Also soweit Philosophie wissenschaftlich ist, bleibt sie negativ und rein kritisch - das war das bisherige Ergebnis. Will sie positiv und praktisch werden, kann sie sich an logische Demonstrationen und Herleitungen aus geprüften Gründen nicht länger halten. Sie muss postulieren, was “sein soll”, auf eigene Verantwortung und ohne Sicherheits- netz. So in Politik und Pädagogik, und in der persönlichen Lebenslehre ohnehin. Existenzphilosophie hat man das genannt, und der Name gefällt mir. Positiv und wissenschaftlich verfahren allein die Naturwissenschaften, und darum nennen sie sich die exakten. Und was wird aus dem vielen, vielen positiven Wissen, das die Menschen inzwischen über sich selbst und über ihr Tun und Lassen in Geschichte und Gegenwart angesammelt haben? Dass es nicht ‘wissenschaftlich’ im Sinn der strengen Verfahren von Physik und Chemie ist; dass es nämlich nicht die Mathematik zum Leitfaden hat, springt ins Auge. Aber es ist doch nicht willkürlich und rein ästhetisch wie die von A bis Z wertsetzenden – und daher ‘durch Freiheit möglichen’ – praktischen Disziplinen. Sie hat es ja mit Erfahrungstatsachen zu tun!
Es fängt bei der Namensgebung an. “Natur”wissenschaft… im Unterschied, im Gegensatz zu was? Zu Geistes- wissenschaft, Moral science, Humaniora? Der Unterschied ist nicht selbstverständlich, und darum wurde er auch nicht immer gemacht. Bei den Antiken erscheinen Physik und ‘Meta’-Physik noch ganz ungescheiden, erst bei Aristoteles werden sie wenigstens auf verschiedene Bände verteilt; aber schon bei den – dann lange Zeit Ton angebenden – Neuplatonikern (Plotin, Proklos) treten sie wieder vermengt auf. Sachlich notwendig wird sie auch wirklich erst mit Galileo, der mit der Mathematisierung der Formeln zuerst ein Kriterium eingeführt hat, um ’strenge’ Wissenschaft von mehr oder minder plausiblem Dafürhalten zu unterscheiden. Mit Descartes ist dieses Kriterium fürs Abendland verbindlich geworden: Wissenschaft spricht wahr, und der Maßstab für die Wahrheit der Aussagen ist, dass sie ’so klar und eindeutig bewiesen werden können wie die Demonstrationen der Geometrie’. Nur was sich in einem mathematischen Modell darstellen lässt, lässt sich mit mathematischer Sicherheit beweisen.
Dass
‘Natur’ eo ipso in ein mathematisches Modell gehört, war damit
stillschweigend unterstellt. Die Unterstellung ist geschehen, indem sich
Galileo ausdrücklich aus der aristotelischen Meta-Physik zurück besann auf Platos ‘Ideen’-Begriff
und seiner Anschauung der reinen Formen (’vollkommene Körper’) in der
Mathematik. Dass damit ‘allein die Natur’ zu erfassen wäre, war damit
noch gar nicht positiv gesetzt. Es ergab sich negativ, indem ein Rest
übrig blieb, der sich nicht in mathematischen Modellen darstellen
lässt; eben die ‘nicht-exakten’ Wissenschaften: Wissenschaften im
eingeschränkten Sinn…
Descartes hat schon zu seiner Zeit energischen Widerspruch gefunden, der zu seiner Zeit aber ungehört blieb. Giambattista Vico
stellte der Idee von der mathematischen Durchschaubarkeit von Gottes
Schöpfung den Grundsatz entgegen, dass einer nur das ‘wahr’ erkennen
könne, was er selber gemacht habe: “Verum et factum
convertuntur”, ‘wahr’ und ‘gemacht’ bedeuten dasselbe. Die Natur habe
Gott gemacht und der allein könne sie erkennen. Der Mensch hat seine
Geschichte (seine Kultur, seine Kunst…) gemacht, und die allein könne er
verstehen.
In einen Gegensatz sind Physik und Philosophie mit dem Beginn der industriellen Revolution faktisch
getreten. Es war ein Streit um die Deutungshoheit im gesellschaftlichen
Raum, den die Philosophie ab Mitte des 19. Jahrhunderts nur verlieren
konnte. Der Rückgriff auf G.Vicos Gedanken erfolgte gegen Ende des
Jahrhunderts, als Philosophie und Geschichtswissenschaft gegen den
bloßen Positivismus der ‘Natur’- und Ingenieurswissenschaften neu zu
behaupten suchten.
Eine positive Bestimmung hat dann wohl zuerst Wilhelm Dilthey
(1833-1911) unternommen. Während der Mensch im ersten Fall ‘die Natur
außer ihm’ untersucht, betrachtet er in den “Geistes”-Wissenschaften
’sich selbst und seine Werke’. Gilt es bei jenen, die Dinge aus ihren
Ursachen zu erklären, suchen diese, die Taten den Menschen aus ihren
Motiven zu verstehen. Die Methode hier ist rationale Rekonstruktion,
dort intuitive Einfühlung.
Das
ist früh als unbefriedigend empfunden worden. Plausibel und für die
Konversation tauglich ist es wohl, aber sobald man sich den
wissenschaftlichen Grenzfällen nähert – für die die Unterscheidung ja
taugen soll, nicht aber für die unstrittigen Fälle! -, lässt sie sich
nicht konsequent durchführen. Generell schon darum nicht, weil seit Kant
(von dem auch Dilthey ausging) auch in den Naturwissenschaften das
menschliche Apriori – die ‘Kategorien’ und die ‘transzendentalen
Anschauungsformen’ Raum und Zeit – immer schon mit enthalten ist. Und im
Besondern wird es deutlich bei der immanenten Methodenreflexion der
Naturwissenschaften: Beschäftigt sich Wissenschaftslogik mit der Natur
außer uns oder mit uns selbst und unsern Werken?! Gänzlich verwirrend
wird es beim Prüfstein der Naturwissenschaftlichkeit selber: der
Mathematik – und da verstrickte uns diese Unterscheidung unversehens
tief in die Metaphysik, und die Katze bisse sich in den Schwanz.
Wilhelm Windelband (1848-1915) sah es als irreführend an, die beiden großen
Wissenszweige nach ihren Gegenständen unterscheiden zu wollen: Es
stecken viel zu viele Prämissen da schon drin! Zweckmäßiger sei es,
zunächst ihre Verfahrensweise und eo ipso ihre Erkenntnisabsichten zu
unterscheiden: Die ‘Gegenstände’ werden sich finden…
Es
gibt Wissenszweige, die in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen nach
durchgehenden Regelmäßigkeiten suchen, und wenn sie sie finden, stellen
sie sie womöglich in mathematischen Formeln dar. Diese nennen sie
‘Naturgesetze’. Wissen- schaften, die sich um die Formulierung von
Gesetzen bemühen, nennt er ‘nomothetisch’ (von gr. nómos= Gesetz, und thésis=Setzung). Es
gibt andere Wissenszweige, in denen es um die möglichst vollständige
Beschreibung einer einzelnen Gegebenheit geht (die notabene zu diesem
Zweck als eine ‘Einheit’ alias ‘Ganzes’ gedacht werden muss). Diese
Wissenschaften nennt er ‘idiographisch’ (von gr. ídion= dieses-Eine, und gráphê=Zeichnung).
Man
solle daher nicht sagen: Die Geschichtswissenschaft (Gesellschafts-,
Literatur-, Sprachwissenschaft…) “ist” idiographisch, “weil” ihr
Gegenstand nichts anderes zulässt und man sich bescheiden muss,
immer nur ein historisch eingrenzbares Einzelnes nach allen seinen
Seiten auszuleuchten. Man kann auch immer auf diesen Feldern quer durch
die Geschichte hindurch nach ‘Gesetzmäßigkeiten’ suchen. Freilich wird
man ihr Vorhandensein nun nicht mehr arglos voraus setzen können. Und hat man faktische Regelmäßigkeit (=Wahrscheinlichkeiten) wirklich aufgefunden, wird man immer noch begreiflich machen müssen, was daran notwendig gewesen sein mag
Im übrigen ist es nicht das Fehlen einer gesetzgeberischen Prätention, das die idiographische Disziplinen weniger exakt macht
als ihre ‘natur’wissenschaftlichen Schwestern; das macht sie im
Gegenteil weniger spekulativ. Sondern dass sie ihre theoretischen
Vermutungen nicht an überprüfbaren Experimenten öffenbtlich
bewahrheiten können. Das Gedankenexperiment muss ihnen den Laborversuch
ersetzen, und das ist weniger exakt als die Versuchsanordnung; denn
Denkfehler sind ansteckend.
Kurz gesagt: Im Unterscheid zu Diltheys dogmatischer
Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften ist Windelbands
Unterscheidung von nomothetischen und idiographischen Disziplinen eine heuristische und daher kritische Bestimmung.
Und eins ist klar: Was die letzten Endes alles entscheidende Frage angeht, was der Mensch in der Welt soll – da
bringen sie uns, wie wissenschaftlich auch immer, nicht einen Fuß breit
weiter als ihre naturwissenschaftlichen großen Brüder. Denn was der
Mensch in seiner Geschichte schon so alles gemacht hat, das “beweist”
lediglich, welche Möglichkeiten er wirklich hatte, denn er hat sie ja
ergriffen. Welche andern Möglichkeiten er vielleicht auchnoch gehabt
hätte, aber eben nur nicht ergriffen hat, darüber sagt es nichts. Und
noch weniger, ob er es gesollt hätte. Noch darüber, welche Möglichkeiten er heute und morgen hat und haben wird, und was er daraus machen soll.
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