Freitag, 9. Oktober 2015
Die Verwissenschaftlichung des Lebens ist ein Trug.
Hologramm eines Sonnenwindes
Die Verwissenschaftlichung des Lebens durch die Industriegesellschaft ist ein Mythos. Das tägliche Leben und daher auch das Alltagsdenken der Menschen ist heute nicht stärker von 'Wissenschaft' beherrscht als je. Viele Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschungen sind in den letzten zwei Jahrhunderten ins Allgemein- wissen eingegangen; aber nicht als Wissenschaft, sondern als Doxa. Und beherrscht wird unser Alltag von der Technik und nicht von der Wissenschaft. 'Jeder ein Wissenschaftler' ist ebensolcher Blödsinn wie 'jeder ein Künstler', in der Industriegesellschaft nicht minder als bei den Ackerbauern.
Allerdings hat sich die Technik, die unsern Alltag durchdringt, in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend(!) verändert. Die industrielle Zivilisation hat eine mechanische Technik hervorgebracht, die auf dem linear-kau- salen Denken der cartesisch-Newton’schen Naturwissenschaft beruhte. In der Wissenschaft selbst ist das Denken seit bald anderthalb Jahrhunderten von der systemischen Denkweise der Thermodynamik verdrängt worden, die nicht einzelne Ursachen mit einzelnen Wirkungen verkettet, sondern die mehr oder minder wahrscheinlichen Veränderungen in einem 'Feld' unter sich ändernden Bedingungen beobachtet.
Mit einiger Verzögerung hat dieses Denken schließlich Eingang in die Technologie gefunden, seit der Ent- wicklung von Kybernetik und Informationswissenschaft Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Die Compute- risierung erst der Produktionsabläufe, dann zunehmend des bürgerlichen Alltags, bekannt unter dem Schlag- wort Digitale Revolution, ist das Ergebnis. Nicht das Wissen ist digital geworden, sondern die aus dem Wissen entwickelte Technik. Digital ist das Verfahren des (natur)wissenschaftlichen Denkens geworden, aber nicht sein Gehalt. Der ist so 'bildhaft' und 'anschaulich' wie je.
Parameter der mechanischen Technik des Industriezeitalters war die zweidimensionale Konstruktionszeich-nung 'jenseits der Zeit'. Der Höhepunkt und Inbegriff des digitalen Denkens ist das animierte Hologramm* in zeitlicher Dynamik. Kein digit, sondern ein anschauliches, anschaulicheres 'Modell'. Die Technik erlaubt uns, das Modell für diesen oder jenen Zweck einzusetzen. Aber sie sagt uns nicht, was ein Zweck ist. Das hat das anschauliche Denken 'vor' oder 'hinter' den digitalen Verfahren immer noch selbst zu entscheiden.
Der wissenslogische Zugewinn der Digitalen Revolution ist immens. Aber er ist nicht positiv – etwa in dem Sinn, dass sich nun 'Alles erfassen' ließe; sondern negativ, in dem Sinn, dass das, was sich 'nachhaltig' der digitalen Erfassung verweigert, nunmehr identifizierbar wird. Digitalisieren, d. h. als Zeichen mit andern Zeichen zu einem sinnvollen 'Diskurs' verknüpfen, lässt sich nur Relationelles. Diskurs ist die Beschreibung einer Relation. Was nicht darin aufgeht, muss ein Quale sein. Als solches lässt es sich nicht beschreiben, sondern nur anschauen.
Die Digitalisierung des Relationellen bringt die Qualitäten zur Anschauung. Mit andern Worten, die Formulierung 'technologiebasierte Politik' ist natürlich Unfug. Es muss heißen: auf Qualitäten orientierte Politik. Politik ist die Wahl der Zwecke und erst danach die Suche nach der geeigneten Technik.
*) Oder, umgekehrt, die bildgebenden Verfahren der Hirnforscher.
Juni 21, 2010
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