Samstag, 27. Mai 2017

Hervorbringen kann die Philosophie nichts.


Odilon Redon, Der Wagen Apolls

Philosophie

Die Philosophie soll nicht mehr antworten, als sie gefragt wird.

Hervorbringen kann sie nichts. Es muß ihr etwas gegeben werden. Dieses ordnet und erklärt sie, oder welches ebensoviel ist, sie weist ihm seine Stelle im Ganzen an, wo es als Ursache und Wirkung hingehört.

Welches ist aber ihr eigentlicher Wirkungskreis? Keine gelehrte Kunst kann es sein. Sie muß nicht von Gegenständen und Kenntnissen abhängen, die erworben werden müssen, von einer Quantität der Erfahrung, sonst wäre jede Wissenschaft Philosophie. Wenn also jene Wissenschaften sind, so ist sie keine.

Was könnte es wohl sein?

Sie handelt von einem Gegenstande, der nicht gelernt wird. Wir müssen aber alle Gegenstände lernen – also, von gar keinem Gegenstande. Was gelernt wird, muß doch verschieden sein von dem Lernenden. Was gelernt wird, ist ein Gegenstand, also ist das Lernende kein Gegenstand. Könnte also die Philosophie vielleicht vom Lernenden handeln, also von uns, wenn wir Gegenstände lernen? 

Die Philosophie ist aber selbst im Lernenden. Nun, da wird sie Selbstbetrachtung sein. Ei! wie fängt es der Lernende an, sich selbst in dieser Operation zu belauschen? Er müßte sich also lernen, denn unter Lernen verstehn wir überhaupt nichts als den Gegenstand anschaun und ihn mit seinen Merkmalen uns einprägen. Es würde also wieder ein Gegenstand. Nein, Selbstbetrachtung kann sie nicht sein, denn sonst wäre sie nicht das Verlangte. Es ist ein Selbstgefühl vielleicht. Was ist denn ein Gefühl?

(Die Philosophie ist ursprünglich Gefühl. Die Anschauungen dieses Gefühls begreifen die philosophischen Wissenschaften.)

Es muß ein Gefühl von innern, notwendig freien Verhältnissen sein. Die Philosophie bedarf daher allemal etwas Gegebenen, ist Form – und doch real und ideal zugleich wie die Urhandlung. Konstruieren läßt sich Philosophie nicht. Die Grenzen des Gefühls sind die Grenzen der Philosophie. Das Gefühl kann sich nicht selber fühlen.

Das dem Gefühl Gegebne scheint mir die Urhandlung als Ursache und Wirkung zu sein. Unterscheidung der Philosophie von ihrem Produkt: den philosophischen Wissenschaften.

Was ist denn ein Gefühl? 

Es läßt sich nur in der Reflexion betrachten, der Geist des Gefühls ist da heraus. Aus dem Produkt läßt sich nach dem Schema der Reflexion auf den Produzenten schließen.

Anschauungsvermögen. Der Anschauung liegt kein besondrer Trieb zum Grunde.

Die Anschauung ist für das Gefühl und die Reflexion geteilt. Eins ist sie ohne Anwendung. Angewandt ist sie Tendenz und Produkt. Die Tendenz gehört dem Gefühl, das Produkt der Reflexion. Das Subjektive dem Gefühl, das Objektive der Reflexion. (Beziehung zwischen Vermögen und Kraft.)

Gefühl und Reflexion bewirken zusammen die Anschauung. Es ist das vereinigende Dritte, das aber nicht in die Reflexion und Gefühl kommen kann, da die Substanz nie ins Akzidens kriechen kann, die Synthese nie ganz in der These und Antithese erscheinen. (So entsteht ein Objekt aus Wechselwirkung zweier Nichtobjekte. Anwendung auf die Urhandlung.)

Gefühl scheint das erste, Reflexion das zweite zu sein. Warum?

Im Bewußtsein muß es scheinen, als ginge es vom Beschränkten zum Unbeschränkten, weil das Bewußtsein von sich, als dem Beschränkten, ausgehn muß –, und dies geschieht durchs Gefühl, ohnerachtet das Gefühl, abstrakt genommen, ein Schreiten des Unbeschränkten zum Beschränkten ist: diese umgekehrte Erscheinung ist natürlich. Sobald das Absolute, wie ich das ursprünglich ideal Reale oder real Ideale nennen will, als Akzidens oder halb erscheint, so muß es verkehrt erscheinen: das Unbeschränkte wird beschränkt et vice versa. (Anwendung auf die Urhandlung.) Ist das Gefühl da im Bewußtsein, und es soll reflektiert werden, welches der Formbetrieb verursacht, so muß eine Mittelanschauung vorhergehen, welche selbst wieder durch ein vorhergehendes Gefühl und eine vorhergehende Reflexion, die aber nicht ins Bewußtsein kommen kann, hervorgebracht wird; und das Produkt dieser Anschauung wird nun das Objekt der Reflexion. Dieses scheint nun aber ein Schreiten vom Unbeschränkten zum Beschränkten und ist eigentlich gerade ein umgekehrtes Schreiten.

Beim Gefühl und der Reflexion wird freilich Unbeschränkt beidemal in einer verschiednen Bedeutung genommen. Das erstemal paßt der Wortsinn Unbeschränkt oder Unbestimmt mehr, das zweitemal würde Unabhängig passender sein. Das letztere deutet auf Kausalverbindung, und der Grund davon mag wohl darin liegen, daß die zweite Handlung durch die erste verursacht zu sein scheint. Es ist also eine Beziehung auf die erste Handlung. Hingegen deutet das erstere auf die Reflexionsbestimmung und ist also eine Beziehung auf die zweite Handlung, welches den innigen Zusammenhang dieser beiden Handlungen auffallender zeigt.

Woher erhält aber die erste Reflexion, die die Mittelanschauung mit hervorbringt, ihren Stoff, ihr Objekt? Was ist überhaupt Reflexion?

Sie wird leicht zu bestimmen sein, wie jede Hälfte einer Sphäre, wenn man die eine Hälfte, als Hälfte, und die Sphäre, als geteilt, hat. Denn da muß sie gerade das Entgegengesetzte sein, weil nur zwei Entgegengesetzte eine Sphäre in unserm Sinn erschöpfen oder ausmachen. 

Die Sphäre ist der Mensch, die Hälfte ist das Gefühl.

Vom Gefühl haben wir bisher gefunden, daß es zur Anschauung mitwirke, daß es dazu die Tendenz gebe oder das Subjektive, daß es der Reflexion korrespondiere, die Hälfte der Sphäre Mensch, im Bewußtsein ein Schreiten vom Beschränkten zum Unbeschränkten, im Grunde aber das Gegenteil sei, daß ihm etwas gegeben sein müsse, und daß dieses ihm Gegebene die Urhandlung als Ursache und Wirkung zu sein scheine.

Theoretische und praktische Philosophie, was ist das? Welches ist die Sphäre jeder?

Die Reflexion findet das Bedürfnis einer Philosophie oder eines gedachten, systematischen Zusammenhangs zwischen Denken und Fühlen, denn es ist im Gefühl. Es durchsucht seinen Stoff und findet, als Unwandelbares, als Festes zu einem Anhalten, nichts als sich und sich selbst rein, i. e. ohne Stoff, bloße Form des Stoffs, aber, wohlverstanden, reine Form, zwar ohne wirklichen Stoff gedacht, aber doch, um reine Form zu sein, in wesentlicher Beziehung auf einen Stoff überhaupt.

Denn sonst wäre es nicht reine Form der Reflexion, die notwendig einen Stoff voraussetzt, weil sie Produkt des Beschränkten, des Bewußtseins in dieser Bedeutung, kurz Subjektivität des Subjekts, Akzidensheit des Akzidens ist. Dies ist die Urhandlung usw.

Das ist das Kontingent, was die Reflexion, scheinbar allein, zur Befriedigung jenes Bedürfnisses liefert. Die Kategorie der Modalität schließt deshalb mit dem Begriff der Notwendigkeit. Nun geht die Wechselherrschaft an. Die Urhandlung verknüpft die Reflexion mit dem Gefühle. Ihre Form gleichsam gehört der Reflexion, ihr Stoff dem Gefühle. Ihr Geschehn ist im Gefühl, ihre Art in der Reflexion. Die reine Form des Gefühls ist darzustellen nicht möglich. Es ist nur eins, und Form und Stoff, als komponierte Begriffe, sind gar nicht darauf anwendbar. Die Reflexion konnte ihre reine Form darstellen, wenn man ihre partielle Funktion in der Gemeinschaft mit dem Gefühl Form nennt und diesen Namen auf ihre abstrakte Wirksamkeit überträgt. Nur im Gefühle gleichsam kann die Reflexion ihre reine Form aufstellen: neues Datum des überall herrschenden Wechselverhältnisses zwischen den Entgegengesetzten, oder der Wahrheit, daß alles durch Reflexion Dargestellte nach den Regeln der Reflexion dargestellt ist und von diesen abstrahiert werden muß, um das Entgegengesetzte zu entdecken.

Das Gefühl gibt nun der Reflexion zu seinem Kontingente den Stoff der intellektualen Anschauung. So wie das Gefühl der Reflexion in Aufstellung seiner ersten Formen behilflich sein mußte, so muß die Reflexion, um etwas, für sie zu bearbeiten Mögliches zu haben, mitwirken: und so entsteht die intellektuale Anschauung. Diese wird nun der Stoff der Philosophie in der Reflexion. Nun hat die Reflexion eine reine Form und einen Stoff für die reine Form, also das Unwandelbare, Feste, zu einem Anhalten, was sie suchte, und nun ist die Aussicht auf eine Philosophie, als gedachten (systematischen) Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen eröffnet. Wie finden wir nun den Stoff, das Objekt, was nicht Objekt ist, das Gebiet der Wechselherrschaft des Gefühls und der Reflexion bestimmt? Der Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen muß immer sein, wir müssen ihn im Bewußtsein überall finden können. Aber wie finden wir ihn systematisch?

Aus den reinen Formen der Reflexion haben wir das Verfahren der Reflexion mit dem Stoff überhaupt gelernt. Sie hat nun einen bestimmten Stoff, mit dem wird sie also ebenso verfahren. Dieser bestimmte Stoff ist die intellektuale Anschauung. Nach dem Gesetze der Urhandlung wird er geteilt. Sie zerfällt in ihre zwei Teile, in das Gefühl und in die Reflexion, denn aus diesen ist sie zusammengesetzt. Die Synthesis dieser These und Antithese muß eins, Grenze und Sphäre von beiden, absolute Sphäre sein, denn es ist Synthesis; wir sind aber im bestimmten Stoff, also muß es, es kann nicht anders sein – Mensch oder Ich sein. Der Mensch denkt und fühlt, er begrenzt beides frei, er ist bestimmter Stoff.

(Dies wäre Fichtens Intelligenz. Das absolute Ich ist dieser bestimmte Stoff, eh die Urhandlung in ihn tritt, eh die Reflexion auf ihn angewendet wird.)

So haben wir in unsrer Deduktion der Philosophie den natürlichsten Weg beobachtet: Bedürfnis einer Philosophie im Bewußtsein, scheinbares Schreiten vom Beschränkten zum Unbeschränkten, Reflexion darüber, scheinbares Schreiten vom Unbeschränkten zum Beschränkten, Resultate dieser Reflexion, Resultate des Gefühls dieser Reflexion, Reflexion über diese Resultate nach jenen Resultaten, gefundner Zusammenhang oder Philosophie. 
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Novalis, Fragmente
ed. Kamnitzer, Dresden 1929



Nota. - Das ist Fichtes gedanklicher Ausgangspunkt: Die Philosophie - lies: Transzendentalphilosophie - bringt selber nichts hervor. Sie hat ihren Gegenstand, nämlich das tatsächlich gegebene vernünftige Bewusstsein ihrer Zeitgenossen - der 'gemeine Standpunkt' -, und dieses gilt es zu verstehen: auf seine wirklichen Voraussetzungen zurückzuführen und seine Reichweite zu ermessen. Um dies zu können, muss die Philosophie einen Standpunkt über ihm einnehmen.

Fichte war Novalis' Ausgangspunkt, ihn wollte er interpretierend verstehen; stets mit dem Hintergedanken, "darüber hinaus" zu gehen. Im Einzelnen kommt er gelegentlich zu verblüffenden Einsichten. Aber insgesamt findet er doch nicht zu dem Verständnis, dass Transzendentalphilosophie an keiner Stelle Realphilosphie wird. So sind etwa Einbildungskraft und Reflexion nicht zwei real existierende antagonistische Kräfte, sondern lediglich zwei Ansichten ein und derselben intellektuellen Tätigkeit, die nur der philosophische Betrachter unterscheidet, um aus der Vorstellung von ihrer Wechselwirkung zu verstehen, was sie eigentlich 'tut'.

So macht z. B. Fichte auch von dem 'Gefühl' einen ganz und gar nüchternen, sensualistisch-materialistischen Gebrauch, Es ist der faktische Ausgangspunkt allen Wissens. Und das Absolute Ich 'ist' nicht ein 'bestimmter Stoff', sondern lediglich die Gedankenkonstruktion von Etwas, das Gefühle hat - und in der Anschauung darauf reflektiert. 

Die Wissenschafstlehre sei "bloße Reflexionsphilosophie", hat Hegel gesagt, mit andern Worten: Sie reflektiert lediglich auf das, was im faktischen Wissen wirklich vorkommt. Sie erfindet nichts hinzu. Aus Hegels Mund ist das ein Lob und kein Tadel. Novalis hat es von Fichte selbst gehört, aber so ganz mag er's nicht glauben. Gern würde er die Einbildungskrft darüber hinausschießen lassen, man merkt es an jeder Stelle.
JE


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