Freitag, 23. August 2013

Die Kritik der Politischen Ökonomie in der digitalen Revolution.

Am Ende der Arbeitsgesellschaft
oder
Der Gebrauchswert der Intelligenz 

Dass das Menschenleben von der Arbeit geprägt ist, ist kein Naturzustand. Dass die Gesellschaft von der Wirtschaft beherrscht wird, verdankt sie einem historischen Ereignis und keinem Gesetz. 

Wirtschaften bedeutet: die Allokation knapper Ressourcen. Diese primäre Definition beruht auf einer durchaus nicht selbstverständlichen historischen Prämisse: daß die Ressourcen so knapp sind, dass ihre Verteilung ein Problem darstellt. Und dabei handelt es sich nicht um eine schlichte Tatsache, sondern um ein Verhältnis zwischen zwei fraglichen Größen: der Vermehrbarkeit der Ressourcen einerseits und der Menge der Bedürfnisse andererseits. Allokation der Ressourcen bedeutet daher: die Entscheidung darüber, welche – und wessen Bedürfnisse bei der Verteilung mehr gelten sollen als andere.

Aus dem Mangel… 

Wären beide Größen – Umfang der Bedürfnisse, Umfang der Ressourcen – gegeben, entstünde kein wirtschaftliches Problem. Das Problem wäre rein politisch: Wer setzt sich durch? In einem spezifischen Sinn wirtschaftlich wird das Problem nur dann, wenn die beiden Variablen – Bedürfnisse/Ressourcen – durch ein Bedingungsverhältnis einander vermittelt sind; kein logisches, sondern ein sachliches. Ein solches tritt ein in dem Moment, wo die Ressourcen durch Arbeit vermehrt werden können; denn damit stellt sich  die Frage: wer arbeitet wie viel? Denn es ist zugleich  die Frage: Legitimieren sich die individuellen, um die Ressourcen konkurrierenden Bedürfnisse durch eigene Arbeit, oder aus anderen Quellen?

Wirtschaften ist keine Konstante des menschlichen Gattungslebens. Es bildet die Rückseite der Fähigkeit des Menschen, durch Arbeit mehr zu erzeugen, als er verbraucht. Wirtschaftsgesellschaft und Arbeitsgesellschaft bedeuten dasselbe. Entstanden sind sie mit der Sedentarisierung und dem Übergang zum Ackerbau.

In der Welt der Jäger und Sammler waren jahrmillionenlang die Ressourcen nicht eo ipso knapp, und die Verteilung war kein Problem. War die Gegend, die eine Menschengruppe bewohnte, abgeweidet, wanderte sie weiter. Wurden die Zeichen beizeiten erkannt, trat Knappheit gar nicht ein. Andernfalls blieb sie – wie der Überfluss - eine momentane Ausnahme, die nicht lange genug währte, um die Formen des Zusammenlebens zu prägen.  (Denn wird Knappheit zum Dauerzustand, stirbt die Gruppe aus.) Unter solchen Umständen geschieht die Allokation naturwüchsig, eine gesellschaftliche Formbestimmung bildet sich nicht aus.

Der Getreideanbau bringt einen qualitativen Wandel. Durch Arbeit wird es möglich, einen stetigen Überschuss zu erzeugen. Ein beständiges Bevölkerungswachstum tritt ein. Ursprünglich trat Knappheit momentan als Mangel an einer bestimmten, absoluten Anzahl benötigter Dinge auf. Nun herrscht ständiger Mangel durch das stetige Wachstum der Bedürfnisse. Ab hier reden wir von Geschichte in einem bestimmten Sinn: "Diese Erzeugung neuer Bedürfnisse ist die erste geschichtliche Tat."[O1]  Welche Bedürfnisse gelten sollen, wird nun strittig.

Durch die Konkurrenz neuer Bedürfnisse auf der einen, mit einer wachsenden Menschenmasse auf der andern Seite wird die Allokation erstmals zum Problem, denn diese Konkurrenz ist dauerhaft und prägt schließlich die Formen des Zusammenlebens. Das Naturverhältnis wird überlagert von gesellschaftlichen Bestimmungen. Eine Differenzierung beginnt in jene, die Anspruch auf die "höheren Bedürfnisse" haben, und solche, die überzählig sind und denen im Notfall auch die primären Bedürfnisse verweigert werden. Denn der Boden, an dem die Arbeit ausgeführt wird, ist monopolisierbar. Der Arbeiter kann von ihm abgetrennt werden.

Nicht aus dem Eigentum folgt die Differenzierung, sondern aus tatsächlicher Differenzierung bildet sich das Eigentum.

Nicht Alle sind sesshaft geworden, nicht Alle betreiben Ackerbau. Die Herrenvölker folgen weiterhin als Jäger den Wanderungen der Tiere, bis sie zu ihren Hirten werden. Die Hirtenvölker scheuen die Arbeit, aber nicht deren Früchte. Die Habe muß verteidigt werden. Die Herausbildung einer Kriegerkaste reproduziert im Innern den Gegensatz zu den nomadisierenden Herren im Äußern. Auch die inneren Herren arbeiten nicht. Sie zehren von der Mehrarbeit der Andern. Die Aneignung geschieht politisch, nicht 'wirtschaftlich'. Vom Arbeitsprodukt greift sie schließlich auf das Arbeitsmittel selbst über. (Dasselbe wiederholt sich mit der Ausbildung der Grundherrschaft im frühmittelalterlichen Europa.)

Mit der wachsender Arbeitsproduktivität einerseits und der Monopolisierung des Bodens andererseits wird eine relative Überbevölkerung zur Geschichtskonstante, der Mangel für die Vielen und die Akkumulation von Reichtum bei wenigen wird zum Dauerzustand, es beginnt der Klassenkampf, und das Politische entwickelt sich zu einem autonomen Bereich des gesellschaftlichen Lebens. 

…erwächst die Wirtschaft.

Arbeit ist das allgemeine Mittel zur Behebung von Notdurft. Sie ist das Nützliche-an-sich und Ressource-schlechthin. Eine Welt, die sich negativ im Zeichen der Notdurft versteht, definiert sich  positiv als Arbeitsgesellschaft. Ihre vollendete, ‚ausgebildete’ Form ist die Marktwirtschaft: Alles hat seinen Preis. Jetzt müssen die Arbeiten gegeneinander austauschbar, ihre jeweiligen Qualitäten müssen mess- und vergleichbar sein. Die Nützlichkeit der einen Sache muß sich in der Nützlichkeit der andern Sache darstellen lassen. An die Stelle der Gebrauchswerte tritt der Tauschwert, der ‚Wert’ der Nationalökonomen: wiederum eine Nützlichkeit-an-sich, also wiederum Arbeit - als die allgemeinste Ware.

Marktwirtschaft bedeutet  eo ipso Industriegesellschaft. Dass regelmäßig nur gleiche Wertgrößen sich gegen einander austauschen, setzt voraus, dass Arbeit regelmäßig als Lohnarbeit stattfindet - weil der Arbeiter vom Boden getrennt ist und nicht mehr selber über die Mittel verfügt, die er zur Realisierung seines Arbeitsvermögens braucht. Denn erst, wenn die Arbeit ihrerseits als Ware gehandelt wird, kann sie sich im Austauschprozess als dessen durchschnittlich gültiger Maßstab 'ausmitteln'. An ihm kann Alles miteinander verglichen und gegeneinander getauscht werden. Die Bedürfnisse behaupten sich als gültig durch das Maß, in dem sie über (eigenes oder fremdes) Arbeitsvermögen verfügen. Durch die bestimmte Art der Produktion ist eine bestimmte Weise der Aneignung eo ipso mit'gesetzt'. Seither verteilen die Ressourcen 'sich selber', d. h. nach einer ökonomischen Regel, auf die Bedürfnisse.

Diese Regel beruht auf der Doppelnatur der Arbeit. Sie ist einerseits Verausgabung eines lebendigen Vermögens. Andererseits kann sie – unter gegebenen sachlichen Voraussetzungen - mehr 'Werte' schaffen, als zu dessen eigener Erzeugung und Erhaltung erforderlich waren. Wer über dieses Vermögen verfügt, eignet sich den Mehr-Wert an, nicht wer es (verausgabend) realisiert. Dieses "Wertgesetz" ist keine den Sachen selber innewohnende Kraft noch eine selbstherrliche Bewegung der Begriffe, sondern nur die gedankliche Schematisierung eines wirklichen Geschehens unter gegebenen Bedingungen.

Die Bedingungen waren, dass die Ressourcen schlechterdings knapp, aber schlechterdings durch Arbeit vermehrbar sind, und dass Arbeit die allgemeingültige Ware ist, weil Lohnarbeit vorherrscht. Das wiederum setzt voraus, dass das Arbeitsvermögen regelmäßig von den Mitteln seiner Realisierung getrennt ist.

Die Vermehrung der Ressourcen beruht auf der wachsenden Produktivität der Arbeit; das heißt: fortschreitender Arbeitsteilung und Kooperation. Zu einem prozessierenden System wurden sie in der mechanisierten Fabrik der Großen Industrie ausgebildet. Technologisch bedeuten sie die progressive Übertragung von Leistungen des lebendigen Arbeiters auf das Arbeitsmittel. Im reellen Fertigungsprozess kommt die Arbeit wesentlich als Durchschnittsgröße vor, Verausgabung von standardisierter Kraft, technischem Geschick und nervlicher Ausdauer; wobei die individuelle Intelligenz des lebendigen Arbeiters nur residual und als Fehlerquelle auftritt. Es handelt sich um all das, was an der produktiven Handlung wiederholbar ist. Ist es wiederholbar, dann ist es mechanisierbar. All dies wird im Lauf der technischen Entwicklung sukzessive in das Arbeitsmittel selbst eingebaut: in die Maschine. 

Der Gebrauchswert der Intelligenz

„In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wahren Reichtums abhängig weniger von dem Quantum angewandter Arbeit, als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder in keinem Verhältnis stehen zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie. Was Tätigkeit des Arbeiters war, wird Tätigkeit der Maschine.“ So tritt der Arbeiter „neben den Produktionsprozess, statt sein Hauptagent zu sein. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört [auf] und muss aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [Maß] des Gebrauchswerts.“ Mit andern Worten, das Wertgesetz verfällt – so hat es Karl Marx in den Grundrissen vorhergesagt. 
 

Seine Erfüllung findet der Prozess der technologischen Arbeitsteilung inden computergesteuerten automatisierten Werkstätten der Gegenwart. Hier ist nun auch ein Teil, nämlich der kombinatorische Anteil der lebendigen Intelligenz als 'Programm' kodiert worden und auf die Maschinen selbst übergegangen. Als Spezifikum der wirklichen lebendigen Arbeit, das schlechterdings nicht digitalisiert und kybernetisiert werden kann, ist am Ende des Prozesses der inventive, konzipierende Anteil der Intelligenz übrig geblieben: das lebendige Einbildungs- und Urteilsvermögen. Die Arbeitsteilung erreicht einen Punkt, wo sie die Qualität der Arbeit verändert. Die 'Gebrauchswertseite' macht sich gegen die bloße Formbestimmung (wieder) geltend. Das Individuelle gewinnt über den Durchschnitt die Oberhand. Der Tauschwert verfällt. 

Ressourcen, die durch Arbeit vermehrt werden können, sind an sich nun nicht mehr knapp. Virtuell sind die Bedürfnisse befriedigt, "produktionell" herrscht Überfluss. Wo Mangel aktuell noch immer auftritt, ist er kein ökonomisches, sondern lediglich ein Verteilungsproblem, das "nur noch" politisch gelöst werden muss. Und umgekehrt werden zusehends solche Ressourcen knapp, die durch Arbeit nicht vermehrt werden können und ipso facto keinen Tauschwert haben. Deren Verteilung auf die Bedürfnisse ist von Anfang an keine ökonomische, sondern "nur" eine politischen Aufgabe. 

Arbeit bleibt übrig als schiere Intelligenz: Einbildungs- und Urteilsvermögen. Deren Betätigung bezeichnen wir mit dem aktivischen Zeitwort wissen. Insofern ist die Feuilletonrede vom "Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft" treffender als ihre Kolporteure denken. Freilich, nicht die Datei – nicht die Daten und schon gar nicht deren Gespeichertsein –  macht Wissen aus, sondern die Generierung von Wissbarem; denn die Kombinatorik besorgt die Maschine. (Ein Bildungssystem, das das Arbeitsvermögen zu einem Analogon der Datenverarbeitungs- maschine ausbilden will, die es soeben verdrängt hat, ist der Nachhall des vergangenen Industriezeitalters und kein Auftakt zur 'Wissensgesellschaft'.) Ein so auf seinen 'einfachsten Ausdruck' zurückgeführtes Arbeitsvermögen ist nun nicht mehr regelmäßig getrennt von den Bedingungen seiner Ausübung. Es reicht ein Internetanschluss, mag man überspitzt sagen. Intelligenz hat keinen Tauschwert Aber Intelligenz hat keinen Tauschwert. Weil einbilden und urteilen nur actu geschieht und als solches nicht wiederholbar ist, wird er Philosoph sagen. Doch die Erzeugnisse von Einbildung und Urteil kann man sehr wohl wiederholen, sogar hersagen, ohne sie zu verstehen. Und gerade darum hat Intelligenz keinen Tauschwert: "Das Produkt der geistigen Arbeit steht immer tief unter ihrem Wert. Weil die Arbeitszeit, die nötig ist, um sie zu reproduzieren, in gar keinem Verhältnis steht zu der Arbeitszeit, die zu ihrer Originalproduktion erforderlich ist. Z.B. den binomischen Lehrsatz kann ein Schuljunge in einer Stunde lernen" – sagt Marx.

Denn der Tauschwert ist keine sachliche Eigenschaft des Produkts, sondern eine durch den gesellschaftlichen Verkehr ihm zugerechnete Größe; nicht die Arbeit, die gestern zu seiner Herstellung wirklich aufgewendet wurde, sondern die Arbeit, die heute notwendig wäre, um es wieder herzustellen. Die Ausbildung – oder sagen wir besser: die Bildung einer solchen Intelligenz mag viele lange Jahre dauern und ein Vermögen kosten. Aber ihre Produktionen sind so gut wie gar nichts 'wert', weil schon morgen sie die Spatzen von den Dächern pfeifen. Wo soll da ein 'Mehr'-Wert herkommen? Selbst in seinem innersten Kern, dem Doppelcharakter der Arbeit, hat sich so das Wertgesetz von selbst erledigt.

Wir wissen, welche Welt zu Ende geht. Wir wissen nicht, welche Welt entsteht. Es nützt nichts, aus dem Kaffeesatz zu lesen, welcher Parameter uns morgen 'Maß und Substanz' der Werte liefern kann, wenn es denn die Arbeit nicht mehr tut. Man muss sich – vielleicht noch nicht wir, aber die zwei, drei Generationen nach uns – auf eine Welt einstellen, in der die Sachen nichts mehr 'wert' , oder wo nicht mehr die Sachen etwas 'wert' sind. Das wäre keine andere Art des Wirtschaftens, sondern es wäre kein Wirtschaften mehr. Kein Ermitteln von Durchschnittsgrößen in blinden, selbstgesteuerten 'Prozessen ohne Subjekt', sondern Einbilden und Urteilen, wann und wo sich's ergibt. Keine ökonomische, sondern eine politische Gesellschaft.  

Der dritte Große Sprung 

Nach der Erfindung des aufrechten Gangs, nach dem Einbruch der Arbeit in unser Gattungsleben wird dies unser dritter Großer Sprung. Es ist allerdings das erste Mal, dass wir in vollem Bewusstsein springen. Das gibt der Feuilletonvokabel Wissensgesellschaft eine unerwartete Pointe.

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1) K. Marx in: Die Deutsche Ideologie, Marx-Engels-Werke Bd. 3, Berlin (O) 1958, S. 28


Eine erweiterte Fassung dieses Aufsatzes finden Sie

 

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