Der aufrechte Gang hatte eine ganze Reihe morphologischer Konsequenzen. Er hat einerseits die Vergrößerung des Kopfes ermöglicht, wodurch Homo zum sapiens wurde. Andererseits hat er verhindert, daß der vergrößerte Kopf auf hergebrachtem Weg geboren und (also) normal ausgetragen werden konnte. Darum werden Menschenkinder ‘zu früh’ geboren. Eigentlich “müsste unsere Schwangerschaft etwa um ein Jahr länger sein als sie tatsächlich ist”. Der Mensch kommt entsprechend hilflos ‘zur Welt’ – Adolf Portmann spricht geradezu von einem “extra-uterinen Embryonalstadium”. Und so bildet sich das höchstentwickelte Säugetier gewissermaßen ‘zurück’ zu einem sekundären Nesthocker. Dieser ‘Rückschritt nach vorn’ bestimmt fortan den ganzen Gattungscharakter.
Was nämlich bedeutet ‘Ausbildung’ in der Natur? Anpassung an die gattungsmäßig vorgegebene Umweltnische, Zurichtung für eine spezifische Funktion im ökologischen Geflecht. Natürliches Reifen ist nichts anderes als Spezialisierung: Sie ist, nach Arnold Gehlen, “das Endziel organischer Entwicklung” und findet “bei allen Säugern außer dem Menschen” statt. Das ist das Paradox der Species humana: Deren Reifung ist eine “Spezialisation auf Nicht-Spezialisiertsein”, schließt Konrad Lorenz. Ihre Ausbildung ist eine Entspezialisierung, ihre Reife ist Dysfunktionalität.
Was für das umweltgebundene Tier eine Minderung wäre, wurde für den Menschen, der sich eine Welt erschließen sollte, zum Gewinn, denn Spezialisierung auf die eine Möglichkeit bedeutet den Verlust all der andern. Das spezialisierte Wesen ist festgestellt. “Für ein Tier ist durch seine umweltgebundene Organisation von vornherein darüber entschieden, ob und inwiefern ein Naturbestandteil dieses Wesen etwas angeht. Die weltoffene Anlage des Menschen schafft dagegen eine völlig andere Beziehung zu der umgebenden Natur. Uns kann jeder noch so unscheinbare Teilbestand der Umgebung bedeutend werden, jede beliebige Einzelheit vermögen wir durch unsere Beachtung aus dem indifferenten Feld der Wahrnehmung herauszulösen und hervorzuheben. Uns kann alles etwas angehen.” (Portmann)
Verloren ging nach Portmann die Sicherheit, und gewonnen hat er eine Freiheit, durch die ihm die “Führung des Daseins eine nie endende Aufgabe” ward.Mit andern Worten, der Mensch funktioniert nicht, denn er ist, sagt Nietzsche, “das nicht festgestellte Tier” ist. Sein Gattungscharakter ist Plastizität.
Zur Welt werden die vorhandenen (und immer neu hinzukommenden) Dinge nicht durch sukzessive Addition. Sie ist kein Aggregat, sondern ein Ganzes, das gewissermaßen vor seinen Teilen “da ist”. Die Welt ist der ‘Raum’ der Bedeutungen: Das teilt sie mit den tierischen Umwelten, aus denen sie hervor gegangen ist.
Der Unterschied: Dieses Ganze ist “da”, weil es gedacht wird. In der wirklichen Vorstellung kommt freilich immer nur dieses und dieses und jenes vor. So erging es auch unsern Urahnen, als sie aus dem Urwald ins offene Feld ausbrachen: Dies und das war ihnen vertraut und bedeutete, was es schon immer bedeutet hatte. Anderes war ihnen in den Nischen nicht vorgekommen. Aber im offenen Feld kam Anderes vor; nicht als bedeutungslos, sondern als fraglich – weil nun das Ganze fraglich war. Das war eine ganz neue Bedeutung. Der Mensch ist der, der nach Bedeutungen fragen kann – weil er muss. Die Welt ist entstanden als Mangel. Als das, was nach dem Verlust der Umwelt fehlte. Ein Raum, in den ich fragend blicke.
Diesen Mangel beheben ist das Ergebnis einer Vorstellungsarbeit. Im Anschluß an Jacob von Uexküll entwickelte Ernst Cassirer seinen Symbolbegriff. Entsprechend seiner anatomischen Struktur besitze jeder Organismus “ein bestimmtes Merknetz und ein bestimmtes Wirknetz. Das Merknetz, durch das eine Spezies äußere Reize aufnimmt, und das Wirknetz, durch das sie auf diese Reize reagiert, sind in allen Fällen eng miteinander verknüpft. Sie sind Glieder einer einzigen Kette, die Uexküll den Funktionskreis des Lebewesens nennt. Der Funktionskreis ist beim Menschen nicht nur quantitativ erweitert. Er hat sich auch qualitativ gewandelt. Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als Symbolnetz oder Symbolsystem bezeichnen können. Diese eigentümliche Leistung verwandelt sein ganzes Dasein. Er lebt sozusagen in einer neuen Dimension der Wirklichkeit.”
Wenn alle Dinge ‘eine Bedeutung haben’, ermöglicht diese ihre gemeinsame Qualität, sie als eine – wenngleich artikulierte – Gesamtheit aufzufassen, indem die Bedeutung des Einen zur Bedeutung des Andern ins Verhältnis gesetzt wird; so dass idealiter die Bedeutung eines Jeden in den Bedeutungen aller Andern ihre Grenze findet. Die Welt ist dann die Totalität der Verweisungszusammenhänge.
Logisch mag man das Verhältnis umkehren: Indem man die (gedachte) Totalität aller (möglichen) Verweisungen an den Anfang setzt und die tatsächlich stattfindenden Verweisungen und schließlich die je einzeln bestimmt-werdenden Bedeutungen daraus “hervorgehen” läßt. Doch wenn es auch so wäre, daß die Welt, einmal erfunden, gegeben ist wie es die tierischen Umwelten sind – so müßte sie sich ein jedes neu hinzukommendes Individuum doch jedesmal wieder neu aneignen. Und es könnte das mehr oder weniger tun. Wenn ihm das auch am vorgegebenen Material leichter fällt als den abertausenden Generationen vor ihm, die alles erst erfinden mussten – im Prinzip ist es doch “so gut, als ob” er mit dem Bedeuten der Dinge ganz von vorn anfinge. Und die ‘erste’, elementare Bedeutung: die Scheidung von Ich und Nichtich. Indem ich ein Anderes “bedeute”, bedeute ich ipso facto ‘mich’ als das Andere dieses – und jedes andern – Andern. In einer natürlichen Umwelt kann es ein Ich nicht geben. Aber ohne Ich kann es die Welt nicht geben.
Und das regelmäßige in-Beziehung-Setzen von Ich und Welt nennen wir landläufig Vernunft.
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