Montag, 26. August 2013

Natur- und… “Geistes”wissenschaft?


Also soweit Philosophie wissenschaftlich ist, bleibt sie negativ und rein kritisch - das war das bisherige Ergebnis. Will sie positiv und praktisch werden, kann sie sich an logische Demonstrationen und Herleitungen aus geprüften Gründen nicht länger halten. Sie muss postulieren, was “sein soll”, auf eigene Verantwortung und ohne Sicherheits- netz. So in Politik und Pädagogik, und in der persönlichen Lebenslehre ohnehin. Existenzphilosophie hat man das genannt, und der Name gefällt mir. Positiv und wissenschaftlich verfahren allein die Naturwissenschaften, und darum nennen sie sich die exakten. Und was wird aus dem vielen, vielen positiven Wissen, das die Menschen inzwischen über sich selbst und über ihr Tun und Lassen in Geschichte und Gegenwart angesammelt haben? Dass es nicht ‘wissenschaftlich’ im Sinn der strengen Verfahren von Physik und Chemie ist; dass es nämlich nicht die Mathematik zum Leitfaden hat, springt ins Auge. Aber es ist doch nicht willkürlich und rein ästhetisch wie die von A bis Z wertsetzenden – und daher ‘durch Freiheit möglichen’ – praktischen Disziplinen. Sie hat es ja mit Erfahrungstatsachen zu tun! 

Es fängt bei der Namensgebung an. “Natur”wissenschaft… im Unterschied, im Gegensatz zu was? Zu Geistes- wissenschaft, Moral science, Humaniora? Der Unterschied ist nicht selbstverständlich, und darum wurde er auch nicht immer gemacht. Bei den Antiken erscheinen Physik und ‘Meta’-Physik noch ganz ungescheiden, erst bei Aristoteles werden sie wenigstens auf verschiedene Bände verteilt; aber schon bei den – dann lange Zeit Ton angebenden – Neuplatonikern (Plotin, Proklos) treten sie wieder vermengt auf. Sachlich notwendig wird sie auch wirklich erst mit Galileo, der mit der Mathematisierung der Formeln zuerst ein Kriterium eingeführt hat, um ’strenge’ Wissenschaft von mehr oder minder plausiblem Dafürhalten zu unterscheiden. Mit Descartes ist dieses Kriterium fürs Abendland verbindlich geworden: Wissenschaft spricht wahr, und der Maßstab für die Wahrheit der Aussagen ist, dass sie ’so klar und eindeutig bewiesen werden können wie die Demonstrationen der Geometrie’. Nur was sich in einem mathematischen Modell darstellen lässt, lässt sich mit mathematischer Sicherheit beweisen.

Dass ‘Natur’ eo ipso in ein mathematisches Modell gehört, war damit stillschweigend unterstellt. Die Unterstellung ist geschehen, indem sich Galileo ausdrücklich aus der aristotelischen Meta-Physik zurück besann auf Platos Ideen’-Begriff und seiner Anschauung der reinen Formen (’vollkommene Körper’) in der Mathematik. Dass damit ‘allein die Natur’ zu erfassen wäre, war damit noch gar nicht positiv gesetzt. Es ergab sich negativ, indem ein Rest übrig blieb, der sich nicht in mathematischen Modellen darstellen lässt; eben die ‘nicht-exakten’ Wissenschaften: Wissenschaften im eingeschränkten Sinn…

Descartes hat schon zu seiner Zeit energischen Widerspruch gefunden, der zu seiner Zeit aber ungehört blieb. Giambattista Vico stellte der Idee von der mathematischen Durchschaubarkeit von Gottes Schöpfung den Grundsatz entgegen, dass einer nur das ‘wahr’ erkennen könne, was er selber gemacht habe: “Verum et factum convertuntur”, ‘wahr’ und ‘gemacht’ bedeuten dasselbe. Die Natur habe Gott gemacht und der allein könne sie erkennen. Der Mensch hat seine Geschichte (seine Kultur, seine Kunst…) gemacht, und die allein könne er verstehen.

In einen Gegensatz sind Physik und Philosophie mit dem Beginn der industriellen Revolution faktisch getreten. Es war ein Streit um die Deutungshoheit im gesellschaftlichen Raum, den die Philosophie ab Mitte des 19. Jahrhunderts nur verlieren konnte. Der Rückgriff auf G.Vicos Gedanken erfolgte gegen Ende des Jahrhunderts, als Philosophie und Geschichtswissenschaft gegen den bloßen Positivismus der ‘Natur’- und Ingenieurswissenschaften neu zu behaupten suchten.

Eine positive Bestimmung hat dann wohl zuerst Wilhelm Dilthey (1833-1911) unternommen. Während der Mensch im ersten Fall ‘die Natur außer ihm’ untersucht, betrachtet er in den “Geistes”-Wissenschaften ’sich selbst und seine Werke’. Gilt es bei jenen, die Dinge aus ihren Ursachen zu erklären, suchen diese, die Taten den Menschen aus ihren Motiven zu verstehen. Die Methode hier ist rationale Rekonstruktion, dort intuitive Einfühlung.

Das ist früh als unbefriedigend empfunden worden. Plausibel und für die Konversation tauglich ist es wohl, aber sobald man sich den wissenschaftlichen Grenzfällen nähert – für die die Unterscheidung ja taugen soll, nicht aber für die unstrittigen Fälle! -, lässt sie sich nicht konsequent durchführen. Generell schon darum nicht, weil seit Kant (von dem auch Dilthey ausging) auch in den Naturwissenschaften das menschliche Apriori – die ‘Kategorien’ und die ‘transzendentalen Anschauungsformen’ Raum und Zeit – immer schon mit enthalten ist. Und im Besondern wird es deutlich bei der immanenten Methodenreflexion der Naturwissenschaften: Beschäftigt sich Wissenschaftslogik mit der Natur außer uns oder mit uns selbst und unsern Werken?! Gänzlich verwirrend wird es beim Prüfstein der Naturwissenschaftlichkeit selber: der Mathematik – und da verstrickte uns diese Unterscheidung unversehens tief in die Metaphysik, und die Katze bisse sich in den Schwanz.

Wilhelm Windelband (1848-1915) sah es als irreführend an, die beiden großen Wissenszweige nach ihren Gegenständen unterscheiden zu wollen: Es stecken viel zu viele Prämissen da schon drin! Zweckmäßiger sei es, zunächst ihre Verfahrensweise und eo ipso ihre Erkenntnisabsichten zu unterscheiden: Die ‘Gegenstände’ werden sich finden…

Es gibt Wissenszweige, die in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen nach durchgehenden Regelmäßigkeiten suchen, und wenn sie sie finden, stellen sie sie womöglich in mathematischen Formeln dar. Diese nennen sie ‘Naturgesetze’. Wissen- schaften, die sich um die Formulierung von

Gesetzen bemühen, nennt er ‘nomothetisch’ (von gr. nómos= Gesetz, und thésis=Setzung). Es gibt andere Wissenszweige, in denen es um die möglichst vollständige Beschreibung einer einzelnen Gegebenheit geht (die notabene zu diesem Zweck als eine ‘Einheit’ alias ‘Ganzes’ gedacht werden muss). Diese Wissenschaften nennt er ‘idiographisch’ (von gr. ídion= dieses-Eine, und gráphê=Zeichnung).

Man solle daher nicht sagen: Die Geschichtswissenschaft (Gesellschafts-, Literatur-, Sprachwissenschaft…) “ist” idiographisch, “weil” ihr Gegenstand nichts anderes zulässt und man sich bescheiden muss, immer nur ein historisch eingrenzbares Einzelnes nach allen seinen Seiten auszuleuchten. Man kann auch immer auf diesen Feldern quer durch die Geschichte hindurch nach ‘Gesetzmäßigkeiten’ suchen. Freilich wird man ihr Vorhandensein nun nicht mehr arglos voraus setzen können. Und hat man faktische Regelmäßigkeit (=Wahrscheinlichkeiten) wirklich aufgefunden, wird man immer noch begreiflich machen müssen, was daran notwendig gewesen sein mag

Im übrigen ist es nicht das Fehlen einer gesetzgeberischen Prätention, das die idiographische Disziplinen weniger exakt macht als ihre ‘natur’wissenschaftlichen Schwestern; das macht sie im Gegenteil weniger spekulativ. Sondern dass sie ihre theoretischen Vermutungen nicht an überprüfbaren Experimenten öffenbtlich bewahrheiten können. Das Gedankenexperiment muss ihnen den Laborversuch ersetzen, und das ist weniger exakt als die Versuchsanordnung; denn Denkfehler sind ansteckend.

Kurz gesagt: Im Unterscheid zu Diltheys dogmatischer Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften ist Windelbands Unterscheidung von nomothetischen und idiographischen Disziplinen eine heuristische und daher kritische Bestimmung.

Und eins ist klar: Was die letzten Endes alles entscheidende Frage angeht, was der Mensch in der Welt soll – da bringen sie uns, wie wissenschaftlich auch immer, nicht einen Fuß breit weiter als ihre naturwissenschaftlichen großen Brüder. Denn was der Mensch in seiner Geschichte schon so alles gemacht hat, das “beweist” lediglich, welche Möglichkeiten er wirklich hatte, denn er hat sie ja ergriffen. Welche andern Möglichkeiten er vielleicht auchnoch gehabt hätte, aber eben nur nicht ergriffen hat, darüber sagt es nichts. Und noch weniger, ob er es gesollt hätte. Noch darüber, welche Möglichkeiten er heute und morgen hat und haben wird, und was er daraus machen soll.


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