Das Wunder ist, dass wir Sachen begreifen, die wir uns nicht vorstellen können.
Im bloßen Begriff geht der anschauliche Anteil der Vorstellung verloren. Das stammt offenbar aus der Reflexion. In der Reflexion unterscheidet der Vorstellende sich-selbst von seiner Vorstellung; und die Vorstellung von ihm-selbst. Nicht nur das Subjekt wird verselbständigt, sondern sein Objekt: Im Vorstellen sind Ich und das Vorgestellte noch ungeschieden. Im Vorstellen2 des Vorstellens1 verdreifacht sich die Vorstellung: in das Vorgestellte, in den Vorstellenden und in den Vorstellungsakt – als dem tätigen Verhalten des einen zum andern. Dabei müssen die Anschauung als das Was und der Anschauende als der Wer der Vorstellung verloren gehen (können) und das Wie des Vorgestellten sich verselbständigen (können).
Der springende Punkt ist offenbar die Symbolisierung – als der Sprung aus dem analogen in den digitalen Modus der Repräsentation. Sie entsteht bereits im Übergang vom unmittelbaren Anschauen zum Wieder-Hervorholen aus dem Gedächtnisfundus; das nämlich so lange prekär und zufällig blieb, als der Gedächtnisspeicher nicht geordnet war. Wie soll ich eine gehabte Anschauung wiederfinden in all dem Chaos ohne einen hervorstechenden Anhaltspunkt? Das ist schwerer als ein Element in einem tausendteiligen Puzzle aufzufinden, von dem ich immerhin Größe und Umriss kenne.
Ob das Symbolisieren eher aus der Vorratshaltung oder eher aus den Erfordernissen der Mitteilung entstanden ist, ist unerheblich, weil die selber mit- und auseinander entstanden sein werden. Man könnte annehmen, dass die ersten Symbolisierungen aus dem Herausgreifen besonders augenfälliger 'Aspekte' hervorgegangen sind, die so zu Merkmalen werden – immer noch im analogen Modus.
Der Übergang zum bloßen Zeichen ohne anschaulichen Nachahmungsanteil macht die Digitalisierung der Vorstellung in specie aus. Es handelt sich offenbar um Lautzeichen, um Wörter; um die Entstehung der Sprache. Denn zwar nicht für das Vorstellen selbst, aber sehr wohl für das diskursive Denken in Begriffen, das notfalls ohne jedes anschauliche Residuum auskommt, ist die Ausbildung von Sprachen die Bedingung: eines artikulierten Systems, eines "Spiels" mit vereinbarten Figuren und Regeln.
Wobei die Anschauung offenbar nicht wirklich verloren geht, sondern nur einstweilen abgelegt wird – in den Gedächtnisspeicher, wo es aufgehoben ist und aus dem es durch Aufrufen des zugeordneten digits zu jeder Zeit reaktiviert und vergegenwärtigt werden kann.
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Der Übergang vom analogen in den digitalen Modus bleibt das eigentliche Mysterium des Geistes – von dem wir allerdings wissen, dass es wirklich stattgefunden hat. Der Schritt vom Lautzeichen zum Schriftzeichen und vom Wortzeichen zum mathematischen Symbol erscheint demgegenüber nur als die geschäftsmäßig Leistung eines tüchtigen Handwerkers. Auch das Übersetzen ganzer Operationsstränge in mathematische Formeln bleibt in diesem Rahmen.
Anschauung ohne Begriff sei blind, meinte Kant, aber Begriffe ohne Anschauung seien leer. Das bezog sich auf die Philosophie der Wolffs und Baumgartens, der er selber angehangen hatte und die so verfuhr, als wenn eine Sache schon verstanden sei, wenn man nur ein Wort durch so und so viele andere 'definiert' hatte; und die arglos darauf vertraute, aus dem Kombinieren von Begriffen materiale Erkenntnisse synthetisieren zu können.
Nicht gedacht hat er an die moderne Physik, die sowohl im Makro- wie im Mikrobereich in mathematischen Formeln Sachverhalte beschreibt, die als wirklich gelten, bei denen sich aber niemand mehr etwas vorstellen kann, weil sie jenseits unserer Anschauungsmöglichkeiten liegen. Und es lassen sich daraus operativ Hypothesen entwickeln, die ihrerseits durch Experimente verifizierbar sind: Es lässt sich aus Begriffen materiales Wissen konstruieren! Allerdings immer nur mittelbar, durch Rückschluss; nie direkt.
Vorstellen können wir uns nur einen Raum mit drei Dimensionen – und die Zeit gesondert daneben. Ein vierdimensionales Raum-Zeit-Kontinuum können wir im Begriff denken; aber wenn es sich einer vorstellen will, muss er hilfsweise auf ganz unzulängliche Analogien aus unserer dreidimensionalen Anschauung zurückgreifen. Dem theoretischen Physiker unserer Tage wird das Operieren mit mathematischen Symbolen und Formeln so geläufig geworden sein, dass er sich darin zu Hause fühlt und meint, er könne sich 'dabei was vorstellen'. Doch dann müsste er es einem Außenstehenden veranschaulichen können. Und das geht mit einem Partikel, das zugleich, aber ebenso ausschließend eine Welle ist, genau so wenig wie mit einem Raum, der selber Zeit ist.
Hier wird als Begriff im Gedächtnisspeicher etwas abgelegt, dem nie ein anschauliches Substrat zu- grunde lag. Es werden begriffliche Kombinationen der ersten Ordnung in mathematische Formeln gefasst und durch einen Begriff zweiter Ordnung ausgezeichnet, durch den sie ihrerseits abrufbar sind. Aber eine Anschauung, so residual sie sei, schiebt sich nicht dazwischen. Da wird nichts vor- gestellt.
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Wenn Ihnen einer sagt, er könne sich unterm Urknall etwas vorstellen, erliegt er einer Täuschung. Er hat an die Stelle einer mathematischen Formel ein mythisches Bild geschoben, und das ist allerdings anschaulich. Überführen können sie ihn, wenn Sie ihn auffordern, sich die letzte Sekunde – oder Nanosekunde – vor dem Urknall vorzustellen. Da könnte er nämlich nur den flüchtigen Schatten von Gottvater 'anschauen'.
Und recht besehen reichen auch die mathematischen Formeln gar nicht bis in den Urknall hinein, sondern immer nur bis ganz kurz – 'unendlich nah' – davor. Drinnen lässt sich nicht einmal mehr etwas denken. Aber dass es in der Sekunde – oder Nanosekunde – davor Nichts gegeben haben sollte, können wir schon gar nicht denken, weil wir uns dabei… nichts vorstellen können.
im Sommer 2013
JE
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