Erst mit Galileo ging, streng genommen, das mythische Zeitalter zu Ende. “Der Mythos braucht keine Fragen zu beantworten. Er erfindet, bevor die Frage akut wird und damit sie nicht akut wird.”(Hans Blumenberg). Seit Galileo stellen die Wissenschaften nicht nur Fragen, sondern beantworten sie auch, und jede Antwort wirft (mindestens) eine neue Frage auf
Das Buch der Natur sei
in der Sprache der Mathematik geschrieben, hatte Galileo verkündet. Das
ist seither zum Gemeinplatz westlicher Bildung geworden.
Descartes hatte die Welt in zwei Substanzen zerteilt, eine res extensa, die Materie, die sich durch ihre räumliche Ausdehnung zu erkennen gibt, und die res cogitans,
den Geist, der außerhalb von Raum und Zeit ist. Doch eines ist ihnen
gemeinsam: die mathematische Struktur, und an der erkennt man ihre
gemeinsame Abkunft vom selben Schöpfergott.
Spinoza tat die beiden Teile wieder zusammen, bei ihm ist es die eine, geistige Substanz, die sich selber ausdehnt, “deus sive natura”, und wie
tut sie das? “More geometrico”, auf geometrische Weise! War bei
Descartes Gott ein Mathematiker, so ist die Gottnatur bei Spinoza
Mathematik. Isaac Newton, der erste Systematiker der modernen Physik,
betitelte sein Hauptwerk ”Philosophiae naturalis principia
mathematica”, die mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie. Und
Leibniz endlich, der die strenge Naturwissenschaft in Deutschland
eingeführt hat, überlegte ernstlich, ob nicht Gott selber in
mathematischen Formel spräche!
Die Herrschaft des Rationalismus war Herrschaft der Metaphysik. Die Metaphysik sei aus der abendländi- schen Wissenschaft
inzwischen vertrieben? Nur die metaphysische Verpackung ist gefallen.
Der Kern bleibt. Der Einfall, die Gesetze der Mathematik seien
gleichzeitig die Gesetze der Vernunft und der Natur, bedarf keiner
zusätzlichen Metaphysik. Er ist selber metaphysisch.
Die
Mathematik ist nicht, wie unsere eigne Schullaufbahn vermuten macht,
aus dem kleinen Einmaleins hervorgegangen. Zwar hatten die Babylonier
ihr Interesse auf die Arithmetik konzentriert; aber sie dienten ihnen nur zur Astrologie. Mathematik
ent- stand erst, als die Griechen Thales und Pythagoras die Zahlen in den
Dienst der Geometrie, der Anschauung räumlicher Verhältnisse nah- men.
Das Leitbild der Ma- thematik – die vollkommene Gestalt – ist ästhetisch.
Ihre Verfahren sind Anschauung und Konstruktion. Auf etwelche sinnliche
Erfahrung – über die man streiten könnte – ist sie nicht angewiesen. Sie
begrün- det sich aus sich selbst, und nur so konnte sie zur Grundlage der allgemeinen wissenschaftlichen Methode werden.
Aber ist nicht gerade die Geometrie aus den Dingen der Welt abgeschaut?!
Es gibt fünf vollkommene Körper: Kugel, Würfel, Pyramide; Zylinder, Konus.
Es sind die jeweiligen dreidimensionalen Kombinationen von Kreis, Quadrat und Dreieck. Drei Dimensionen sind ‘vollkommener’ als zwei, bzw. Körper sind vollkommener als Flächen.
Hat
man eines von denen ‘von der Natur abgeschaut’? Mehr oder minder runde
Formen kommen in ‘der Natur’ vor; Kugeln nicht. Kugel Es sind die jeweiligen dreidimensionalen Kombinationen von Kreis, Quadrat und Dreieck. Drei Dimensionen sind ‘vollkommener’ als zwei, bzw. Körper sind vollkommener als Flächen.
‘entsteht’ als Idee der vervollkommneten ‘runden’ Körpers. Wobei Vollkommenheit eben keine logische, sondern eine anschauliche, eine ästhetische Qualität ist! Finden sich Würfel, Pyramiden, Zylin- der usw. in der Natur vor? Es finden sich Formen, die wie fehlerhafte Annäherungen aussehen. Damit sie so aussehen können, müssen die reinen Formen dem inneren Auge aber schon gewärtig sein. Und das geht nur, wenn das innere Auge die Konstruktion aus Kreis, Quadrat und Dreieck schon vorgenom- men hat! Das ist eine erhebliche Abstraktions- und Reflexionsleistung.
(Abstraktion und Reflexion sind nur zwei Sichtweisen auf denselben Denkakt: Abse- hen auf das jeweils Wichtige ist zugleich Absehen von dem jeweils Unerheblichen.)
Denn zuvor mussten vor dem inneren Auge die Flächen selber konstruiert werden! Allein den vollkommenen Kreis kann man in der Außenwelt sehen – am wolkenlosen Himmel.
Es ist ja denkbar, dass der Anblick des einzig perfekten Kreises – der Sonnenscheibe – und ihrer imperfekten Parodie, des Mondes – den Anlass zur Idee anschaulicher Vollkommenheit gegeben hat; aber eine erfahrungsmäßige Abstraktion aus dem Anblick vieler perfekten Kreise war es nicht: weil es nur diesen einen gibt; und eine Reihe imperfekter Karikaturen – die werdenden und vergehenden Ringe auf dem Wasser usw… Nachgemacht werden kann dieser eine perfekte Kreis aber nicht auf ‘anschaulichem’ Weg; er muss konstruiert werden aus Punkt und Radius: wieder eine Abstraktionsleistung.
Die
andern beiden Grundformen finden sich nicht in perfekter Gestalt in den
Natur vor. Sie müssen – vielleicht in anschaulicher Analogie zur
Sonnenscheibe – erdacht werden, um bemerken zu können, dass sich in der
Natur… unvollkommene Annäherungen vorfinden.
Und erst nach all dem können die fünf perfekten Körper erdacht werden; und kann man sich einbilden, diese Idealentwürfe lägen ihren unvollständigen natürlichen Nachbildungen “in Wahrheit” zu Grunde; in einer verborgenen Wahrheit selbstverständlich.
Und erst nach all dem können die fünf perfekten Körper erdacht werden; und kann man sich einbilden, diese Idealentwürfe lägen ihren unvollständigen natürlichen Nachbildungen “in Wahrheit” zu Grunde; in einer verborgenen Wahrheit selbstverständlich.
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Die Arithmetik hat ältere Wurzeln, die bis zu den Babyloniern zurückreichen. Ist nun die Zahl ein “Naturverhältnis”? Beruht sie nicht darauf, dass die Dinge ‘im Raum’ eine Grenze haben und man sie neben einander stellen und also zählen kann? Das sieht nur so aus. Tatsächlich zählen wir die Dinge nicht neben-, sondern nach einander! Und das geschieht in der Zeit.
Paläoanthropologen
haben aus frühester Vorzeit Stäbchen geborgen, die in regelmäßigen
Abständen mit Kerben versehen sind. Sie interpretieren sie als
Zählstäbe, die Vorläufer der Zahlensysteme; nämlich so, dass ihre
Hersteller den Daumennagel auf die erste Kerbe gehalten haben:
“zuerst…”; auf die zweiter Kerbe: “dann…”; dritte Kerbe: “und danach…”.
Da wird das zeitliche Nacheinander der Zahlen archäologisch sinnfällig!
Und wem die erwähnten Zählstäbe der Paläontologen als Indiz zu dürftig scheinen, der kann es mit einem Gedankenexperiment versuchen.
Was immer Zahlen sonst auch noch sein mögen, eins sind sie ganz bestimmt: Zeichen. Was muss man bezeichnen? Etwas, das man nicht stets vor Augen hat und doch ‘behalten’ will. Denn auf alles andere kann man mit dem Finger zeigen. Kleine Mengen hat man stets vor Augen: 3 Äpfel, 4 Beine usw. Bezeichnen müsste man größere Mengen. Mit welchen größeren Mengen könnten aber unsere Vorfahren – ihres Zeichens Jäger und Sammler – regelmäßig zu tun gehabt haben? So regelmäßig, dass sie sie dauerhaft bezeichnen mussten?!
Sie waren Nomaden; große Vorräte kannten sie nicht. Bleibt also übrig – die Zeit. Die Zeiträume müssen bezeichnet werden: wie viele Tage bis Vollmond, Sonnenwende und Tag- und Nachtgleiche, Jahreszeiten, Jahre… Gerade Nomaden, die ihr Leben buchstäblich durch Zeit und Raum führen, müssen mental Zeiträume ‘vorweg nehmen’ können, müssen wissen, ‘wie lange wir brauchen bis…’ – z. B. bis zur nächsten Wasserstelle. Denn solange sie keine Wanderkarten und keine Tachometer haben, können sie Wege nur als Zeit darstellen. (Noch im Mittelalter wurden Ackergrößen als ‘Tagewerke’ gemessen.)
Sagt nicht aber schon der gesunde Menschenverstand, dass eins und ein zwei sind? ‘Ursprünglich’, d. h. in unmittelbarer sinnlicher Anschauung, kommen Zahlen nur als Ordnungszahlen vor: als Nacheinander in einem ‘an sich’ ununterschiedenen Zeitverlauf: erstens, zweitens, drittens… zählen kann ich so noch nicht. Denn es könnte bedeuten: erstens ein Lufthauch, zweitens ein Elefant, drittens eine Untertasse. Um aus den Momenten im Zeitverlauf ein Werkzeug (“Denkzeug”) zum Zählen zu machen, muss ich von der Zeit selber absehen und auf die zu zählenden Sachen reflektieren.
Vorab: Warum, wozu sind sie ‘zu’ zählen? Es braucht zunächst einmal eine Absicht; zum Beispiel die Absicht, Sachen zu verteilen. Ich verteile Sachen, die ‘in einer gewissen Hinsicht’ gleich sind, auf so und so viele Posten, die ihrerseits in gewisser Hinsicht gleich sind; zum Beispiel Essbares an Hungrige. Ich muss aus der Mannigfaltigkeit der Sachen dasjenige heraus suchen, das sich unter der Bedeutung des Essbaren zusammenfassen lässt. Danach muss ich auf diejenigen achten, die mir als hungrig bekannt sind. Erst dann kann ich aus den Ordnungszahlen erstens, zweitens, drittens… die Zahlen 1, 2, 3… abstrahieren.
Und erst, nachdem all diese Denkleistungen vollbracht wurden, kann von “Erfahrung” geredet werden. Erfahrung ist nicht das bloße Registrieren von Erlebensdaten, sondern ihre sinnvolle Unterscheidung und Anordnung. Die Absicht geht voraus. Ohne vorgängige Absicht keine vorfindliche Bedeutung.
zurück: IV: Wissenschaft ist öffentliches Wissen, punctum.
weiter: Ist die Welt logisch aufgebaut?
Anmerkung zu den Bildern.
Diese Bilder gehören nicht mir, ich habe sie im Internet gefunden. Sollten Sie der Eigentümer sein und ihre Verwendung an dieser Stelle missbilligen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
JE
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