Freitag, 18. September 2015
Siebente Windung: Eine Alltagskunst.
Nüchtern betrachtet, ist erziehen eine Alltagsverrichtung wie kochen oder Auto fahren. Im Prinzip kann das jeder, aber manch einer besser als manch anderer. Wohl kann man aus diesem eine Kunst, aus jenem einen Hochleistungssport machen. Dann wird man es mit Eifer (lat. studium) erlernen müssen. Für den Alltagsgebrauch reicht learning by doing, doch eine gewisse Vorübung ist nötig, um Katastrophen zu vermeiden.
Eine Alltagskunst
Bei aller Alltäglichkeit sind beide Tätigkeiten aber noch so spezifisch, daß ich sie von all meinen andern Verrichtungen im Tageslauf unterscheiden kann. Ich weiß, wann ich damit anfange und wann ich wieder aufhöre, und wenn ich’s mir nicht vornehme, findet’s nicht statt. Wenn aber, sagen wir, ein Vater mit seinen Kindern in den Zoo geht, wirkt er zweifellos erziehend. Aber deshalb tut er’s nicht, sondern weil es Freude macht. Nur darum wirkt es übrigens ‚erziehend’. Ginge er dagegen mit erzieherischem Vorsatz in den Zoo, hat er alle Chancen, dass er weder sich noch den Kindern damit Freude macht – und verfehlt die Absicht.
Wann ‚erziehen’ Eltern? Die Frage taugt als Vorlage für ein Schmunzelbuch. Zweifellos doch, wenn sie belohnen oder strafen: denn das tun sie ja wohl vorsätzlich. Was lernen ihre Kinder dabei? Nutzen und Schaden abwägen. Das würden sie aber auch ohne dies lernen – vielleicht langsamer, vielleicht schneller. Gerade dafür ist Erziehen also nicht ‚notwendig’. Tatsächlich geschieht das, was ein unbeteiligter Betrachter Belohnung oder Strafe nennt, im täglichen familiären Kuddelmuddel nicht vorsätzlich, sondern nebenher, ohne Kalkül. Das ist die Regel, die von Ausnahmen bestätigt wird – welche ihrerseits nur deshalb wirken, weil sie Ausnahmen sind. Mit andern Worten, Erziehung geschieht in der Regel beiläufig, unabsichtlich, unspezifisch, und immer, wenn es eigentlich um irgendwas anderes geht: Erziehung ist medial, sie braucht ein Drittes. Erziehung ist nicht Einwirkung von A auf B, Erziehung „ergibt sich“, wenn sich A und B an C zu schaffen machen.
Die pädagogische Situation
Einen allgemeinen Begriff von Pädagogik – oder einen Begriff von Allgemeiner Pädagogik – kann es nicht geben. Was es gibt, ist ein allgemeines Bild von der pädagogischen Situation. Nämlich: Einer, der in der Welt schon zuhause ist, begegnet einem, der dort neu ist, und ist er ein anständiger Kerl, dann zeigt er sie ihm. Darin liegt keinerlei Notwendigkeit, die in Begriffen, Gesetzen oder Formeln darstellbar wäre. Es ist nur eben tatsächlich so. Die Menschen neigen dazu – weil der Neue in diesem Bild typischerweise ein Kind ist.
Wer mehr von der Welt kennt, kann wohl auch mehr zeigen. Wie gut er sich aber aufs Zeigen versteht, ist eine andre Sache. Es gelingt immer dann am besten, wenn dabei der Eine versuchsweise durch die Augen des Andern schaut. Denn dann erscheinen die Dinge beiden immer wieder ein bisschen neu und zeigen ‚Seiten’, die in den Selbstverständlichkeiten des Alltags verborgen blieben: weil dann nämlich ‚unsere’ Welt immer in den Farben ‚meiner’ Welt scheint.
Das hat einen eigenen Reiz und punktiert den Alltag mit kleinen sonntäglichen Momenten. Es ist die ästhetische Seite der Sache, es lockt und verführt und ist das, was das Wesen der Kunst ausmacht. Für beide ein erhebendes Erlebnis, das mit dem vagen Wort vom pädagogischem Eros umschrieben wurde. Im Alltag gelingt es umso eher, je näher Menschen einander stehen. Darum sind Eltern in der Regel die besseren Pädagogen. Normalisieren können sie nicht so gut, aber was ihrer Welt an schulischer Breite fehlt, überbieten sie an anschaulicher Tiefe. Sie sind Alltagskünstler (wenn auch vielleicht nicht alle.)
Performing artist
Man kann immer noch einen Beruf daraus machen. Aber weil Normalität kein berechtigter Erziehungszweck mehr ist, ist das Labor nicht mehr der bevorzugte Ort. Erziehung findet in Situationen statt, und die sind immer konkret. Erziehen ist eine Sache des Alltags. Pädagogik ist, wo sie theoretisch ist, Kunstlehre. Und der – gute – Erzieher ist ein Künstler.
Aber ein Aktionskünstler: er schafft keine ‚Werke’, sondern eben nur – Situationen. Seine Sache ist es, die Situationen so zu arrangieren, dass sie den andern verlocken, (sich) heraus zu finden; nie vergessend, dass er selber mitspielt und dass vieles auch auf seinen Auftritt ankommt. Was es ist und wieviel es ist, wird er wissen, wenn er es probiert. Er ist kein Ingenieur, sondern ein Performer.
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