Sonntag, 31. August 2014
Analytiker.
w.r.wagner / pixelio.de
56. Ist denn die Wahrheit ein Zwiebel, von dem man die Häute nur abschält?
Was ihr hinein nicht gelegt, ziehet ihr nimmer heraus.
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Fr. Schiller in Zahme Xenien
Samstag, 30. August 2014
Querdenken.
Querdenken ist keine Tugend. Am besten denkt man doch immer noch geradeaus, solange es geht, dann kann man auch stets überblicken, woher man kommt; denn wie sollte man sonst wissen, wo man ist?
Manchmal gerät man in ein Gestrüpp, da muss man wohl auch mal um die Ecke denken. Doch wenn der Knoten zu dicht wird, braucht man ein Alexanderschwert.
Dann gehts weiter gradaus.
Freitag, 29. August 2014
Das Reich der Vernunft.
Der letzte Schritt der Vernunft ist, daß sie erkennet, es giebt unzählige Dinge, die sie übersteigen. Sie ist sehr schwach, wenn sie nicht bis so weit geht. Man muß verstehen zu zweifeln, wo es sein muß, zu behaupten, wo es sein muß und sich zu unterwerfen, wo es sein muß. Wer das nicht thut, kennt nicht die Kraft der Vernunft.
Manche sündigen gegen diese drei Principien, entweder indem sie alles behaupten als beweisend, weil sie sich nicht auf Beweise verstehn, oder indem sie an allem zweifeln, weil sie nicht wissen, wo man sich unterwerfen muß, oder indem sie sich in allem unterwerfen, weil sie nicht wissen, wo man urtheilen soll.
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Blaise Pascal, Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Berlin 1840, S. 273
Nota.
Vernünftig wird sie überhaupt erst, wenn sie erkennt: Sie gilt nur dort. Dass aber dort nur sie gilt, weiß sie längst und soll sie nicht vergessen.
JE
Donnerstag, 28. August 2014
Alles, nichts und allerlei.
164. Die Fehler der griechischen Sophisten waren mehr Fehler aus Ueberfluß als aus Mangel. Selbst in der Zuversicht und Arroganz, mit der sie alles zu wissen, ja auch wohl zu können glaubten und vorgaben, liegt etwas sehr philosophisches, nicht der Absicht, aber dem Instinkt nach: denn der Philosoph hat doch nur die Alternative, Alles oder Nichts wissen zu wollen. Das, woraus man nur Etwas, oder Allerley lernen soll, ist sicher keine Philosophie.
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(Friedrich Schlegel) Athenäum, Ersten Bandes Zweytes Stück. Berlin 1798
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
Mittwoch, 27. August 2014
Arroganz.
337. Arrogant ist, wer Sinn und Karakter zugleich hat, und sich dann und wann merken läßt, daß diese Verbindung gut und nützlich sey. Wer beydes auch von den Weibern fodert, ist ein Weiberfeind.
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(Friedrich Daniel Schleiermacher) Athenäum, Ersten Bandes Zweytes Stück. Berlin 1798
Dienstag, 26. August 2014
Fragmentarisch philosophieren.
21. Es wird manches gedruckt, was besser nur gesagt würde, und zuweilen etwas gesagt, was schicklicher gedruckt wäre. Wenn die Gedanken die besten sind, die sich zugleich sagen und schreiben lassen, so ists wohl der Mühe werth, zuweilen nachzusehen, was sich von dem Gesprochnen schreiben, und was sich von dem Geschriebnen drucken läßt.
Anmaßend ist es freylich, noch bey Lebzeiten Gedanken zu haben, ja bekannt zu machen. Ganze Werke zu schreiben ist ungleich bescheidner, weil sie ja wohl bloß aus andern Werken zusammengesetzt seyn können, und weil dem Gedanken da auf den schlimmsten Fall die Zuflucht bleibt, der Sache den Vorrang zu lassen, und sich demüthig in den Winkel zu stellen. Aber Gedanken, einzelne Gedanken sind gezwungen, einen Werth für sich haben zu wollen, und müssen Anspruch darauf machen, eigen und gedacht zu seyn.
Das einzige, was eine Art von Trost dagegen giebt, ist, daß nichts anmaßender seyn kann, als überhaupt zu existiren, oder gar auf eine bestimmte selbständige Art zu existiren. Aus dieser ursprünglichen Grundanmaßung folgen nun doch einmal alle abgeleiteten, man stelle sich wie man auch will.
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(Friedrich Schlegel) Athenäum, Ersten Bandes Zweytes Stück. Berlin 1798
Nota.
Ist ein Gedanke, wenn er in einem Blog steht, "gedruckt"?
Was man schwarz auf Weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. Das können Sie mit einem Blog nicht. Wer ein Blog zitieren will, ist dumm dran. Der Blogger kann seinen Eintrag noch am selben Tag ändern, ohne es vermerken zu müssen.
Eigentlich sind Blogs also 'nicht zitierbar', und manch einer würde meinen, damit sind sie für die Katz. Es kommt allerdings auch auf die Art des Zitierens an. Wer in philologischer Absicht zitieren und den Wortlaut nach Punkt und Komma auseinandernehmen will, hat an einem Blog keine Freude. Und der Blogger, der für philologisch motivierte Leser schreibt, ist auf dem falschen Dampfer.
Wem es also beim Lesen zu allererst ums Zitieren geht, ist auf einem Blog nicht ganz an der richtigen Adresse. Nämlich nicht, wenn es ihm beim Zitieren auf den Wortlaut ankommt. Am besten ist ein Leser bedient, dem es beim Lesen nicht aufs Zitat, sondern auf den Gedanken ankommt, wenn er auf einen Blogger stößt, dem es beim Schreiben nicht aufs Zitiertwerden, sondern... auf die Gedanken ankam.
JE
Montag, 25. August 2014
Das Ich ist hassenswert.
Ameisenlöwe
23. Das Ich ist hassenswerth und so sind diejenigen immer hassenswerth, die es nicht wegräumen, sondern die sich begnügen es nur zu verhüllen. »Keineswegs, werdet ihr sagen, denn wenn wir handeln, wie wir thun, dienstfertig gegen alle Welt, so hat man keinen Grund uns zu hassen.« Das ist wahr; wenn wir in dem Ich nichts mehr haßten als das Mißvergnügen, was uns von demselben herkommt. Aber wenn ich es hasse, weil es ungerecht ist und sich zum Mittelpunkt von allem macht, so muß ich es immer hassen.
Mit einem Wort, das Ich hat zwei Eigenschaften: es ist ungerecht an sich darin, daß es sich zum Mittelpunkt von allem macht, es ist den andern lästig darin, daß es sich dienstbar machen will; denn jedes Ich ist der Feind und wäre gern der Tyrann von allen andern.
Ihr nehmt daraus das Lästigsein weg und nicht die Ungerechtigkeit und so macht ihr es noch nicht liebenswürdig für die, welche daran die Ungerechtigkeit hassen, sondern nur für die Ungerechten, die darin nicht mehr ihren Feind sehen und so bleibt ihr ungerecht und könnt auch nur den Ungerechten gefallen.
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Blaise Pascal, Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Berlin 1840, S. 178
Sonntag, 24. August 2014
Die Dunkelmänner der Postmoderne.
Die Frage nach dem „Grund“ – wie altertümlich! Die Dunkelmänner der Postmoderne wissen es längst: das Wahre ist nur ein Mythos, der falsche Schein, dem das Abendland verfallen war und all seine Perversionen schuldet – von der Inquisition über Auschwitz bis zum Gulag. Darüber ist der Zeitgeist längst hinweg, seine Schamanen psalmodieren das Ende der Ideologien, der Geschichte sogar, und als der Weltweisheit letzter Schrei erweist sich Cole Porters Hit aus den Dreißigern: „Anything goes!“
Wahr ist alles, was funktioniert – und solange, wie es funktioniert: Das war ein brauchbares regulatives Prinzip einer exakten Naturwissenschaft, die Forschung um ihrer technischen Verwertung willen trieb. Als Zweck der Wissenschaft definierte der Pragmatismus ausdrücklich: Vorhersagen machen. Das mochte einem Chemiker des 19. Jahrhunderts genügen – einem Astrophysiker und Kosmologen unserer Tage nicht! Es gibt keine Grundlagenforschung ohne die Frage nach Wahrheit.*
Was in der Naturwissenschaft bloß überholt ist, wird in den Geisteswissenschaften, wo’s um die Sinnfragen geht, zur Mummenschanz. Wahrheit = ein patchwork, Flickenteppich, Narrengewand: Hauptsache bunt! Unter der Firma des ‚Konstruktivismus’ darf jeder sein Glück versuchen, warum auch nicht, Wahrheiten kommen und gehen, nehmt’s doch nicht so ernst! Statt der Philosophie haben wir Bindestrich-Philosophien. Und statt Pädagogik nur Bindestrich-Pädagogiken. Ganz wichtig zwar, aber daß es ihren Zöglingen nicht gelingt, sie ernst zu nehmen – wen wird es wundern?
Alles fließt? Der Zeitgeist bestimmt. Er kommt aus den Hochglanz-Postillen, und da soll man ihn ruhig lassen. Ernster klingt der (scheinbar) entgegengesetzte Einwand: ‚Ein Erster Grund, den sich jeder selber setzt?! Das hieße der Beliebigkeit Tür und Tor öffnen!’ Wie bitte? Wenn sich einer ‚seinen’ Grund als ein Absolutes setzt – wird es dadurch zu einem Relativen? Muß ich Eines, um es als mein Absolutes setzen zu dürfen, zugleich als das Absolute der Andern erkennen können? Weil Eines, um mir absolut gelten zu können, von Andern als absolut anerkannt worden sein muß? Ich dürfte also immer nur das Absolute der Andern anerkennen!
Für das Ästhetische behauptet das keiner. Vom Sittlichen denken das Alle. Warum? Weil sie meinen, der Zusammenhalt des Gemeinwesens hinge davon ab. Sie verwechseln es mit dem Recht. Das freiheitlich-demokratische Gemeinwesen beruht – nicht in der Wirklichkeit, aber wir sehen es so an, als ob: Das macht seinen Sinn aus! – auf dem freien Vertrag autonomer Subjekte. Ein Absolutes, worüber sich zwei verständigen konnten, wird ipso facto ein Relatives: So ‘rum wird ein Schuh draus. Das Absolute ist weder konsensfähig noch konsensbedürftig.
Die Sittlichkeit sagt, was ich mir selber schulde, das Recht sagt, was ich andern schulde. Dieses ist meine Pflicht, jenes sind die Ansprüche der andern gegen mich. Über jene müssen – und können – wir uns verständigen, über diese nicht. Mein erster, letzter, absoluter Grund muß sich, als rechtes Handeln, in meinem Leben bewähren. Ich muß mich dann „in der Welt“ bewähren – per Verhandlung und Vertrag, wenn’s sein soll. Das ergäbe einen Nachtwächterstaat ohne Pathos und Würde? Sein Pathos und seine Würde ist, daß er die Freiheit einer jeden Person, sich zu ihrer eignen Pflicht zu bestimmen, zu seinem Rechtsgrund macht. Ist das wem zu wenig, soll er’s sagen.
Ach, Leviathans Kinderfänger, die Pädagogen! „Die Menschen brauchen Orientierung!“ Nein, gerade das brauchen sie nicht. Es muß sich ein jeder selber orientieren. „Die Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit ist das, was man Erziehung nennt.“** Sie aber meinen in Wahrheit: Die Menschen sollen sich von ihnen orientieren lassen – ausgerechnet! Gottlob meinen sie’s nicht ernst. Ein Absolutes käme ihnen, Zeitgeist behüte, gar nicht in den Sinn. Werte – ein „verbindlicher Werteunterricht“ tut’s auch.
Daß sie das Absolute zu Häppchen farcieren, macht die Sache zwar nicht besser, denn irgendwas, irgendwer (?) müßte deren Geltung doch verbürgen können. Ein „bißchen Wahrheit“ gibt’s so wenig wie ein bißchen… Unschuld. Doch ich hab eine Ahnung: Anything goes! Wahr ist, was funktioniert. Um den Ruf unserer Schulen ist es nicht gut bestellt. Daß sie junge Menschen bilden, glaubt kaum einer. Nun ein neuer Schibboleth, ein weiteres Gadget, noch ein Bindestrich: Werte-Pädagogik! Man kann einen Ausbildungsgang dafür einrichten, mit C4-Professur. Wenn’s funktioniert…
*) vgl. Stephen Toulmin, Voraussicht und Verstehen; Frankfurt a. M. 1968
**) J. G. Fichte, Sämmtliche Werke, Bd. III, S. 39
Samstag, 23. August 2014
Postmoderne Erste Philosophie.
Eine rein theoretische Philosophie, die eruiert, wie die Welt beschaffen ist, müsste doch früher oder später die Frage beantworten, wie es die Welt anstellt, in das Subjekt hineinzukommen, denn nur in der Antwort darauf kann sich die ganze theoretische Vorarbeit rechtfertigen.
Um das Subjekt kommt man also auch in diesem Fall nicht herum. Wenn es schon nicht der erste Anfang ist, müsste es immer noch der zweite Anfang sein.
Es gibt zwei Möglichkeiten, das Subjekt als sein Objekt bestimmendes – und nur so ist es Subjekt – aufzufassen.
Erstens als Bedürfnis, das in sich aufnimmt. Zweitens als Drang, der aus und über sich hinaus will. (Denn eine homöostatische Nullsumme, wo Input und Output sich ausgleichen, wäre kein Subjekt.) Und beides gilt sowohl, wenn ich das Subjekt bloß als Intelligenz, als wenn ich es als ganze Physis auffasse.
Insofern trifft jede Erste Philosophie, wo immer sie anfängt, eine anthropologisch-theoretische und ipso facto eine praktisch-transzendentale Vorentscheidung. Und so auch die Wissenschaftslehre. Sie versteht das Subjekt apriori als Drang nach außen.
Die Alternative ist nicht: 'Dogmatismus oder Idealismus'; der Dogmatismus kann unser Wissen vom Objekt ja nicht erklären. Die allein mögliche - idealistische - Alternative ist vielmehr:
das Ich als ein sich-Setzendes
oder
das Ich als ein Reinziehendes.
Mit andern Worten, das praktische Prinzip kommt vor dem theoretischen.
*
An aller postmoderner Denkelei, angefangen bei Michel Foucault,* fällt auf, dass sie das Wesen des Menschen ebenso sorgfältig meiden, wie sie ihre Voraussetzungen vertuschen. Und doch liegt ihnen allen so verstohlen wie entschieden ein Menschenbild zu Grunde – das Ich, das Ansprüche stellt, Bedürfnisse hat und Erlebnisse braucht; ein forderndes, ein zehrendes Subjekt. Seine Objekte 'selber setzend' durchaus – aber nur als die ihm zu-stehenden, ihm an-gemessenen, ihn befriedigenden. Seine Tathandlung ist Einverleiben und Assimilieren.
Freitag, 22. August 2014
Man muss wetten.
scmp.com
Ja, aber es muß gewettet werden, das ist nicht freiwillig, ihr seid einmal im Spiel und nicht wetten, daß Gott ist, heißt wetten, daß er nicht ist. Was wollt ihr also wählen? Laßt uns erwägen: was euch am Wenigsten werth ist. Ihr habt zwei Dinge zu verlieren, die Wahrheit und das Glück und zwei Dinge zu gewinnen, eure Vernunft und euern Willen, eure Erkenntniß und eure Seligkeit, und zwei Dinge hat eure Natur zu fliehen, den Irrthum und das Elend. Wette denn, daß er ist, ohne dich lange zu besinnen, deine Vernunft wird nicht mehr verletzt, wenn du das eine als wenn du das andre wählst, weil nun doch durchaus gewählt werden muß. Hiemit ist ein Punkt erledigt. Aber eure Seligkeit? Wir wollen Gewinn und Verlust abwägen, setze du aufs Glauben, wenn du gewinnst, gewinnst du alles, wenn du verlierst, verlierst du nichts. Glaube also, wenn du kannst.
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Blaise Pascal, Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Berlin 1840, S. 64
Donnerstag, 21. August 2014
Man kann das Leben nur rückwärts verstehen .
H. A. Pegram, Hylas
Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergißt man den andern Satz, daß vorwärts gelebt werden muß.
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Kierkegaard, Die Tagebücher. Deutsch von Theodor Haecker. Innsbruck, Brenner-Verlag 1923, S. 203
Mittwoch, 20. August 2014
Philosophie dichten.
Das Unaussprechbare (das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag) gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt.* [5.10.1931]
Ich glaube, meine Stellung
zur Philosophie dadurch zusammengefasst zu haben, indem ich sagte: Philosophie
dürfe man eigentlich nur dichten. [1933-1934]
__________________________________________________________________ Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 52; 58.
*) Nota.
Und wenn es umgekehrt wäre?
JE
Dienstag, 19. August 2014
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man nicht schweigen
Édouard Drouaut aus Geschmackssachen
Es gibt 'Gehalte' des Erlebens, die - jedenfalls innerhalb derselben Kultur - einem jeden bekannt sind und über die er darum mit jedem andern sprechen kann, sofern sie sich über deren Benennung einigen. Sofern sie sie also gemeinsam 'bezeichnen' können; ohne daß nur einer von ihnen imstande wäre, den exakten Ort anzugeben, den sie im beweglichen System ("Sprachspiel") all der andern 'gültigen' Namen einnehmen - weil sie anscheinend gar nicht darinnen liegen, sondern irgendwo an seiner Grenze. Das sind, mit einem altertümlichen Wort zu reden, Existenzialien, die dem je individuellen Leben gewissermaßen als vorausgesetzt begegnen ("Urphänomene", nach Goethe); wie z. B. Liebe, Leidenschaft, Freiheit, Sinn, Verzweiflung, Schönheit, Glück, Ehre und Anstand. (Übrigens auch Komik und... Wissen.) Ein jeder für sich 'weiß, was gemeint ist'; nur sobald er es einem andern erklären soll, dann geht es ihm wie Augustinus mit der Zeit: Er kann es nicht sagen. Und je kritischer der Geist, der im öffentlichen Diskurs waltet, umso mehr neigen die 'existenziellen' Begriffe dazu, aus dem aktiven Wortschatz ganz zu schwinden.
Daß sie sich seit drei Jahrtausenden - seit das Definieren begonnen hat - der Definition widersetzen, zeigt an, daß sie zur Exposition in diskursiver Wissenschaft nicht taugen. Sie können allenfalls in Bildern gezeigt und in Mythen erzählt werden, denn sie sind uns nie positiv gegeben, sondern immer als Problem. Wir 'haben' sie nicht, sondern wir 'meinen' sie nur. Das ist dann auch eine Form von Wissen (oder 'Gewärtigkeit'), aber eben nicht Wissenschaft, sondern Kunst. Die Kunst "erscheint, als hätte sie gelöst, was am Dasein Rätsel ist", steht bei Th. Adorno. Sie ist nicht das Leben, und sie 'dient' ihm auch nicht wie die Wissenschaften. Sondern sie stellt es dar - als sein Anderes, an dem es 'sich selbst erkennt'. Ob nämlich ihre Verheißung nur eine Täuschung ist, sei selber ein Rätsel, fügte Adorno hinzu. Sie ist eine Lüge, nach Picasso, an der die Wahrheit deutlich wird. Das immerhin hat die Kunst mit der Wissenschaft gemein: daß sie das Andere des Lebens ist. "Wissenschaft ist Kunst, aber Kunst ist nicht Wissenschaft", fand der ungarische Musiker Sándor Végh. Und wenn das Leben 'bestimmt' werden sollte (was es aber nicht nötig hat), so wäre es nur zu bestimmen als das Andere dieses Anderen.
Bislang: Das Leben ist Arbeit: bestimmt als Bestimmen. Aneignung der Welt, Ökonomie, Begreifen. Ist nun die Arbeitsgesellschaft am Ende? Je weniger 'bestimmt' die Welt nun ist, umso weniger erscheint der irreduzible Rest als unbestimmt! Umso weniger rätselhaft erscheint die Welt - nämlich was "an ihrer Grenze liegt". Weniger rätselhaft - weniger 'ästhetisch'? Ein Zeitalter der Neuen Anästhetik? (Schwätzer W. Welsch)
Oder auch: Was dem "System" zu Grunde liegt, kommt im System nicht vor. Von "darinnen" kann man sich seiner nur so eben noch "erinnern" (anámnesis), eigentlich: eräußern. Und zwar nicht so, als ob es einmal 'da' gewesen wäre und dann verloren ging, sondern wie wenn es wohl präsent, aber doch nicht gegeben ist. "Es" hat dich mehr, als du "es" hast; méthexis. Es ist das, worauf alles Andere deutet; sozusagen "die Bedeutung selbst", vulgo Sinn des Lebens - worum es nämlich "allem Wissen zu tun ist", welcher Modalität es auch sei. Da es den Begriffen zu Grunde liegt, kann es unter dieselben nicht gefaßt werden. Man kann es nur in Bildern "sehen lassen" oder Geschichten davon erzählen. Das ist auch ein 'Wissen von...', aber ein anschauliches.
Daß der Alltag, alias Werktag und materieller Verkehr der Menschen, in der "postindustriellen" ("Medien"-) Gesellschaft "remythisiert", also neu "verzaubert" würde - glaubt das jemand im Ernst? Nein, der Alltag schrumpft, nimmt weniger Platz ein im Leben, er wird weniger. Und mit ihm schrumpft die Erwachsenheit der Menschen. Wogegen der Sinn des Lebens bedeutender wird, nämlich unmittelbarer bedeutend. Das tägliche Leben wird unalltäglicher. Nicht, daß die Figuren, in denen vom Sinn des Lebens erzählt wird, unästhetischer würden. Nur wird ihre anschauliche Gegebenheitsweise nicht mehr in aggressivem Gegensatz stehen zum diskursiven Verstand; weil der jetzt weiß, wo er hin gehört und wohin nicht.
[Pädagogik ist Kunst und nicht Wissenschaft. Sie ist eine ästhetische Praxis und wo sie glückt, rechtfertigt sie sich aktual - hier und jetzt und anschaulich. Dabei ist sie nicht "das Leben". Denn das, was sie in ihren Bildern zeigt und in ihren Mythen erzählt, ist nicht das Leben selbst, sondern - sein Anderes; ein Rätsel, an dem es kenntlich wird. Dies Rätsel hat die Pädagogik den Menschen zu vergewärtigen, solange sie in dem Alter sind, wo sie dafür noch Muße haben und das Rätsel noch lockt. Denn hinterher ist es zu spät.]
Der Grund des Lebens ist problematisch: eine (unendliche) Aufgabe - nämlich eine, die sich dadurch "auszeichnet", daß sie nie gelöst ist; "bestimmbar" nur als Rätsel. - Geführt werden kann das Leben immer nur "so, als ob" das Rätsel allbereits gelöst sei. Von diesem Als-ob gibt die Kunst uns ein Bild: "Schönheit". Die moderne Kunst, als 'die zu ihrer Bestimmung gelangte', zeigt zugleich, daß ihre Lösungen Schein sind. Je positiver das Zeitalter, umso problematischer ("subversiv", "kritisch") seine Kunst: 19. Jahrhundert! Mit der Romantik kommt "das Schöne" in Verruf – als etwas, das die Kunst zu entlarven habe. - Am Ende des 20. Jahrhunderts scheint - mit der "Postmoderne" - die Kunst diesen ihren positiven Widerpart verloren zu haben: Weder "Das Rätsel ist gelöst", noch wird die "schöne" Lösung denunziert; sondern: J'm'en fous, anything goes! Es gibt gar keine Rätsel für die, denen eh' alles wurscht ist. - Daß nicht alles wurscht ist, kann mittlerweile nur die Kunst zeigen. Oder auch, das Leben läßt sich nur ästhetisch rechtfertigen.
Montag, 18. August 2014
Das Allzubestimmte.
Honoré Daumier, Conseils à un jeune artiste
Musik sei nicht zu unbestimmt, um in Worte gefasst zu werden, hat Felix Mendelssohn gesagt, sondern zu bestimmt.
Heute würden wir sagen: Das Musikstück – und jedes Kunststück – ist überbestimmt. So sehr bestimmt, dass es durch allgemein-geltende Zeichen eben nicht sicher erfasst und vollkommen re-präsentiert werden kann. Das Kunststück ist singulär. De singularibus non est scientia - Von einem Einzigen gibt es kein Wissen, sagten die Scholastiker. Das, was ganz allein auf der Welt so ist, wie es ist, das kann durch kein Anderes – Bekanntes – auf der Welt beschrieben werden. Es ist lediglich quale; schon quid wäre zu viel gesagt, weil das an ein Verhältnis zu Anderem glauben lässt.
*
Das ist eine erkenntnislogische Sache. Was hat das mit Kunst zu tun? Dies, dass Kunst als solche keine Erkenntnis ist. Als solche, das heißt: sofern sie um ihrer selbst und nicht um eines ihr äußeren Zweckes willen besteht. Das ist aber bei den Werken und sogar den einzelnen künstlerischen Gattungen ganz verschieden. Selbst die Musik, die nur hörbar ist, solange sie erklingt, hat man ein 'Programm' verkünden lassen. Es stört aber meistens, und man tut der Musik und sich einen Gefallen, wenn man es übersieht.
Nicht übersehen lässt sich das Programm, das Thema, die Absicht in den bildenden Künsten. Das Bild als Zeichnung kann ganz unbemerkt zum Zeichen werden für etwas, das nicht es selber ist. Wenn der Betrachter es so nimmt, tut er der Kunst kein Unrecht, das gehört zu ihren Unwägbarkeiten, aber vielleicht dem Künstler, der es nicht so gemeint hat, und sich selber, den der damit von der ästhetischen Qualität des Werks ablenkt.
Und wenn der Künstler selber es so gemeint hat?
Die Verbindung von Zeichnung und Zeichen ist nicht bloß ein Wortspiel. Die Zeichnung ist am Bild das, was am deutlichsten zeigt, was gemeint ist. Der Umriss der Dinge und Figuren, ihre Binnenlinien sind dasjenige, war das Gezeigte im Raum situiert. Die Zeit steht im Bild zwar still, aber dennoch kann das Bild eine Geschichte erzählen, indem es nämlich eine Szene daraus darstellt.
Raum und Zeit sind nun die beiden Merkmale des Wirklichen, mit und in dem wir leben und unsere Interessen haben. Das Wirkliche, das, was uns interresiert, ließe sich auch in Worte fassen, die das spezifische Medium der scientia sind. Was immer sich in Worte fassen ließ, war mit Anderm zu vergleichen und positiv oder negativ oder sonstwie in Beziehung zu setzen. Es war dann kein Einzelnes, sondern etwas, an dem ich Interesse haben und von dem ich wissen kann.
Darf der Künstler es dann in ästhetische Gewänder kleiden und womöglich unerkannt dem Betrachter in die Sinne schmuggeln? Das kann er machen, wenn er sich nicht dabei geniert. Aber die Betrachter - es gibt eben doch einen Fortschritt in der Kunst - haben es im Laufe der Jahrhunderte immer weniger zu schätzen gewusst und teils als Agitprop, teils als Kitsch und teils als Agitpropkitsch verschmäht.
aus Geschmackssachen, 30. 1. 14
Sonntag, 17. August 2014
Reichtum und Armut der Sprache.
openings by danieleyre
In der Sprache liegt die Reflexion, und darum kann die Sprache das Unmittelbare nicht aussagen. Die Sprache tötet das Unmittelbare, und darum ist es unmöglich, in der Sprache das Musikalische auszusagen, aber diese scheinbare Armut der Sprache ist gerade ihr Reichtum. Das Unmittelbare ist nämlich das Unbestimmbare, und darum kann die Sprache es nicht auffassen; dass es aber das Unbestimmbare ist, ist nicht seine Vollkommenheit, sondern ein Mangel an ihm.
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Kierkegaard, Entweder-Oder, München 1975, S. 85
Nota.
Dass die Unbestimmbarkeit des Unbestimmten "ein Magel an ihm" sei, lässt sich gut bestreiten; freilich nicht in der Sprache der Begriffe, sondern mit den Bildern der Anschauung.
JE
Samstag, 16. August 2014
Es ist dem Menschen unmöglich, aus sich heraus zu gehen.
Christa Nöhren / pixelio.de
Äußere Gegenstände zu erkennen, ist ein Widerspruch; es ist dem Menschen unmöglich, aus sich heraus zu gehen. Wenn wir glauben, wir sähen Gegenstände, so sehen wir bloß uns. Wir können von nichts in der Welt etwas eigentlich erkennen, als uns selbst, und die Veränderungen, die in uns vorgehen. Eben so können wir unmöglich für andere fühlen, wie man zu sagen pflegt; wir fühlen nur für uns.
Der Satz klingt hart, er ist es aber nicht, wenn er nur recht verstanden wird. Man liebt weder Vater, noch Mutter, noch Frau, noch Kind, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns machen; es schmeichelt immer etwas unserem Stolze und unserer Eigenliebe. Es ist gar nicht anders möglich, und wer den Satz leugnet, muß ihn nicht verstehen. Unsere Sprache darf aber in diesem Stücke nicht philosophisch sein, so wenig als sie in Rücksicht auf das Weltgebäude kopernikanisch sein darf.
Aus nichts leuchtet, glaube ich, des Menschen höherer Geist so stark hervor, als daraus, daß er sogar den Betrug ausfindig zu machen weiß, den ihm gleichsam die Natur spielen wollte. Nur bleibt die Frage übrig: wer hat Recht, der, welcher glaubt, er werde betrogen, oder der es nicht glaubt? Unstreitig hat der Recht, der glaubt, er werde nicht betrogen. Aber das glauben auch beide Parteien nicht, daß sie betrogen werden. Sobald ich es weiß, so ist es kein Betrug mehr.
Die Erfindung der Sprache ist vor der Philosophie hergegangen, und das ist es, was die Philosophie erschwert, zumal wenn man sie andern verständlich machen will, die nicht viel selbst denken. Die Philosophie ist, wenn sie spricht, immer genötigt, die Sprache der Unphilosophie zu reden.
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Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, H [zw. 1784 und 1788]
Freitag, 15. August 2014
Galileo, Plato und die Geometrie.
Galileos Teleskop
- Auf die Titelseite meiner gesammelten Werke zu setzen: Hier wird es aus unzähligen Beispielen zu begreifen sein, was der Nutzen der Mathematik für das Urteil der Naturwissenschaften ist, und wie unmöglich es ist, korrekt zu philosophieren ohne die Führung der Geometrie, wie es der weise Grundsatz Platons besagt. zitiert nach Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft, Band 1, Seite 267, Fischer Handbuch Nr. 6032, 1970
Da porsi nel titolo del libro di tutte le opere: Di qui si comprenderà in infiniti esempli qual sia l'utilità delle matematiche in concludere circa alle proposizioni naturali, e quanto sia impossibile il poter ben filosofare senza la scorta della geometria, conforme al vero pronunciato di Platone.
Le Opere di Galileo Galilei. Prima editione completa, tomo XIV. Firenze 1855. p. 318 books.google.de
- Die Philosophie steht in diesem großen Buch geschrieben, das unserem Blick ständig offen liegt [, ich meine das Universum]. Aber das Buch ist nicht zu verstehen, wenn man nicht zuvor die Sprache erlernt und sich mit den Buchstaben vertraut gemacht hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und deren Buchstaben sind Kreise, Dreiecke und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Bild davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum. Aus dem "Saggiatore" von 1623, zitiert in Ehrhard Behrends: Ist Mathematik die Sprache der Natur? Mitt. Math. Ges. Hamburg 29 (2010), 53–70
La filosofia è scritta in questo grandissimo libro che
continuamente ci sta aperto innanzi a gli occhi (io dico l'universo), ma non si
può intendere se prima non s'impara a intender la lingua, e conoscer i
caratteri, ne' quali è scritto. Egli è scritto in lingua matematica, e i
caratteri son triangoli, cerchi, ed altre figure geometriche, senza i quali
mezi è impossibile a intenderne umanamente parola; senza questi è un aggirarsi
vanamente per un oscuro laberinto." -
Il Saggiatore Capitolo VI
Il Saggiatore Capitolo VI
Donnerstag, 14. August 2014
Verum et factum...
jokerbomber / pixelio.de
"Gott schafft auf keine andre Art, als wir - Er setzt nur zusammen. Ist die Schöpfung sein Werk, so sind wir auch sein Werk" [Hemsterhuis:] Aristée. - Wir können die Schöpfung als Sein Werk nur kennenlernen, inwiefern wir selbst Gott sind. Wir kennen sie nicht, inwiefern wir selbst Welt sind - die Kenntnis ist zunehmend - wenn wir mehr Gott werden. Kennt sich Gott selbst? Oder haben wir den transzendentalen Gesichtspunkt für ihn? Dies ist Unsinn. Dem höhern Gesichtspunkte steht der untere oder niedrigere entgegen. Der transzendentale Gesichtspunkt zerfällt in diese beiden Arten.
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Novalis, Neue Fragmente, N° 2245
Nota.
Latinis "verum" et "factum" reciprocantur, seu, ut Scholarum vulgus loquitur, convertuntur... Verum esse ipsum factum; ac proinde in Deo esse primum verum, quia Deus primus factor. ...Veri criterium est ipse fecisse.
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Giambattista Vico, De antiquissima italorum sapientia, I. Buch (Liber metaphysicus), am Anfang des 1. Kapitels.
Mittwoch, 13. August 2014
Wo die Logik herkam.
Kurt Bouda, pixelio.de
111 Herkunft des Logischen.— Woher ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden? Gewiss aus der Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muss. Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schliessen, giengen zu Grunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein! Wer zum Beispiel das "Gleiche" nicht oft genug aufzufinden wusste, in Betreff der Nahrung oder in Betreff der ihm feindlichen Thiere, wer also zu langsam subsumirte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, welcher bei allem Aehnlichen sofort auf Gleichheit rieth. Der überwiegende Hang aber, das Aehnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang — denn es giebt an sich nichts Gleiches —, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen.
Ebenso musste, damit der Begriff der Substanz entstehe, der unentbehrlich für die Logik ist, ob ihm gleich im strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht, — lange Zeit das Wechselnde an den Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden sein; die nicht genau sehenden Wesen hatten einen Vorsprung vor denen, welche Alles "im Flusse" sahen.
An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht im Schliessen, jeder skeptische Hang eine grosse Gefahr für das Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen als das Urtheil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten, lieber zuzustimmen als zu verneinen, lieber zu urtheilen als gerecht zu sein — ausserordentlich stark angezüchtet worden wäre. —
Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirne entspricht einem Processe und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab.
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Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 3. Buch
Dienstag, 12. August 2014
Weil - darum.
dreimirk30, pixelio.de
112 Ursache und Wirkung. — "Erklärung" nennen wir's: aber "Beschreibung" ist es, was uns vor älteren Stufen der Erkenntniss und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser, — wir erklären ebenso wenig wie alle Früheren. Wir haben da ein vielfaches Nacheinander aufgedeckt, wo der naive Mensch und Forscher älterer Culturen nur Zweierlei sah, "Ursache" und "Wirkung," wie die Rede lautete; wir haben das Bild des Werdens vervollkommnet, aber sind über das Bild, hinter das Bild nicht hinaus gekommen.
Die Reihe der "Ursachen" steht viel vollständiger in jedem Falle vor uns, wir schliessen: diess und das muss erst vorangehen, damit jenes folge, — aber begriffen haben wir damit Nichts. Die Qualität, zum Beispiel bei jedem chemischen Werden, erscheint nach wie vor als ein "Wunder," ebenso jede Fortbewegung; Niemand hat den Stoss "erklärt." Wie könnten wir auch erklären! Wir operiren mit lauter Dingen, die es nicht giebt, mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, theilbaren Zeiten, theilbaren Räumen —, wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir Alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde!
Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben, indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben. Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit giebt es wahrscheinlich nie, — in Wahrheit steht ein continuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isoliren; so wie wir eine Bewegung immer nur als isolirte Puncte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern erschliessen. Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen abheben, führt uns irre; es ist aber nur eine Plötzlichkeit für uns. Es giebt eine unendliche Menge von Vorgängen in dieser Secunde der Plötzlichkeit, die uns entgehen. Ein Intellect, der Ursache und Wirkung als continuum, nicht nach unserer Art als willkürliches Zertheilt- und Zerstücktsein, sähe, der den Fluss des Geschehens sähe, — würde den Begriff Ursache und Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen.
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Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 3. Buch
Montag, 11. August 2014
Das Leben ist kein Argument.
Biotechnologie.de
121 Das Leben kein Argument. — Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können — mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt Keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein.
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Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 3. Buch
Nota.
Kein Argument gegen etwas, kein Argument für etwas.
Irrtum gibt es nur für ein Leben, das nach Wahrheit fragt. Wahrheit ist keine Bedingung des Lebens, da hat er wohl Recht. Das spricht nicht gegen das Leben. Spricht es gegen die Wahrheit?
JE
Sonntag, 10. August 2014
Ironie und der transzendentale Standpunkt.
Henning Hraban Ramm / pixelio.de
"Ironie" = der transzendentale Standpunkt
"Von vorn" ist die Ironie "nichts als" die stilistische Erscheinungsform der permanenten Reflexion des Wissens im Angesicht des Unendlichen; "unendliche Reflexivität", mit JGF zu sprechen.
"Hintenrum" aber ist sie der gefundene "substantielle Standpunkt", der "sich ergibt", wenn der Reflexion verblüfft einleuchtet, daß sie ja, um reflektieren zu können, ein anderes ( = [Nicht-]Ich, Absolutes, "Standpunkt"...) immer schon "sich selbst" (logisch, topisch) vorausgesetzt haben muß, bevor sie mit "sich", ihrer Tätigkeit = Reflektieren, überhaupt anfangen konnte; daß diese sich-voraus-Setzung indes "in nichts begründet" ist als ihrem Entschluß, tätig zu werden; daß also "das Absolute", von dem sie ausgeht, um als auf einen Fluchtpunkt Alles "beziehen" zu können, doch eben - selbstgemachte Fiktion ist. "Verum et factum convertuntur." Aber factum et fictum convertuntur.
aus e. Notizbuch, 23. 10. 94
aus: Rüdiger Safranski, Romantik, eine deutsche Affäre:
...Wie sollte nicht jeder Satz über das Absolute und Transzendente nur unter ironischem Vorbehalt gesprochen werden dürfen? Endliches zu sagen über das Unendliche kann und darf nur ironisch sein. Ironie gehört deshalb in jede Philosophie, die das Ganze zu begreifen versucht... "Ist sie nicht wirklich die innerste Mysterie der kritischen Philosophie?" ...
Samstag, 9. August 2014
Köpfe und Wände.
Dieses hier fand ich als Einladung zu einem online-Forum für philosophische Themen:
Wahrlich, ich sage Euch:
Mit dem Kopf kommt man durch die Wand, womit sonst? Wer Dir etwas anderes erzählt, will nur nicht, dass Du's durch die Wand schaffst. Wenn man mit dem Kopf nicht durch die Wand käme - wozu hätte ich ihn dann?
Das wusste ich, als ich noch nicht alt war, aber schon klug. Durch die Wand hab ichs noch heute nicht geschafft, aber versucht habe ich es jederzeit. Jetzt bin ich immer noch nicht alt, aber älter, und klüger auch, aber nicht wirklich viel. Zwar - man könnte sich auch durch manch enge Öffnung schlängeln, aber für mich kommt das heute genauso wenig in Frage wie damals. Da bin ich froh drüber.
Zuerst muss man mit dem Kopf die Wand durchstochen haben, erst dann kann man vorsichtig die Schultern und die Arme und all den Rest hinterherschieben. Aber woher könnten die wissen, wo sie lang sollen, wenn's der Kopf nicht vorher erspäht hätte! Sollen etwa die Füße zuerst...? Na also!
Ganz entschieden: Der Spruch, mit dem Kopf käme man nicht durch die Wand, stammt von den Wächtern der Wände. "Lass bloß die Wand in Ruhe!" ist damit gemeint.
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
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