“Die Moral sagt schlechthin nichts bestimmtes. Sie ist das Gewissen, eine bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer einzeln. Gesetze sind der Moral durchaus entgegen”…
…notierte Novalis,* als er Fichte gelesen hatte. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass man Sittlichkeit nicht lernen kann wie irgend ein Pensum. Kann aber darum keiner was für den andern tun? Muss jeder wieder ganz allein aufbrechen und sehen, wo er bleibe? Nachdem so viel geschehen ist in der Geschichte und sich schon so viele vor uns an den Rätseln der Welt versucht haben? Dann hätten sie uns all ihre Zeugnisse ja ganz umsonst nachgelassen! Nein, definieren lässt sich das Rätsel vom Sinn allerdings nicht. Aber es lässt sich zeigen.
Unter den hinterlassenen Reichtümern der vergangenen Generationen ist kaum einer, der ganz allein dem Stoffwechsel diente und der Erhaltung des Leben so, wie es war. Fast jeder Gegenstand, jedes Werk weist in seiner Gestaltung einen kleinen Überschuss – Entwurf, disegno, design - auf, der nicht nötig gewesen wäre zu seinem bloß sachlichen Nutzen. Dieses Mehr betrachten wir als seine ästhetische Seite. Sie war immer auch eine Art Stellungnahme zur Frage nach dem Sinn der Welt, mal mehr, mal weniger absicht- lich. Und je mehr sein Schöpfer jeweils selber meinte, in seinem Werk die Frage beantwortet zu haben, umso sicherer erkennen wir Kunst darin, und die ist uns noch rätselhafter als die Natur, weil sie sich selbst für eine Lösung hält.
Seit der Romantik nun, als die Kunst modern wurde, bescheidet sie sich, nein: macht sie sich’s zur Ehre, das Rätsel nur noch darzustellen. Sie begibt sich ausdrücklich in Gegensatz zu Industrie und Wissenschaft, die beide versprechen, spätestens morgen zu klären, was heute noch im Dunkeln liegt. Industrie und Wissenschaft behalten Recht, denn das Leben geht weiter. Doch je besser sie uns das Leben und die Welt erklären, um so deutlicher wird auch, dass deren Sinn nicht in ihnen liegt, sondern außerhalb, als das immer neue Problem.
Als solches lässt es sich nicht begreifen und erlernen, sondern nur anschauen. Sein Medium ist nicht Logik, sondern Ästhetik. Das ist ein Erleben, wo nicht das Urteil erst – nach Analyse und Kritik – auf die Wahrneh- mung folgt, sondern „auf einmal“ mit ihr selbst gegeben ist, uno actu. Nicht dass es aller Kritik entzogen wäre. Es ist nicht diskursiv, aber darum ist es noch lange nicht irrational; doch erst einmal muss es da sein, und das muss jeder selbst vollbringen – andemonstrieren lässt es sich nicht.
Merke:
“Ethik und Aesthetik sind Eins.”
Ludwig WittgensteinTractatus logico-philosophicus, Satz 6.421
*) In Fichtens Moral sind die richtigsten Ansichten der Moral. Die Moral sagt schlechterdings nichts Bestimmtes – sie ist das Gewissen – eine bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer einzeln. Sie ist durchaus Entschlossenheit. Richtige Vorstellung vom Gewissen. Gesetze sind der Moral durchaus entgegen.
Unter den hinterlassenen Reichtümern der vergangenen Generationen ist kaum einer, der ganz allein dem Stoffwechsel diente und der Erhaltung des Leben so, wie es war. Fast jeder Gegenstand, jedes Werk weist in seiner Gestaltung einen kleinen Überschuss – Entwurf, disegno, design - auf, der nicht nötig gewesen wäre zu seinem bloß sachlichen Nutzen. Dieses Mehr betrachten wir als seine ästhetische Seite. Sie war immer auch eine Art Stellungnahme zur Frage nach dem Sinn der Welt, mal mehr, mal weniger absicht- lich. Und je mehr sein Schöpfer jeweils selber meinte, in seinem Werk die Frage beantwortet zu haben, umso sicherer erkennen wir Kunst darin, und die ist uns noch rätselhafter als die Natur, weil sie sich selbst für eine Lösung hält.
Seit der Romantik nun, als die Kunst modern wurde, bescheidet sie sich, nein: macht sie sich’s zur Ehre, das Rätsel nur noch darzustellen. Sie begibt sich ausdrücklich in Gegensatz zu Industrie und Wissenschaft, die beide versprechen, spätestens morgen zu klären, was heute noch im Dunkeln liegt. Industrie und Wissenschaft behalten Recht, denn das Leben geht weiter. Doch je besser sie uns das Leben und die Welt erklären, um so deutlicher wird auch, dass deren Sinn nicht in ihnen liegt, sondern außerhalb, als das immer neue Problem.
Als solches lässt es sich nicht begreifen und erlernen, sondern nur anschauen. Sein Medium ist nicht Logik, sondern Ästhetik. Das ist ein Erleben, wo nicht das Urteil erst – nach Analyse und Kritik – auf die Wahrneh- mung folgt, sondern „auf einmal“ mit ihr selbst gegeben ist, uno actu. Nicht dass es aller Kritik entzogen wäre. Es ist nicht diskursiv, aber darum ist es noch lange nicht irrational; doch erst einmal muss es da sein, und das muss jeder selbst vollbringen – andemonstrieren lässt es sich nicht.
Das unterscheidet Bildung von Lernen. Güter lassen sich wägen und messen, aber Werte muss man erlebt haben. Auf Unterrichtseinheiten kann man es nicht verteilen, und methodischer Fleiß würde nur stören, denn er verengt das Wahrnehmungsfeld. Darstellbar ist es nicht als Argument und Kalkül, sondern in Bildern und Geschichten. Es erschließt sich nicht durch Analyse, sondern durch Betrachtung. Als die Hingabe an das Unbestimmte steht sie dem Spiel näher als der Arbeit. Sie ist der „ästhetische Zustand“.
Merke:
“Ethik und Aesthetik sind Eins.”
Ludwig WittgensteinTractatus logico-philosophicus, Satz 6.421
*) In Fichtens Moral sind die richtigsten Ansichten der Moral. Die Moral sagt schlechterdings nichts Bestimmtes – sie ist das Gewissen – eine bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer einzeln. Sie ist durchaus Entschlossenheit. Richtige Vorstellung vom Gewissen. Gesetze sind der Moral durchaus entgegen.
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Novalis, Allgemeines Brouillon N°670
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