Überraschend aktuell – Ernst Cassirers Entwürfe zu einer Logik der Wissenschaften
Von Ralf Konersmann
Das Werk Ernst Cassirers ist heute präsenter denn je. Neben den zu Lebzeiten erschienenen Schriften, die in der kürzlich abgeschlossenen Ausgabe der Werke versammelt sind, publiziert der Hamburger Meiner-Verlag seit fünfundzwanzig Jahren Aufzeichnungen, Vortragsmanuskripte und Briefe aus dem Nachlass. Vor allem die magistrale Ausgabe des Nachlasses ist geeignet, im ohnehin schon weiten Interessenhorizont dieses Kulturphilosophen, Symboltheoretikers und versierten Kant-Lesers ein weiteres und vielleicht sogar das entscheidende Feld zu markieren. Denn das Hauptaugenmerk des Philosophen, das all seine übrigen Forschungsthemen miteinander verbindet, scheint der Begründung des Wissens und seiner Methode gegolten zu haben. Der Cassirer, der uns aus den Nachlasspapieren entgegenblickt, ist Wissenschaftsphilosoph – ein Logiker der Kulturwissenschaften und der Wissenschaften überhaupt.
Der kürzlich erschienene Nachlassband präsentiert Vorträge, darunter auch Rundfunkvorträge, aus nahezu vier Jahrzehnten. Eindrucksvoll eröffnend mit dem Manuskript über «Substanzbegriff und Funktionsbegriff» aus dem Jahr 1907 (dem dann drei Jahre später die Monografie gleichen Titels folgte), führt das bemerkenswert geschlossene Konvolut Geschichte, Systematik und philosophische Reflexion der wissenschaftlichen Forschungspraxis zusammen. Allein dieser integrative Gestus ist beachtlich. Die wissenschaftsfremde Nomenklatur der «Effizienz» oder der «Exzellenz», an die wir uns fast schon gewöhnt haben, liegt diesen Entwürfen zu einer Logik der Wissenschaften ebenso fern wie die karge Grundration einer «Wissenschaftstheorie», die zwar den Betrieb der normal science am Laufen hält, doch weder den Geistesmoden noch den Zugriffen von aussen ein klares und selbstbewusstes Konzept entgegenzusetzen hat. Angesichts dieser Normalität wirken die Überlegungen Cassirers wie ein frischer Wind.
Die Wissenschaftsphilosophie Cassirers bezieht ihre ganz erstaunliche Aktualität aus einer Doppelung der Perspektive, die dem Standpunkt wissenschaftlicher Weltbeobachtung die Position des Beobachters des Beobachters an die Seite stellt. So folgenreich diese Blickfelderweiterung auch ist – Cassirer macht wenig Aufhebens davon, weil er weiss und an zahllosen Beispielen zeigen kann, dass Selbstwahrnehmungen dieser Art gerade für die avancierten Wissenschaftsinitiativen von jeher selbstverständlich gewesen sind. Folgerichtig inszeniert sich diese Logik der Wissenschaften nicht in der inzwischen üblichen Weise als Bruch mit einer irgendwie gedankenlosen Vorgeschichte, sondern versteht sich als kritische Fortführung jener Forschungskommentare, wie sie Kepler, Descartes, Euler, Helmholtz oder Einstein hinterlassen haben. Der Abstand dieser Vorgehensweise zu den Kundgebungen moderner Wissenschaftskritik könnte augenfälliger nicht sein. Anders als Nietzsche, Spengler oder Heidegger weist Cassirer das Weltmodell der Wissenschaften nicht einfach zurück, sondern erschliesst es als autonome, und das heisst hier ganz wörtlich: als eigenen Gesetzen folgende Kulturleistung. Den Elementarbegriff dieser Kulturleistung bildet das Bedürfnis der «theoretischen Erkenntnis», die, wie Cassirers Exkurse zeigen, sowohl den Anspruch der Wissenschaften bezeichnet als auch ihre Grenze.
Der systematische Rückbezug auf das Bedürfnis der theoretischen Erkenntnis wirkt, wie so vieles bei diesem Autor, unscheinbar, erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als folgenreicher Schritt. Mit ihm überwindet Cassirer die rein beschreibende Ebene des wissenschaftsgeschichtlichen Erzählens und begründet sein zentrales, in all diesen Nachlassschriften bekräftigtes Gebot der Einheit des Wissens und der Wissenschaften.
In den Ohren heutiger Wissenschafter klingt diese Formel gewiss merkwürdig, wenn nicht befremdlich. Man fürchtet das Diktat einer allumfassenden Vernunftordnung, wie sie einst die Schüler Hegels propagierten, und damit den Ausschluss alles irgendwie Nonkonformen, Unbotmässigen und Originellen. Cassirer meint es jedoch anders, seine «Einheit» der Wissenschaften ist nicht – und gerade nicht – «Einheitlichkeit». Tatsächlich ist die Einheitsformel ausschliesslich wissenschaftssystematisch begründet, als Reaktion auf den Verlust naturwüchsiger Zusammenhänge und dessen, was man einmal dafür hielt. Sobald Wahrheit nicht mehr abbildhaft gedacht wird, sondern sich, wie Cassirer sagt, an «Formen» hält und sich das Wissen autonomisiert, werden ihm seine inneren Bezüge und das, was «Wirklichkeit» heisst, notwendigerweise zum Problem. Was dem naiven Realismus als naturwüchsige Einheit erscheint, als Widerschein des Kosmos, weicht disparaten Weltwahrnehmungen, die Schritt für Schritt spezieller werden und schliesslich den Zusammenhang des Wissens sprengen. Es ist bezeichnend für Cassirer und sein Verständnis von Wissenschaftsphilosophie, dass er für das Problem der Einheit nicht einfach eine fertige Lösung aus dem Hut zieht, sondern sich auf den Umweg der Geschichte begibt und berichtet, welche Lösungen das Einheitsproblem in der Vergangenheit gefunden hat. Auf die Einheit des Kosmos folgte die Einheit der göttlichen Ordnung, auf diese die Einheit des denkenden Geistes und der Methode.
Für Cassirer manifestiert sich in der Einheitsforderung der Anspruch eines Wissens, das nicht damit zufrieden ist, vom Hundertsten ins Tausendste zu gehen und sich immer tiefer in den Stollen der Spezialisierung treiben zu lassen. Wissenschaft, wie Cassirer sie im Einklang mit einer zweitausendjährigen Tradition versteht, will Orientierung sein und stellt sich damit der Herausforderung, wie die klassische Formel Platons lautet, «die Phänomene zu retten». Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie unangemessen der wohlfeile Verdacht der Ausschliessung ist. In Wirklichkeit geht es darum, Anschlüsse zu sichern: Ohne Strukturgegensätze zu leugnen oder sie, geblendet vom Zauber der «Interdisziplinarität», einfach zu überspielen, soll die Heuristik der Einheit die verschiedenen Grundrichtungen der Erkenntnis – also, um Cassirers Beispiel aufzugreifen, die physikalische Naturerklärung Newtons und die reine Naturbeschreibung Goethes – konstruktiv aufeinander beziehen.
Im Kampf um Forschungsmittel ist Einheit eine Forderung der Schwachen, im Kampf um die Wahrheit ist sie ein Gebot der Vernunft. Die Philosophie und speziell die Wissenschaftsphilosophie setzt genau hier an, wenn sie den Rahmen bereitstellt, in dem sich die Formen des Wissens auf immer neue Weise assoziieren können.
Die Logik der Wissenschaften, zu deren Entwicklung Cassirer aufruft, verfährt genau in diesem Sinn inklusiv, indem sie die Teilhabe der Fächer und überhaupt der «Wissens-Formen» und «Wissens-Richtungen» an der Universitas sicherstellt. Folgerichtig beginnt sie ihr Geschäft mit einer Kritik im Sinne Kants: mit einer Autopsie der wissenschaftlichen Erkenntnis und ihrer «Form». Das läuft einerseits auf Anerkennung hinaus, denn hinter das Zugeständnis der Eigengesetzlichkeit führt nun kein Weg mehr zurück. Theoretische Erkenntnis, Wissen und Wissenschaft sind autonom, und sie sind frei. Ihre formale Bestimmung bewirkt andererseits eine Relativierung, denn diese spezielle Art der Erkenntnis ist eben nur eine Form, und zwar: eine Form, eine «Grundrichtung der Erkenntnis» unter anderen.
Es ist mehr als nur eine Beiläufigkeit, dass Cassirer den Leitbegriff seines Philosophierens, den Begriff der symbolischen Form, bei einem Naturwissenschafter gefunden hat. Auf elementare Weise bringt der Begriff der symbolischen Form schon bei Pierre Duhem den Sachverhalt zum Ausdruck, dass Wissenschaft es nicht mit rohen Tatsachen zu tun hat, sondern mit Modellierungen, mit Weisen der Inblicknahme, denen schliesslich auch die überhaupt erst im 18. Jahrhundert entdeckte «Tatsache» ihr Dasein verdankt. Von hier aus ist es zu der Präsentation der Wissenschaft im Kreis der symbolischen Formen, wie sie Cassirer dann 1944 in seinem «Essay on Man» vorgenommen hat, nur noch ein Schritt.
Der dünne Faden
Nach alldem ist klar, dass Cassirers Logik für Szientisten und jene, die allein auf die Karte der Wissenschaft setzen und sie weltanschaulich überhöhen, nichts hergibt. Wissenschaft ist eine Form des Wissens, aber gerade als diese bestimmte Form, die sie ist, schöpft sie den Raum des Wissens und der Weltkenntnis niemals aus. In einer offenbar späten, skizzenhaft überlieferten Aufzeichnung zum Naturbegriff erwähnt Cassirer das Motiv des doppelten Tisches, das er in Eddingtons «Weltbild der Physik» von 1931 gefunden hatte. Der Tisch, an dem er sitze, habe einen Doppelgänger und sei eigentlich zwei Tische – zum einen ein substanzhafter, ein realer und sinnlicher Tisch, zum anderen ein wissenschaftlich verstandener, ein ideeller und abstrakter Tisch. Was hat der eine Tisch mit dem anderen zu tun? Die Logik der Wissenschaften hat zuletzt keinen anderen Zweck, als diese schlichte Frage zu beantworten und zu verhindern, dass der dünne Faden, der die Doppelgänger verbindet, endgültig reisst.
Ernst Cassirer: Vorlesungen und Vorträge zu philosophischen Problemen der Wissenschaften (1907-1945). Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 8. Herausgegeben von Jörg Fingerhut, Gerald Hartung und Rüdiger Kramme. Felix Meiner, Hamburg 2010. 283 S., € 168.-.
______________________________________________________________________
Kommentar. - Ich würde vorschlagen, die Unterscheidung zwischen Substanz und Funktion durch die Unterscheidung zwischen Sein und Bedeutung zu ersetzen.
J. E.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen