Dienstag, 4. März 2014

Die Urteilskraft ist ein so besonderes Erkenntnisvermögen...


Rainer Sturm  / pixelio.de

Wenn nun aber der Verstand a priori Gesetze der Natur, dagegen Vernunft Gesetze der Freiheit an die Hand gibt, so ist doch nach der Analogie zu erwarten: daß die Urteilskraft, welche beider Vermögen ihren Zusammenhang vermittelt, auch eben so wohl wie jene ihre eigentümliche Prinzipien a priori dazu hergeben und vielleicht zu einem besonderen Teile der Philosophie den Grund legen werde, und gleichwohl kann diese als System nur zweiteilig sein.

Allein Urteilskraft ist ein so besonderes, gar nicht selbständiges Erkenntnisvermögen, daß es weder, wie der Verstand, Begriffe, noch, wie die Vernunft, Ideen, von irgend einem Gegenstande gibt, weil es ein Vermögen ist, bloß unter anderweitig gegebene Begriffe zu subsumieren. Sollte also ein Begriff oder Regel, die ursprünglich aus der Urteilskraft entsprängen, statt finden, so müßte es ein Begriff von / Dingen der Natur sein, so fern diese sich nach unserer Urteilskraft richtet, und also von einer solchen Beschaffenheit der Natur, von welcher man sich sonst gar keinen Begriff machen kann, als nur daß sich ihre Einrichtung nach unserem Vermögen richte, die besondern gegebenen Gesetze unter allgemeinere, die doch nicht gegeben sind, zu subsumieren; mit anderen Worten, es müßte der Begriff von einer Zweckmäßigkeit der Natur zum Behuf unseres Vermögens sein, sie zu erkennen, so fern dazu erfodert wird, daß wir das Besondere als unter dem Allgemeinen enthalten beurteilen und es unter den Begriff einer Natur subsumieren können.

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Kant, Einleitung in die Kritik der Urteilskraft [1. Fassung], Werke (Weischedel ed.), Bd. 10, Frankfurt/M., 1977, S. 15f.


Nota.

Man könnte auch meinen, die Unterteilung der geistigen Vermögen in verschiedene Fächer sei ganz überflüssig, weil sich am Ende das theoretische Vermögen als ein Abkömmling des praktischen erweist. Dann bräuchte es für die Urteilskraft keine hybride Zwischenstellung.
JE

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