aus Allgemeine Pädagogik
Anything goes.
Cole Porter
Die
Frage nach dem „Grund“ – wie altertümlich! Die Dunkelmänner der
Postmoderne wissen es längst: das Wahre ist nur ein Mythos, der falsche
Schein, dem das Abendland verfallen war und all seine Perversionen
schuldet – von der Inquisition über Auschwitz bis zum Gulag. Darüber ist
der Zeitgeist längst hinweg, seine Schamanen psalmodieren das Ende der
Ideologien, der Geschichte sogar, und als der Weltweisheit letzter
Schrei erweist sich Cole Porters Hit aus den Dreißigern: „Anything
goes!“
Wahr
ist alles, was funktioniert – und solange, wie es funktioniert: Das war
ein brauchbares regulatives Prinzip einer exakten Naturwissenschaft,
die Forschung um ihrer technischen Verwertung willen trieb. Als Zweck
der Wissenschaft definierte der Pragmatismus ausdrücklich: Vorhersagen
machen. Das mochte einem Chemiker des 19. Jahrhunderts genügen – einem
Astrophysiker und Kosmologen unserer Tage nicht! Es gibt keine
Grundlagenforschung ohne die Frage nach Wahrheit.*
Was
in der Naturwissenschaft bloß überholt ist, wird in den
Geisteswissenschaften, wo’s um die Sinnfragen geht, zur Mummenschanz.
Wahrheit = ein patchwork, Flickenteppich, Narrengewand: Hauptsache bunt!
Unter der Firma des ‚Konstruktivismus’ darf jeder sein Glück versuchen,
warum auch nicht, Wahrheiten kommen und gehen, nehmt’s doch nicht so
ernst! Statt der Philosophie haben wir Bindestrich-Philosophien. Und
statt Pädagogik nur Bindestrich-Pädagogiken. Ganz wichtig zwar, aber daß
es ihren Zöglingen nicht gelingt, sie ernst zu nehmen – wen wird es
wundern?
Alles
fließt? Der Zeitgeist bestimmt. Er kommt aus den Hochglanz-Postillen,
und da soll man ihn ruhig lassen. Ernster klingt der (scheinbar)
entgegengesetzte Einwand: ‚Ein Erster Grund, den sich jeder selber
setzt?! Das hieße der Beliebigkeit Tür und Tor öffnen!’ Wie bitte? Wenn
sich einer ‚seinen’ Grund als ein Absolutes setzt – wird es dadurch zu
einem Relativen? Muß ich Eines, um es als mein Absolutes setzen zu
dürfen, zugleich als das Absolute der Andern erkennen können? Weil
Eines, um mir absolut gelten zu können, von Andern als absolut anerkannt
worden sein muß? Ich dürfte also immer nur das Absolute der Andern
anerkennen!
Für
das Ästhetische behauptet das keiner. Vom Sittlichen denken das Alle.
Warum? Weil sie meinen, der Zusammenhalt des Gemeinwesens hinge davon
ab. Sie verwechseln es mit dem Recht. Das freiheitlich-demokratische
Gemeinwesen beruht – nicht in der Wirklichkeit, aber wir sehen es so an,
als ob: Das macht seinen Sinn aus! – auf dem freien Vertrag autonomer
Subjekte. Ein Absolutes, worüber sich zwei verständigen konnten, wird
ipso facto ein Relatives: So ‘rum wird ein Schuh draus. Das Absolute ist
weder konsensfähig noch konsensbedürftig.
Die
Sittlichkeit sagt, was ich mir selber schulde, das Recht sagt, was ich
andern schulde. Dieses ist meine Pflicht, jenes sind die Ansprüche der
andern gegen mich. Über jene müssen – und können – wir uns verständigen,
über diese nicht. Mein erster, letzter, absoluter Grund muß sich, als
rechtes Handeln, in meinem Leben bewähren. Ich muß mich dann „in der
Welt“ bewähren – per Verhandlung und Vertrag, wenn’s sein soll. Das
ergäbe einen Nachtwächterstaat ohne Pathos und Würde? Sein Pathos und
seine Würde ist, daß er die Freiheit einer jeden Person, sich zu ihrer
eignen Pflicht zu bestimmen, zu seinem Rechtsgrund macht. Ist das wem zu
wenig, soll er’s sagen.
Ach,
Leviathans Kinderfänger, die Pädagogen! „Die Menschen brauchen
Orientierung!“ Nein, gerade das brauchen sie nicht. Es muß sich ein
jeder selber orientieren. „Die Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit
ist das, was man Erziehung nennt.“** Sie aber meinen in Wahrheit: Die Menschen sollen sich von ihnen
orientieren lassen – ausgerechnet! Gottlob meinen sie’s nicht ernst. Ein
Absolutes käme ihnen, Zeitgeist behüte, gar nicht in den Sinn. Werte – ein „verbindlicher Werteunterricht“ tut’s auch.
Daß
sie das Absolute zu Häppchen farcieren, macht die Sache zwar nicht
besser, denn irgendwas, irgendwer (?) müßte deren Geltung doch verbürgen
können. Ein „bißchen Wahrheit“ gibt’s so wenig wie ein bißchen…
Unschuld. Doch ich hab eine Ahnung: Anything goes! Wahr
ist, was funktioniert. Um den Ruf unserer Schulen ist es nicht gut
bestellt. Daß sie junge Menschen bilden, glaubt kaum einer. Nun ein
neuer Schibboleth, ein weiteres Gadget, noch ein Bindestrich:
Werte-Pädagogik! Man kann einen Ausbildungsgang dafür einrichten, mit
C4-Professur. Wenn’s funktioniert…
*) vgl. Stephen Toulmin, Voraussicht und Verstehen; Frankfurt a. M. 1968
**) J. G. Fichte, Sämmtliche Werke, Bd. III, S. 39