Montag, 24. Februar 2014

Wie scharf soll man die Einzelwissenschaften von einander trennen?


duxschulz  / pixelio.de

Die Frage ist nicht, ob "man" die Wissenschaften trennen kann, sondern ob nicht gewisse Wissenschaften "von selbst" von andern Wissenschaften getrennt sind.

Gewiß, wenn man von vorneherein alle Gegenstände, die man möglicherweise vorfinden kann, dogmatisch in die Rubriken "Geisteswissenschaften" und "Naturwissenschaften" einteilt, verfällt man in einen logischen Zirkel, indem man das, was man vorher hineingesteckt hat, notwendigerweise hinten wieder heraus analysiert.

Darum wurde vorgeschlagen, die Wissenschaften in "nomothetische" (=solche, die auf die Formulierung allgemeiner Gesetze abzielen) und in "idiographische" (=solche, die das je einzeln Gegebene beschreiben) zu unterteilen. Aber das ist keine Unterscheidung der Gegenstände "a priori", von vornherein und durch bloße logische Konstruktion, sondern eine Unterscheidung im nachhinein: Welche Gegenstände haben sich tatsächlich für die Behandlung nach der einen Methode, und welche haben sich für die andere Methode tauglich erwiesen?

...Denn natürlich geht es den Naturwissenschaften um das Formulieren allgemeingültiger Gesetze und nicht um die Darstellung eines tatsächlich vor ihr liegenden ("Natur"-) Objekts. Darum löst sie ja die Gegenstände zuerst aus ihrer natürlichen Umgebung heraus und versetzt sie in eine künstliche Labor-Situation, wo ein jedes Ding nicht mehr als es selber, sondern bloß als Vertreter seiner Gattung erscheint. Man hat es also durch das bloße experimentelle Verfahren definiert als eines, das... einer Gattung zugehört!

Das kann man mit historischen Ereignissen, mit gedanklichen Gebilden (also mit philosophischen "Systemen), mit Kunstwerken und sozialen Situationen nicht machen. Die kann man höchstens, nach erschöpfender "idiographischer" Bearbeitung, je nach den Ergebnissen wegen ihrer mehr oder weniger großen Ähnlichkeiten in Gruppen zusammenfassen. Aber daraus lassen sich nachträglich keine "Gesetze" rekonstruieren, denn die könnten ja nur... die eigene Vorgehensweise betreffen!

Wenn irgendeine Denkfigur oder ein Vorstellungsschema aus einer Geisteswissenschaft (z.B. Philosophie) in einer naturwissenschaftlichen Disziplin (z.B. Mikrophysik) wiederauftaucht, oder umgekehrt: dann handelt es sich immer nur um eine Analogie, die unser Vorstellungsvermögen zum Weiterdenken anregen mag, aber nie um eine Identität, aus der sich ihrerseits wissenschaftliche Schlüsse ziehen ließen.


 ... Die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften stammt von Wilhelm Dilthey. Der war kein Dummkopf und wußte ziemlich viel. Wie manchem anderen ist ihm aufgefallen, daß das Wort Wissenschaft "irgendwie" je nach Disziplin in deutlich verschiedenem Sinn verstanden wird. Das hat er zu klären versucht, indem er die (bestehenden!) Wissenschaften nach ihren Gegenständen in solche unterschied, in denen sich der Mensch mit den Dingen außer ihm beschäftigt, und solche, wo er sich mit sich selbst und seinen Werken befaßt.

Das Problem war, daß sich damit eine klare Grenzlinie gar nicht, wie er dachte, ziehen ließ.* Auch Dilthey hatte seinen Kant gelesen und mußte zugeben, daß sich in den "Naturwissenschaften" der Mensch nicht mit den Dingen beschäftigt, wie sie an sich sind, sondern mit den Dingen, wie er sie sich zurechtkonstruiert hat. Durch- führen läßt sich seine Unterscheidung nur dann, wenn man das, was man herausfinden will, klammheimlich vorneweg schon vorausgesetzt hat.

Darum hat der Neukantianer Wilhelm Windelband die Unterscheidung von Nomothetisch und Idiographisch eingeführt. Natürlich hatte er dieselben (bestehenden) Wissenschaften im Auge wie Dilthey: Was haben Chemie und Physik gemein, und was unterscheidet sie gemeinsam von Philosophie und Geschichte - und was haben letztere gemeinsam? Natürlich kann man die Liste ausweiten, aber um wen es geht, weiß man schon irgendwie.

Die neue Formulierung Windelbands bezog sich daher nicht auf die Gegenstände (die man so sauber gar nicht trennen kann), sondern auf die Erkenntnisziele und die jeweils ihnen entsprechenden Verfahren.


Ich hoffe, jetzt ist es klarer. Wenn Du meinst, Kunst und Geschichte hätten "mit dieser Art Wissenschaft nichts zu tun", dann hattest Du es aber schon beim erstenmal richtig verstanden: Genau das wollte ich sagen. Und Philosophie genausowenig! Die hat - seit der Kant'schen Revolution - ausschließlich mit dem Erzeugen und den Erzeugnissen unserer Vorstellung zu tun. Von den Dingen "an sich" weiß sie gar nichts. Sie ist eine Kritik unseres Vernunftgebrauchs und lehrt uns, daß die begrifflichen Spekulationen gar nichts zur Naturerkenntnis beitragen, und daß uns die Naturwissenschaften keinen Deut weiterbringen, wo es um den Sinn der Sache(n) geht.

aus einen Online-Forum,  24.09.07 


*Nota. - Am deutlichsten wird es an der Mathematik. Sie ist die Voraussetzng aller Naturwissenschaften, aber sie ist eine Konstruktion von Menschen und wäre nach Diltheys Unterscheidung eine Geisteswissenschaft. Nach Windelband ist sie die nomothetische Disziplin par excellence.

Und auch die Philosophie beschäftigt sich mit 'Gesetzmäßigkeiten', nämlich mit dem, was 'so und nicht anders sein muss', und nicht mit (stets kontingenten) Einzeldingen. Bei Dilthey aber ist sie - die Geisteswissenschaft par excellence.

Feb. 2014




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