symbolen und Formeln so geläufig geworden sein, dass er sich darin zu Hause fühlt und meint, er könne sich 'dabei was vorstellen'. Doch dann müsste er es einem Außenstehenden veranschaulichen können. Und das geht mit einem Partikel, das zugleich, aber ebenso ausschließend eine Welle ist, genau so wenig wie mit einem Raum, der selber Zeit ist.
Hier wird als Begriff im Gedächtnisspeicher etwas abgelegt, dem nie ein anschauliches Substrat zu- grunde lag. Es werden begriffliche Kombinationen der ersten Ordnung in mathematische Formeln gefasst und durch einen Begriff zweiter Ordnung ausgezeichnet, durch den sie ihrerseits abrufbar sind. Aber eine Anschauung, so residual sie sei, schiebt sich nicht dazwischen. Da wird nichts vor- gestellt.
*
Wenn Ihnen einer sagt, er könne sich unterm Urknall etwas vorstellen, erliegt er einer Täuschung. Er hat an die Stelle einer mathematischen Formel ein mythisches Bild geschoben, und das ist allerdings anschaulich. Überführen können sie ihn, wenn Sie ihn auffordern, sich die letzte Sekunde – oder Nanosekunde – vor dem Urknall vorzustellen. Da könnte er nämlich nur den flüchtigen Schatten von Gottvater 'anschauen'.
Und recht besehen reichen auch die mathematischen Formeln gar nicht bis in den Urknall hinein, sondern immer nur bis ganz kurz – 'unendlich nah' – davor. Drinnen lässt sich nicht einmal mehr etwas denken. Aber dass es in der Sekunde – oder Nanosekunde – davor Nichts gegeben haben sollte, können wir schon gar nicht denken, weil wir uns dabei… nichts vorstellen können.
im Sommer 2013
JE
Dienstag, 23. Februar 2016
Das Schema; oder Der reine Verstandesbegriff.
businessgreen
Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden. So, wenn ich fünf Punkte hinter einander setze....., ist dieses ein Bild von der Zahl fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, die nun fünf oder hundert sein kann, so ist dieses Denken mehr die Vorstellung einer Methode, einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge (z. E. Tausend) in einem Bilde vorzustellen, als dieses Bild selbst, welches ich im letztern Falle schwerlich würde übersehen und mit dem Begriff vergleichen können. Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriffe. ..../...
Dieser Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden. So viel können wir nur sagen: das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wornach die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen, und an sich demselben nicht völlig kongruieren.
Dagegen ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffs etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann, sondern ist nur die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt, und ist ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt, nach Bedingungen ihrer Form (der Zeit), in Ansehung aller Vorstellungen, betrifft, so fern diese der Einheit der Apperzeption gemäß a priori in einem Begriff zusammenhängen sollten.
_________________________________________
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 107f.
Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden. So, wenn ich fünf Punkte hinter einander setze....., ist dieses ein Bild von der Zahl fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, die nun fünf oder hundert sein kann, so ist dieses Denken mehr die Vorstellung einer Methode, einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge (z. E. Tausend) in einem Bilde vorzustellen, als dieses Bild selbst, welches ich im letztern Falle schwerlich würde übersehen und mit dem Begriff vergleichen können. Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriffe. ..../...
Dieser Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden. So viel können wir nur sagen: das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wornach die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen, und an sich demselben nicht völlig kongruieren.
Dagegen ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffs etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann, sondern ist nur die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt, und ist ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt, nach Bedingungen ihrer Form (der Zeit), in Ansehung aller Vorstellungen, betrifft, so fern diese der Einheit der Apperzeption gemäß a priori in einem Begriff zusammenhängen sollten.
_________________________________________
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 107f.
Montag, 22. Februar 2016
Der Begriff passt nirgends richtig.
adpic
Worauf der Begriff passt, darauf passt er immer, sonst war er kein Begriff. Was man so ansehen kann, aber auch anders, worauf also mal dieser und mal jener Begriff passt, auf das passt keiner.
Das ist aber der Fall bei fast allem, das im Leben vorkommt, und vor allem: bei allem, was in unserer Vorstellung vorkommt. – Was bleibt dann noch übrig? Eigentlich nichts. Mit andern Worten: Eigentlich passen Begriffe auf nichts, oder richtiger: Begriffe passen auf nichts eigentlich. Immer nur uneigentlich, immer nur einstweilen, immer nur vorübergehend.
Ein Begriff ist gar kein Schlüssel. Eher eine Kneifzange oder ein Brecheisen.
4. 2. 15
Samstag, 20. Februar 2016
Begriffe braucht man, wo ein Zweifel ist.
greatmiddleway
Daraus folgt zwanglos, dass das eigentlich produktive Denken gar keine Begriffe braucht – es rauscht mir gewissermaßen wie ein Strom bewegter Bilder durchs Gemüt. Da wird noch nicht gezweifelt, da ist noch alles positiv. Erst wenn ich es festhalten und auf seine Tauglichkeit – wozu?! – überprüfen will, kann ich Begriffe gebrauchen, und vollends, wenn ich es einem andern mitteile. Der Begriff ist – vor allem andern – ein Instru-ment der Kritik.
22. 6. 15
Für das, was sich von selbst versteht, brauche ich keinen Begriff. Es ist, und damit gut. Es sei denn, ich wollte gerade das kritisieren: dass es sich von selbst versteht. Begriff ist Maßstab der Überprüfung. Im täglichen Leben ist er die Ausnahme. Denn ohne die Gewissheit, dass das meiste sich von selbst versteht, brächte ich kaum mal 24 Stunden über die Runden. Würde ich den ganzen Tag nur zweifeln, käme ich nie zum Handeln. Denn nicht jede Handlung ist eine Haupt- und Staatsaktion, die ihrer Letztbegründung bedarf. Das meiste ist ganz alltäg-lich.
•Juni 4, 2009
Daraus folgt zwanglos, dass das eigentlich produktive Denken gar keine Begriffe braucht – es rauscht mir gewissermaßen wie ein Strom bewegter Bilder durchs Gemüt. Da wird noch nicht gezweifelt, da ist noch alles positiv. Erst wenn ich es festhalten und auf seine Tauglichkeit – wozu?! – überprüfen will, kann ich Begriffe gebrauchen, und vollends, wenn ich es einem andern mitteile. Der Begriff ist – vor allem andern – ein Instru-ment der Kritik.
Was im Begriff dargestellt ist.
Was in Begriffen dargestellt wird, ruht.
________________________________________
F. W. J. Schelling, Werke, Bd. I, Ffm 1985, S. 193
Freitag, 19. Februar 2016
Denkzeug.
Allar, Enfant des Abruzzes
So wie Hämmer, Zangen und Sägen Werk-Zeuge sind, so sind Begriffe und logische Regeln Denk-Zeuge und keine Werke. Werke sind erst die mit ihrer Hilfe komponierten 'Bilder', deren 'Bedeutung' angeschaut wird.*
Soll heißen, das Denken beginnt nicht nur in der Anschauung, sondern läuft auch darauf hinaus.
Freilich sind auch die Werk- und Denk-Zeuge ihrerseits komponiert; aber zu einem formalen Zweck. Die Form ist die Gebrauchsanleitung.
*) Ebendas ist die Rechtfertigung der Dialektik: Sie lässt die Verselbständigung der Begriffe im diskursiven Zusammenhang durch ihr Widerspiel deutlich werden - und macht ihren anschaulichen Gehalt kenntlich!
aus e. Notizbuch, 30. 4. 07
Nota, Sept. 2014
Sie sind vor allem ersteinmal Behältnisse (und ihre Henkel). So können die Anschauungsgehalte – 'das Gemeinte' – für späteren Gebrauch aufbewahrt und, wenn nötig, Anderen mitgeteilt werden. Verschiedene Gefäße taugen für verschiedene Inhalte, und Henkel – oder Räder, Schienen, Kräne – ermöglichen verschiedenen Transport. Ob die Gefäße zu groß sind oder zu klein, so dass etwas danebenfällt, und ob der Inhalt unterwegs Schaden nimmt – immer ist es der anschauliche Inhalt, auf den es ankommt, und darauf, wie er ankommt; aber nicht die Gefäße und nicht der Transport.
So wie Hämmer, Zangen und Sägen Werk-Zeuge sind, so sind Begriffe und logische Regeln Denk-Zeuge und keine Werke. Werke sind erst die mit ihrer Hilfe komponierten 'Bilder', deren 'Bedeutung' angeschaut wird.*
Soll heißen, das Denken beginnt nicht nur in der Anschauung, sondern läuft auch darauf hinaus.
Freilich sind auch die Werk- und Denk-Zeuge ihrerseits komponiert; aber zu einem formalen Zweck. Die Form ist die Gebrauchsanleitung.
*) Ebendas ist die Rechtfertigung der Dialektik: Sie lässt die Verselbständigung der Begriffe im diskursiven Zusammenhang durch ihr Widerspiel deutlich werden - und macht ihren anschaulichen Gehalt kenntlich!
aus e. Notizbuch, 30. 4. 07
Nota, Sept. 2014
Sie sind vor allem ersteinmal Behältnisse (und ihre Henkel). So können die Anschauungsgehalte – 'das Gemeinte' – für späteren Gebrauch aufbewahrt und, wenn nötig, Anderen mitgeteilt werden. Verschiedene Gefäße taugen für verschiedene Inhalte, und Henkel – oder Räder, Schienen, Kräne – ermöglichen verschiedenen Transport. Ob die Gefäße zu groß sind oder zu klein, so dass etwas danebenfällt, und ob der Inhalt unterwegs Schaden nimmt – immer ist es der anschauliche Inhalt, auf den es ankommt, und darauf, wie er ankommt; aber nicht die Gefäße und nicht der Transport.
Donnerstag, 18. Februar 2016
Von Einzelnem gibt es kein Wissen.
Musik sei nicht zu unbestimmt, um in Worte gefasst zu werden, hat Felix Mendelssohn gesagt, sondern zu bestimmt.
Heute würden wir sagen: Das Musikstück – und jedes Kunststück – ist überbestimmt. So sehr bestimmt, dass es durch allgemein-geltende Zeichen eben nicht sicher erfasst und vollkommen re-präsentiert werden kann. Das Kunststück ist singulär. De singularibus non est scientia – Von einem Einzigen gibt es kein Wissen, sagten die Scholastiker. Das, was ganz allein auf der Welt so ist, wie es ist, das kann durch kein Anderes – Bekanntes – auf der Welt beschrieben werden. Es ist ledig-lich quale; schon quid wäre zu viel gesagt, weil das an ein Verhältnis zu Anderem glauben lässt.
Mittwoch, 17. Februar 2016
Das Ästhetische bildet sich aus als Gegensatz zum Ökonomischen.
Rainer Sturm, pixelio.de
Das Ästhetische steht eo ipso in Gegensatz zum diskursiven Denken – insofern jenes Ökonomie der Vor-stellung ist; nämlich als Produktion von bezweckten Ergebnissen ('Schlüssen') aus vorliegendem Stoff ('Grün-den'), und zwar sparsam: die Gründe müssen zureichen, aber man bemüht davon nicht mehr als nötig; beides zusammen: das Argument muß zwingend sein. Denn das bedeutet: jederzeit reproduzierbar. Sieht man ab zu-erst auf die Zwecke der Vorstellung, ergibt sich das Bild der Teleologie.
Sieht man dagegen ab auf die hinreichenden Gründe, ergibt sich das Bild der Kausalität – beide sind Vorder- und Rückseite desselben Vorstellungskomplexes, der sich, d. h. den wir Rationalität nennen. In jedem Fall geht es um das Hervorbringen, Ableiten oder Konstruieren der Vorstellungsgehalte; nicht, wie im ästhetischen Erle-ben, um wahr&wertnehmen uno actu. Darum kann man es, anders als jenes, wollen – und muß es wollen, weil es „nicht von alleine kommt“.
aus Rohentwurf, 9.
Nachtrag, Nov. 2013
Rationalität, schrieb ich, könne und müsse man wollen – im Gegensatz zum ästhetische Erleben, das "von al-leine kommt". Das habe ich inzwischen berichtigt.Theoretisch, in der transzendentalen Darstellung, kommt das ästhetische Erleben 'von alleine'. Aber wir historischen, wirklichen Menschen, denen in unserer modernen bür-gerlichen Welt das rationelle Absehen auf nahe wie fernere Zwecke habituell geworden ist, müssen uns erst zusammenreißen und die Zwecke absichtlich beiseite schieben, um das ästhetische Erleben als solches frei zu legen. Als solches – d. h. vor der rationellen Bewusstseinsstellung der modernen Menschen war das ästhetische Erleben zwar 'da'; aber nicht als solches, sondern unkenntlich vermengt in den breiten Strom der noch unge-teilten Wahrnehmung. Vor dem Sieg der Rationalität; weshalb es noch heute als Quell des Irrationalen erschei-nen mag, der es gar nicht ist.
Das Ästhetische steht eo ipso in Gegensatz zum diskursiven Denken – insofern jenes Ökonomie der Vor-stellung ist; nämlich als Produktion von bezweckten Ergebnissen ('Schlüssen') aus vorliegendem Stoff ('Grün-den'), und zwar sparsam: die Gründe müssen zureichen, aber man bemüht davon nicht mehr als nötig; beides zusammen: das Argument muß zwingend sein. Denn das bedeutet: jederzeit reproduzierbar. Sieht man ab zu-erst auf die Zwecke der Vorstellung, ergibt sich das Bild der Teleologie.
Sieht man dagegen ab auf die hinreichenden Gründe, ergibt sich das Bild der Kausalität – beide sind Vorder- und Rückseite desselben Vorstellungskomplexes, der sich, d. h. den wir Rationalität nennen. In jedem Fall geht es um das Hervorbringen, Ableiten oder Konstruieren der Vorstellungsgehalte; nicht, wie im ästhetischen Erle-ben, um wahr&wertnehmen uno actu. Darum kann man es, anders als jenes, wollen – und muß es wollen, weil es „nicht von alleine kommt“.
aus Rohentwurf, 9.
Nachtrag, Nov. 2013
Rationalität, schrieb ich, könne und müsse man wollen – im Gegensatz zum ästhetische Erleben, das "von al-leine kommt". Das habe ich inzwischen berichtigt.Theoretisch, in der transzendentalen Darstellung, kommt das ästhetische Erleben 'von alleine'. Aber wir historischen, wirklichen Menschen, denen in unserer modernen bür-gerlichen Welt das rationelle Absehen auf nahe wie fernere Zwecke habituell geworden ist, müssen uns erst zusammenreißen und die Zwecke absichtlich beiseite schieben, um das ästhetische Erleben als solches frei zu legen. Als solches – d. h. vor der rationellen Bewusstseinsstellung der modernen Menschen war das ästhetische Erleben zwar 'da'; aber nicht als solches, sondern unkenntlich vermengt in den breiten Strom der noch unge-teilten Wahrnehmung. Vor dem Sieg der Rationalität; weshalb es noch heute als Quell des Irrationalen erschei-nen mag, der es gar nicht ist.
Dienstag, 16. Februar 2016
Konsensfindung und Vernunfturteil.
Vernunft kann nur herrschen, wo Öffentlichkeit ist. Sie ist das allgemeinste Verständigungsmittel. Ohne sie kann es keine Gesellschaft geben, die auf dem Verkehr aller mit allen beruht.
Mit andern Worten, Vernunft ist der ausgezeichnete Charakter von Unserer Welt. Ihr sinnfälligster Ausdruck ist die Wissenschaft, in der die bürgerliche Gesellschaft ihr oberstes Maß erkennt.
Hat also Vernunft in Meiner Welt nichts zu suchen?
Das Unterscheidungsmerkmal ist, auf welchem Weg typischerweise Entscheidungen zustande kommen: durch Übereinkunft oder durch Vernunfturteil. Vernunft fragt nach Gründen, das Vernunfturteil beruht auf dem prozessierenden Ausscheiden des Falschen: desjenigen, dessen Gründe der öffentlichen Kritik auf die Dauer nicht standgehalten haben. So entsteht Wissen, gesammelt und konzentriert in der öffentliche Instanz 'Wissen-schaft'. Deren Modus ist die unendliche Revision alles einmal Gegebenen. Ihre Richtsprüche gelten immer 'einstweilen endgültig'; nämlich solange, bis sie durch Gründe widerlegt (oder auch nur erübrigt) werden. Ihre Schlüsse erscheinen im gegebenen Moment als notwendig.
So ist es in Unserer Welt. Ihr Platz ist Öffentlickeit. Da gehören Alle zu, ob es ihnen recht ist oder nicht.
Was zu Meiner Welt gehört, entscheidet sich nicht durch geprüftes Wissen, sondern durch geteiltes Erleben. Die Entscheidungen, die hier getroffen werden, beruhen typischerweise nicht auf Gründen, die der Kritik unterzo-gen wurden, sondern auf Motiven, die Beifall gefunden haben; Leidenschaften, Neigungen, momentane Lau-nen. Man findet sich zusammen auf einem gemeinsamen Boden von Werturteilen, und die sind im Kern ästhe-tisch – doch über das Ästhetische lässt sich nicht vernünfteln.
Es zählt hier nicht, was Alle wissen und einsehen können, sondern das, was Einige meinen. Urteile entstehen nicht auf dem Wege kritischer Reduktion, sondern durch Kumulation und Anlagerung. Sie sind willkürlich und zu-fällig. Sie gelten immer ganz und gar, aber nur im Augenblick, doch der kann ewig dauern: willkürlich und zu-fällig. Es mögen auch immer Vernunftgründe zu ihnen beigetragen haben; aber nicht, weil sie begründet wa-ren, sondern weil sie Beifall gefunden haben. Denn was stört, kommt unter den Teppich, und wenn es noch so vernünftig wäre. Es bleibt alles privat, wem es nicht gefällt, der kann ja gehen.
*
In den achtziger Jahren trat in Deutschland eine Partei auf, die die Konsensfindung anstelle von Mehrheitsbe-schlüssen zum politischen Prinzip machte. Politisch heißt öffentlich par excellence, Einvernehmen ist die typische Entscheidungsfindung im Privatbereich. Aufgelöst wurde der Widerspruch durch die Losung Das Private ist poli-tisch, doch praktisch lief es auf die Privatisierung des Politischen hinaus.
Das müssen Sie sich so vorstellen: Wenn alles 'ausdiskutiert' werden muss, bis keine Meinungsunterschiede mehr übrigbleiben, dann dauern Sitzungen bis in die Nacht; die, die am nächsten Tag früh aus den Federn müssen, gehen abends zwischen zehn und elf, wer zäh ist oder lange schlafen kann, bleibt bis nach Mitternacht, und wegen eintretender Müdigkeit werden die Meinungsverschiedenheiten immer kleiner. Es behalten diejeni-gen das letzte Wort, die am längsten ausharren. So kommen "konsensuell" Beschlüsse zustande, die willkürli-cher und zufälliger sind, als es ein Mehrheitsvotum je sein könnte.
*
Das konnte nicht lange dauern, schon gar nicht, seit die Grünen hier und da in Regierungen einrückten. So ab-surd es war – ganz aus der Luft gegriffen war die Grundidee nicht. Denn tatsächlich konstituiert das Politische in gewissem Sinn ein Zwischenreich zwischen Unserer Welt und der Meinen. Es bleibt das Öffentliche par excel-lence, davon ist nichts zurückzunehmen. Aber der Modus der Entscheidungsfindung ist in der Politik nicht der der Wissenschaft. Der Politiker kann nicht warten, bis im stetigen Prozess kritischer Reduktion ein-mal ein Punkt erreicht ist, wo man sagen kann: Das ist 'einstweilen endgültig'. Politische Entscheidungen müssen fallen, wenn sie fällig sind, ob ausdiskutiert oder noch ganz in der Schwebe.
Anders als im wissenschaftlichen Bereich gelten sie ganz und gar, nicht unter Vorbehalt; und anders als im privaten, sind sie terminiert: bis zur nächsten Wegbiegung. Sie sind nicht notwendig, sondern zufällig. Es werden nicht Gründe bis zu ihrer Erschöpfung geprüft, sondern Meinungen gesammelt; Motive, Werturteile, Ästhetisches. Doch wenn die Revision auch nicht permanent ist wie in der Wissenschaft, ist sie in 'vernünftig' organisierten Gemeinwesen immerhin periodisch.
Denn dieser Unterschied zum Privaten, diese Verbindung zu Vernunft, Wissen und Wissenschaft bleibt unbe-schadet: Alle Akteure, idealiter auch die privaten Wahlberechtigten, erkennen und messen einander als einem höheren Zweck und allgemeingültigen Gründen verpflichtet. Anders als in Meiner Welt gilt auch im Politischen der Hinblick auf ein Absolutes, und darum gehört es zu Unserer Welt.
Montag, 15. Februar 2016
Hat Vernunft einen Zweck?
Rainer Sturm, pixelio.de
Es soll Vernunft geben, damit Öffentlichkeit herrschen kann.
aus e. Notizbuch,im August 2008
Es soll Vernunft geben, damit Öffentlichkeit herrschen kann.
aus e. Notizbuch,im August 2008
Es soll Vernunft herrschen, damit es Öffentlichkeit geben kann.
Nur wo Öffentlichkeit sein soll, muss Vernunft herrschen.
In der Öffentlichkeit kann nur Vernunft herrschen.
Wo Vernunft herrschen soll, muss Öffentlichkeit sein.
Sonntag, 14. Februar 2016
Vernunft ist das allgemeinste Verkehrsmittel.
lokomotive-online
Dass die Sätze der Vernunft gelten, ist keine theoretische Erkenntnis, die aus hinreichenden Gründen herzu-leiten wäre, sondern ein praktisches Postulat, das gelten soll, weil anders nichts sicher gewusst werden könnte. –
Aber was wäre daran gelegen? Es ginge ja auch, wenn alles nur vorläufig gälte, unter Kautelen, cum reservatio mentalis – denn so ist es ja wirklich. Ja, aber dann ist eine Verständigung schon von nur Zweien nicht mehr möglich. Dass die Sätze der Vernunft gelten, ist ein Erfordernis des täglichen Lebens in unserer Welt. In meiner Welt brauchen sie nicht zu gelten – und tun es nicht.
Mit andern Worten, Vernunft ist das Medium des zwischenmenschlichen Verkehrs – nicht weniger und nicht mehr.
aus e. Notizbuch, 20. 1. 06
Samstag, 13. Februar 2016
Konsens oder kritische Reduktion?
aus wikipedia
'Vernunft und Öffentlichkeit bedeuten dasselbe...' - sofern nämlich Öffentlichkeit schlechterdings Kritik bedeu- tet, und zwar Kritik ohne jede Grenze, weder in der Zeit noch im Raum.
Vernunft ist kein Stoff und keine Energie, die man haben oder nicht haben kann. Vernünftig kann man sein, und das bedeutet: allgemein nur gelten lassen, was sich der Kritik stellt und ihr standhält. 'Vernunft' ist der Inbegriff all dessen, was die Kritik überstanden haben wird. Sie ist ein bloßes proiectum, weil die Kritik sachlich nie zu einem Ende kommt.
Nein, damit ist Vernunft nicht als Konsens oder als bloße Intersubjektivität bestimmt. Konsens ist das, was eine bestimmte und daher zufällige Anzahl von Individuen unter sich zu einem gegebenen Zeitpunkt aus je gegebe-nen, aber unergründlichen Motiven als momentan für einander gelten sollend vereinbart haben. Eine Art klein- ster gemeinsamer Nenner, eine Menge, die zu einem andern Zeitpunkt größer oder kleiner hätte ausfallen oder auch ausbleiben können. Das ist in logischer Hinsicht so kontingent wie das gelegentliche Meinen und Dafür- halten von Irgendwem. 'Was Vernunft gewesen sein wird' ist nicht Ergebnis einer allmählichen, einvernehmlich Anhäufung, sondern im Gegenteil Resultat einer Reduktion: Das, was der prozessierenden öffentlichen Kritik noch immer standhält, darf als allgemein und notwendig gelten. Vom privaten Meinen des einen oder andern ist es ganz unabhängig.
Merke: Was nicht in die Öffentlickeit gehört, ist der Vernunft gleichgültig.
24. 5. 2015
Freitag, 12. Februar 2016
Von der allmählichen Verfertigung der Vernunft im Verkehr.
„Ich schwöre Ihnen,“ erwiderte Ulrich ernst, „dass weder ich noch irgendjemand
weiß, was der, die, das Wahre ist; aber ich kann Ihnen versichern, dass es im Begriff steht,
verwirklicht zu werden!“ „Sie sind ein Zyniker!“erklärte Direktor Fischl und eilte davon.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
Vernunft nennen wir die Annahme, dass es ein Urteilsvermögen gibt, welches als einem Jeden („der menschli-ches Antlitz trägt“, sagt Fichte) in gleichem Maße gegeben vorausgesetzt, und dessen Betäti-gung einem Jeden in gleichen Maße zuzumuten ist.
Wenn das Ich sich selber setzt; wenn jeder seine eigne Welt entwirft; wenn mein Wissen mein eigenes Kon-strukt ist – wie ist es möglich, dass auf dieser Welt auch nur Zweie sich über auch nur Eines verständigen können?
Als sich vor zwei, drei Millionen Jahren in Ostafrika das Klima erwärmte und den Regenwald zu einer Feucht-savanne ausdünnte, zogen sich unsere Vorfahren nicht, wie ihre äffischen Vettern, mit dem Dschungel zurück, sondern stiegen stattdessen auf den Boden herab. Eine Feuchtsavanne ist kein einheitlicher Lebensraum, an den man sich spezialistisch “anpassen” kann. Sie besteht aus vielen Vegetations- und Klimainseln, wo ganz unter-schiedliche Bedingungen gegeben sein mögen, aber von denen keine einem großen Säuger als dauernder Wohnort ausreicht. Jedenfalls gewöhnten sie sich an, von einer zur andern zu wechseln. Über Millionen Jahre lebten unsere Vorfahren von da an als Nomaden und Entdeckungsreisende.
Dabei begegnet ihnen erstens immer wieder Unbekanntes – das ‘noch keine’ Bedeutung hatte; und zu den Be-deutungen, die ihnen der Urwald in Jahrmillionen angeerbt hatte, fanden sie nicht mehr die passenden ‘Dinge’. Sie mussten ’sich was einfallen lassen’, mussten Bedeutungen ahnend neu ‘heraus’-, d. h. hinein-finden, und mussten Fremdes mit dunklen Erinnerungen an Vergangenes vergleichen. Sie mussten sich ein Bedeutungs-reservoir angelegen, das übertragbar, das tragbar, das transportabel war. Es kann mit Allem verglichen werden, was auftaucht, und alles, was auftaucht, ist mit der Erwartung ausgezeichnet, vergleichbar zu sein: “Passt oder passt nicht?” Erweist es sich als inkommensurabel – dann ist es nicht etwa ‘bedeutungslos’, sondern im Gegen-teil etwas ganz Besonderes.
An die Stelle der verlorenen ‘Umwelt’ ist nun eine Welt getreten, die ‘zuerst’ (in Symbolen transportabel und) in der Vorstellung ‘da ist’, an der die begegnenden ‘Dinge’ gemessen und auf ihre Tauglichkeit geprüft werden. Was “passt”, hat Chancen, (für) ‘wahrer’ genommen zu werden, als was nicht passt oder nicht so gut passt. Jenes, das Fremde, hat dagegen Chancen, einer ‘höheren’ Wirklichkeit zugerechnet zu werden, die gleichermaßen an-ziehend und bedrohlich sei kann. (Es ist die animistische Welt des Totems.)
Und um diese Vorstellungswelt von einer Insel zur andern transpor-tieren zu können, musste ein Behältnis ausgebildet werden. Die (schubweise) Vergrößerung des menschlichen Gehirns folgt der Er-findung des aufrechten Ganges und der Ausweitung des menschli-chen Aktionsradius. Verlassen hatten wir einen sicheren Ort, wo alles so war, wie es war, und wo wir es darum nicht “bemerken” mussten. Ein Ich, das sich von diesem Ort unterscheiden musste, war nicht ‘da’. Das änderte sich drastisch, als wir ‘zur Welt kamen’. Dieser Ort war ein vages Durcheinander von Wundern und Unwäg-barem, das “immer neu” begegnete. Ein ‘ruhender’ Pol im steten Wechsel ist allein die wandernde Menschengruppe, die sich als beharrendes Subjekt in einer flüchtigen… ja eben: Welt behauptete.
Der einstmals umweltlich ungeschiedene Erlebensraum der Individuen zerfällt in ein Drinnen – die gewisse Gruppe –, und ein ungewisses Draußen. Je dringlicher es der Vergewisserung des Draußen bedarf, umso nöti-ger wird die Verständigung im Innern. Die – von nun an selbst gemachte – Geschichte der Gattung Mensch geschieht im Verkehr. Verkehr heißt Mitteilung. Mitteilung bedarf eines Vehikels, eines “Gefäßes”, in dem die je gemeinte Bedeutung vom Einen zum Andern gereicht wird. Je öfter das Mitteilen nötig wird, umso fester muss das Gefäß sein. Eine Bedeutung, die in einer Gebärde symbolisiert wird, ist weniger haltbar als eine, die in einem gesprochenen Wort symbolisiert ist. Und nur in unablässigem Verkehr kann die Bedeutung des Symbols andererseits auch Erhalten bleiben.
Aber ich bin auch in ‘meiner’ Welt nicht allein. Ich stehe von Anbeginn bis Schluss in Verkehr. Im Verkehr kann der Eine an die Stelle des Andern treten. Im Verkehr wird der Wechsel der Perspektiven habituell. Aus dem Verkehr erwachsen Abstände und Nähen, der Verkehr manifestiert Unterschiede und schafft Reflexion. Verkehr ist Vermittlung. In der Welt, die Verkehr ist, ist nichts unmittelbar. Genauer gesagt: In ‘unserer’ Welt ist nichts unmittelbar, ist alles nur ‘vermittels…’: Alles ist verkehrt. Das Unmittelbare kommt allein in ‘meiner’ Welt vor. In ‘unserer’ Welt kann ich es nur symbolisch vermittelt “zur Sprache bringen” – was in ‘meiner’ Welt gar nicht nötig ist.
29. 8. 2013
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
Abonnieren
Posts (Atom)