Dienstag, 31. Mai 2016

Philologen und Systematiker.



Dass die Philologen das philosophische Feld beherrschen, ist für einen wie mich ärgerlich; aber es ist unver- meidlich. Anders als zu Zeiten von Kant und Fichte ist Wissenschaft heute ein Betrieb. Das ist die Folge des Übergreifens wissenschaftlicher Erkenntnisresultate auf das ganze Leben in der industriellen Gesellschaft, und als solche war es nicht nur unvermeidlich, sondern auch begrüßenswert.

Nur in ihrer philologischen Bearbeitungsweise kann die Philosophie eine Erkenntnis- und Arbeitsgemeinschaft sein. Sie können sich untereinander nur über das austauschen, was allen geläufig ist. Nur so gibt es prozessie- renden Zusammenhang. Wenn aber alle Philosophen Systematiker wären, müsste jeder – anders geht’s ja nicht – annehmen, dass er erkannt hat, was keiner vor ihm und keiner neben ihm eingesehen hat. Darauf müsste er bauen. Das Verständigen mit Andern wäre ihm allenfalls ein persönliches – charakterliches, temperamentliches  – Bedürfnis, aber ein sachliches Erfordernis wäre es nicht.

Damit ließe sich ein in Raum und Zeit kontinuierlicher Betrieb nicht unterhalten. In dem Maß, wie die Universi- täten nicht als isolierte Herde, sondern als akademisches Netz zur Stätte des Philosophierens wurden, konnte nur das Philologische ihren Zusammenhalt gewährleisten. Systematiker waren immer Eigenbrötler, je mehr einer beim Philosophieren systematisiert, weil er wissen will, was wahr ist, umso mehr isoliert er sich von allen andern. Dass ihm einer dreinredet, stört ihn und lenkt ihn ab. Er braucht die andern als Spiegel und Resonanz- kisten; weniger als Stichwortgeber und Besserwisser.

Will er die Folge nicht in Kauf nehmen, darf er die Ursache nicht wählen. Und muss schlimmstenfalls seine Wahl rückgängig machen: Noch jeder der Sache verschworene Philosophiestudent dürfte als anmaßlicher Systematiker begonnen haben. Aber mit erfolgreichem Eintritt in den akademischen Betrieb – und anders lässt sich Philosophie nicht zum Beruf machen bleiben es die wenigsten. Dass sie ihre anfängliche Wahl im Lauf der Zeit tagtäglich ein bisschen revidiert und sich zu Philologen beschieden haben, merken die wenigsten; mit dem Ergebnis, dass hartnäckige Systematiker zu Außenseitern und Störern der Philosophie werden.

28. Mai 2015


Nachtrag. - Dass landläufig heute gerade die konventionellsten, nämlich 'analytischen' Philosophierer sich als Systematiker ausgeben, hielt ich zum gegebenen Zeitpunkt noch für ein vorübergehendes Missverständnis. Inzwischen muss ich es für eine absichtliche Nebelkerze halten. Sie häufen Partikel an, System ist ihnen suspekt wie dem Teufel das Weihwasser. 




Montag, 30. Mai 2016

Digitalisieren heißt fungibel machen.


Uwe-Jens Kahl_pixelio.de 

Ein Symbol ist ein 'digit': ein Zeichen für einen 'content', dessen sachliche Gestalt in keinerlei Verhältnis zu dessen sinnlicher Erscheinungsform zu stehen braucht. Ein Wort ist so ein Symbol, oder ein X oder ein U oder eine Zahl. (Dass das digitale Denken mit dem Zählen begonnen hätte, bestreite ich. Die ersten 'Zahlen' waren Ordnungszahlen: erst eins, danach ein zweites, usw.; sie bezeichnen eine Folge in der Zeit - und die wird analog 'angeschaut': im Bild der Bewegung).

Das wirkliche Denken geschieht überhaupt nicht digital. Das wirkliche Denken geschieht nicht diskursiv. Das wirkliche Denken geschieht in einer Kaskade von unfassbaren Bildern. Erst in der Reflexion, die das Denken des Denkens ist, werden die Bilder 'begriffen': fest-gestellt und ein-gegrenzt (de-finiert). Das diskursive Denken ist die Form der Reflexion. Aber die Reflexion ist sekundär, sie bezieht sich auf ('metà') das anschauliche Denken als ihren Stoff. Allerdings kann erst sie das anschauliche Denken nach richtig oder falsch unterscheiden. Mit andern Worten, ohne sie ist es zu nichts zu gebrauchen.


aus e. online-Forum, im Juni 2010





Samstag, 28. Mai 2016

Wozu?







 
Sinn ist das Kriterium, das uns erlaubt, eine Wahl zu treffen. 
aus e. Notizbuch, im Juli 03

Nicht weil etwas Sinn hat, können wir wählen, sondern damit wir wählen können, muss etwas Sinn bekommen.

Freitag, 27. Mai 2016

Conditio humana.


Holbein d. J., Kaufmann Georg Gisze

Die Conditio humana beruht auf diesem einen: Der Mensch muss urteilen. Urteilen heißt, über die Bedeu- tungen befinden. Einem Ding eine Bedeutung zuerkennen ist: urteilen, dass eines, das erscheint, einem unterliegt, das gilt. Geltung ist dasjenige 'an' den Erscheinungen, das zum Bestimmungsgrund für mein Handeln wird. Handeln und Urteilen sind Wechselbegriffe. Handeln heißt nicht bloß, etwas tun - das tut das Tier auch; sondern: einen Grund dafür haben. Der Mensch muss handeln und Der Mensch muss urteilen bedeuten dasselbe.

aus e. Notizbuch, 9. 9. 2003 




Donnerstag, 26. Mai 2016

Wovon handelt Transzendentalphilosophie?


M. Sowa, Der Verdacht. 

Wenn die Transzendental- alias Kritische Philosophie nicht dazu taugte, im anthropologischen Feld die Spreu vom Weizen zu trennen, wäre sie überflüssig. 

* 

Die Transzendentalphilosophie fragt nach der Bedingung der Möglichkeit.

Möglichkeit ist eine rein logische Kategorie; eine Kategorie eben.

Eine Bedingung kann dagegen auch real sein. Was die Transzendentalphilosophie als Bedingung aufgefunden hat, muss sich auch historisch auffinden lassen. Wenn die Bedingung real ist, ist die Möglichkeit logisch wirklich. 

* 

Die Transzendentalphilosophie handelt von dem, was im Wissen vor sich ging, bevor es seiner bewusst wurde.

In ihr betrachtet sich das Wissen "von hinten und von vorn": Von hinten – a posteriori – als Reflexion; indem es sich bei seinem Tun zuschaut. [Bei Fichte: ideale Tätigkeit.]

Von vorn – apriori – als Spekulation; indem sie es re-konstruiert, 'wie es gewesen sein muss, bevor…' [Bei Fichte: reale Tätigkeit.]


Wenn wir von dem, was im Wissen vorging, bevor es von sich wusste, Erfahrung  haben können, brauchen wir keine transzendentale Spekulation.

Würde also die Hirnphysiologie empirisch beschreiben können, wie es geschieht, dass unser Meinen und Dafürhalten "zu sich selber kommt", so dass es seine Gültigkeit selber beurteilen kann, und wäre sie gar selber dieses Zusichkommen  – dann hätte sich die Transzendentalphilosophie erübrigt. Sie kann aber – im besten Fall – nur die neuronalen Prozesse beschreiben, in denen "etwas geschieht". Aber was geschieht, weiß sie nicht. Dazu muss sie einen Begriff von Denken, Meinen, Wissen bereits haben;  woanders her, nicht aus ihren Laboren. 

* 

Das ist keine Sache der Tiefenpsychologie: dort kann es Erfahrungen geben, sogar (wenn auch nicht eindeutig) mitteilbare. Keine Erfahrung kann ich haben von meinem Denken, bevor ich es durch Symbolisieren festgestellt habe. Ich kann nur rekonstruieren, "wie es gewesen sein muß", indem ich es so beschreibe, wie es gewesen wäre, wenn es in unserer Welt stattgefunden hätte, als Schema. Das ist Transzendentalphilosophie. Kein Tatsachenerweis, sondern eine Sinnbehauptung. Ein endgültiger und "letzter Mythos" – die "Geschichte, die von dem spielenden oder abenteuernden oder bildnernden Ursubjekt handelt" (H. Blumenberg).

 irgendwann nach 2001



Mittwoch, 25. Mai 2016

Das, was gemeint ist.




Bedeutung ist dasjenige von hinten, was von vorn Absicht war.*
Bedeutung ist die Scheidemünze dessen, was in großen Scheinen Sinn des Lebens heißt.
__________________________________________________________
*) Im Latein der Scholastiker hieß beides intentio: "das, was gemeint ist".

6. 11. 09

Dienstag, 24. Mai 2016

Der transzendentale Gedanke.


de Lotto, Narcissus

Der transzendentale Gedanke ist entgegen landläufiger Auffassung ganz einfach.

In meinem Bewusstsein - "Wissen" - kommen keine Dinge vor, sondern Vorstellungen.

Wie kämen Dinge in mein Bewusstsein? Klopfen sie an und sagen "Da bin ich, lass mich rein"? Nicht nur wollen sie das nicht, sondern sie können es gar nicht wollen, und sonst auch nichts. Meine Vorstellungen stammen nicht aus der Selbsttätigkeit der Dinge, sondern aus der Selbsttätigkeit meiner Einbildungskraft. Nicht die Dinge wollen etwas von der Vorstellung, sondern das Einbildungsvermögen will etwas von - oder mit - den Dingen. 

Verstehen heißt: die Tätigkeit der Einbildungskraft beobachten und herausfinden, wie sie verfährt, um zu Vorstellungen zu gelangen. Vorstellungen von den Dingen, ja ja. Aber nicht von denen geht die Aktion aus, sondern von der Einbildung. Bestimmen, etwas als Dieses setzen, kann nur sie. Die Dinge können bloß abwarten, was mit ihnen geschieht. Davon wollen sie aber gar nichts wissen.

Die andern Vorstellenden, denen ich im wirklichen Leben begegne, sind zwar auch Dinge, aber nicht ganz wie alle andern: Sie tun ja dasselbe wie ich. Mit ihnen habe ich doppelt zu tun; einmal als mit Dingen, das andre Mal als mit meinem Spiegel. Aber beide Male nur, sofern ich will. Von diesem Wollen hängt alles weitere ab.

30. 55. 2015

Sonntag, 22. Mai 2016

Künstliche Intelligenz.


Bärenapotheke
 
Aufbewahren und sortieren, das kann der Computer besser. Er hat den größeren Speicherplatz und den schnelleren Zugriff. Die Intelligenz der Menschen besteht darin, zu wissen, was sie sucht und wozu sie es brauchen will. Nur zu diesem Zweck muss sie auch wissen, wo sie suchen soll.

Und all dies ist erstens Sachen der Einbildungkraft und zweitens des Urteilsvermögens.

aus e. Notizbuch, im Okt. 07


Diese schafft Bedeutungen, jenes unterscheidet - je nachdem, auf welche Bedeutungen sie absieht - Dinge. Abse- hen - auf das eine, von dem andern, unterscheiden zwischen wichtig und unwichtig - kann der Computer nicht; jedenfalls nicht sponte sua. Er kann, wenn ein Programm ausfällt, in den Strudel der Zufälle abstürzen, und das ist schlimm genug. Aber auch gegen den korrigierenden Eingriff des Menschen kann er sich nur zufällig wehren und nicht mit Absicht. Er wird voraussichtlich am Ende den Kürzeren ziehen. 
 
Das hat Stanley Kubrick nicht bedacht.

18. 12. 14

Freitag, 20. Mai 2016

Digitalisierung befreit die Einbildungskraft.

fantasy art scenery


...Wenzels wie immer kluge Überlegungen erlaube ich mir zu ergänzen durch einen Gesichtspunkt, den ich selber entwickelt zu haben mich rühmen darf – die Unterscheidung zwischen 'unserer' Welt und  'meiner' Welt .

Das Internet und alle materielle wie menschliche Hard- und Software, die daran hängen, entstammt nicht nur ‘unserer’ Welt – es wird dort auch bleiben. Es greift zwar tiefer als jedes andere Medium zuvor – sofern wir die Sprache selbst einmal ausnehmen – in 'meine' Welt hinein: weil es zwar der digitalen Technik entstammt, in der 'unsere' Welt womöglich ihren endgültigen Daseinsmodus gefunden hat; aber seine mächtigste Wirkung auf 'analogem' Weg erzielt – in der Macht der virtuellen Bilder! (Man möchte sagen, digitale Revolution und Iconic Turn sind Cousins.) Die gehen tiefer und fester in 'meine' Welt ein, als es Begriffe und logisches Denken je vermocht haben. Aber Leben erhalten sie erst dort. Ihre Macht über mich ist die Macht meiner Einbildungskraft über sie. Und ob sie meine Einbildungskraft herausfordern und ihre Virtuosität ausbilden, oder ob sie sie überschwemmen und ersäufen, das… kommt ganz drauf an.

Die Einführung des ersten Digits ins Gemütsleben der Menschen, des gesprochenen Wortes, hat ihre bildhafte Einbildungskraft nicht verödet, nein, ganz gewiss nicht. Auch nicht der Untergang des mythologischen Zeitalters in der Verwissenschaftlichung der Welt (wie man das nannte). Sonst hätten sie die digitale Technologie ja nicht erfinden können.

Der Quell des tatsächlichen und produktiven Denkens ist das Sprudeln anschaulicher Bilder. Die Reflexion tritt hinzu und 'macht was draus', aber erfinden kann sie nichts. Die virtuellen Bilder können meine Einbildungskraft nur zupappen, wenn ihr zuvor im Korsett des diskursiven Regelmaßes die Luft genommen wurde. Wie und womit, und vor allem: von wem Kinder "beschult" werden – das spielt allerdings eine Rolle! Die Bildung sollte sich schon darauf besinnen, dass der Ursprung der Vernunft nicht logisch ('digital'), sondern ästhetisch ('analog') ist. Wenn alles, was irgend digitalisierbar ist, erst seinen gehörigen Platz in den Diskursen gefunden haben wird, dann bekommt die Einbildungskraft wieder freies Spiel.


im Oktober 2011

 
Nota. Meine Welt und unsere Welt durchdringen einander. Das sie ineinander - teilweise - auflösende Medium sind die in beiden Dimensionen brauchbaren Bedeutungen; nur die Bedeutungen. Was Wunder - denn meine Welt und unsere Welt 'kommen' überhaupt nur als Bedeutungsfelder 'vor'. Nicht meine Welt und unserer Welt unterscheiden sich. Sondern ich unterscheide mich; mal als bloßes Individuum, mal als Weltbürger.

März 2014

Donnerstag, 19. Mai 2016

Es gibt keine Meta-Ebene ohne einen Sach-Verhalt.


Caravaggio, Narcissus

Warum ist etwas, statt dass nichts ist? 

Die Frage ist dämlich. Denn damit sie gestellt werden kann, muss es vorab einen geben, der sie stellen kann. Das ist nicht nur eine grammatische, sondern ein logisches Erfordernis. Wer so fragt, müsste gewissermaßen hinter sich "zurückgreifen" und annehmen, 'dass es ihn nicht gibt'. Korrekt müsste die Frage so lauten: Wäre es möglich, dass es Nichts gibt, statt dass es Etwas gibt?

Der Haken ist der: Die einzig mögliche Antwort auf die Frage "warum ist etwas..." wäre nämlich die: weil es einer geschaffen hat. Und die ist logisch nicht möglich. - Wenn eine (begründete) Antwort nicht möglich ist, dann ist die Frage nicht statthaft.

aus e. Notizbuch, 21. 3. 10


Na, das war wohl etwas salopp. Denn ob etwas faktisch ist, bedeutet etwas anderes, als ob es denkbar ist. Ich muss denken können, dass etwas ist, ohne dass eine Intelligenz 'da ist', die fragen kann. Dann kann ich aber auch denken, dass nichts ist, ohne dass ich danach fragen kann. Im Subjekt des Fragens liegt der Hund nicht begraben.

Sondern in dem Wonach. Was soll "Etwas" bedeuten? Es ist eine Abstraktion. 'Etwas' gibt es nicht wirklich. Es gibt diese und jenes und noch eins und noch eins. Auf die Frage 'Warum gibt es diesen Apfel?' ließen sich tausend Antworten finden, die alle mehr oder minder gültig sind. Auf den 'letzten Grund seines Seins' werde ich so nicht kommen, denn das Sein ist nichts, was empirisch vorkommt, sondern wiederum eine Abstraktion - die nicht ist, sondern lediglich denkbar ist. Empirisch lässt sich immer nur erfragen, ob etwas wirklich, nicht aber, ob etwas möglich ist. Möglichkeit ist eine logische Kategorie.

Angenommen, es gäbe nichts. Wäre dann die Frage möglich: Warum gibt es nichts, statt dass es Etwas gibt? Gäbe es nichts, dann wäre... 'Etwas' gar nicht denkbar; es wäre nicht die Abstraktion von 'all jenen Dingen, die es auf der Welt nicht gibt'. Es wäre nicht möglich. Was es nicht gibt, lässt sich nicht verallgemeinern ('begreifen'). Man kann nicht fragen: Warum gibt es unendlich viele Dinge, die nicht sind, und keines, das ist?
 
Nichts ist nicht logisch gleichrangig mit dem Sein so wie Kopf und Zahl auf der Münze. Die Negation ist möglich nicht nur nach, sondern wegen der Position; nicht umgekehrt. Nicht nur nicht faktisch, sondern auch nicht gedanklich. Verneinen ist ein Reflexionsakt. Was nicht ist, darauf kann man nicht reflektieren.

30. 10. 2014 


Mittwoch, 18. Mai 2016

Das Verlangen nach Gewissheit.


Paul Feyerabend

2 Das intellectuale Gewissen. — Ich mache immer wieder die gleiche Erfahrung und sträube mich ebenso immer von Neuem gegen sie, ich will es nicht glauben, ob ich es gleich mit Händen greife: den Allermeisten fehlt das intellectuale Gewissen; ... Ich will sagen: die Allermeisten finden es nicht verächtlich, diess oder jenes zu glauben und darnach zu leben, ohne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider bewusst worden zu sein und ohne sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein zu geben, — die begabtesten Männer und die edelsten Frauen gehören noch zu diesen "Allermeisten." 

Was ist mir aber Gutherzigkeit, Feinheit und Genie, wenn der Mensch dieser Tugenden schlaffe Gefühle im Glauben und Urtheilen bei sich duldet, wenn das Verlangen nach Gewissheit ihm nicht als die innerste Begierde und tiefste Noth gilt, — als Das, was die höheren Menschen von den niederen scheidet! Ich fand bei gewissen Frommen einen Hass gegen die Vernunft vor und war ihnen gut dafür: so verrieth sich doch wenigstens noch das böse intellectuale Gewissen! 


Aber inmitten dieser rerum concordia discors und der ganzen wundervollen Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen und und nicht fragen, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergötzen — das ist es, was ich als verächtlich empfinde, und diese Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei Jedermann suche: — irgend eine Narrheit überredet mich immer wieder, jeder Mensch habe diese Empfindung, als Mensch. Es ist meine Art von Ungerechtigkeit.
_______________________________________
Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Buch 4. 1882


Nota I. - Das ist kein philosophisches Argument, sondern ein metaphilosophisches Motiv, und lässt sich nicht begründen, sondern muss gerechtfertigt werden.

Nota II. - Hätten Sie von Nietzsche erwartet, dass er aus der Dynamik seiner heroisch-nihilistischen Lebensphilosophie heraus die Notwendigkeit der Kritischen alias Transzendentalphilosophie behauptet? - Ebendas hat er hier getan; und sei es nur der Schönheit halber.
JE

28. 7. 14;

Dienstag, 17. Mai 2016

Wahrheit ist eine praktische Kategorie.


Rainer Sturm  / pixelio.de

Anders als die Gesetze der Geometrie ist die Annahme einer Wahrheit als konstitutivem Grund aller wahren Sätze nicht evident

Wer sagt, er könne die Sätze des Pythagoras nicht einsehen, der ist von Sinnen oder er will nicht. Dass 'es Wahrheit gibt', bestreiten dagegen viele, heute wie gestern. Es gebe nur Wahrheiten, nicht als eine Ganzheit, sondern ein möglicherweise endloses Neben- und Miteinander einzelner wahrer Sätze. Das mag man so einsichtig finden wie das Gegenteil, und der pragmatisch-skeptizistischen Grundstimmung der realen Wissenschaften liegt es heute sogar näher.

Dagegen kann man einwenden, dass allen Wahrheitsatomen dann immerhin diese eine Qualität gemeinsam wäre: wahr zu sein (oder richtig oder zutreffend oder wie immer man es nennen will). Das ist aber Ergebnis einer Reflexion aus vorab bestimmten Begriffe, und eben nicht unmittelbar einleuchtend.

Und es ist "bloß ein Gedanke", von dem keiner sagen kann, ob ihm in der Wirklichkeit etwas entspricht...

*

Nun wäre Wahrheit, ob es sie nun gibt oder nicht, keine Qualität des Wirklichen. Was ist, ist, und ist so, wie es ist. Es ist zwar richtig, dass 'es' die Qualitäten der Objekte nur 'gibt' als Antworten auf die Fragen, die Subjekte ihnen stellen. Ob sie antworten, liegt im Subjekt. Aber dass sie mit ja oder nein antworten, liegt daran, dass sie so oder so sind. 


Wahrheit ist keine Eigenschaft des Seienden. Wahrheit ist eine Eigenschaft von Sätzen, und die sind zunächst 'bloß ein Gedanke'. Wahr ist ein Satz, der gilt. Wenn er nur unter Bedingungen gilt, ist er nur bedingt wahr. Wenn er ohne Bedingungen gilt, ist er unbedingt wahr. Und das kann man denken. Gibt es mehrere Sätze, die unbedingt gelten, dann 'gibt es' die Qualität des Unbedingtgeltens.

Sätze über Erscheinungen in Raum und Zeit, vulgo in der Wirklichkeit, stehen unter den Bedingungen von Raum und Zeit. Dass sie unbedingt gelten könnten, wäre ein Widersinn.

In den Realwissenschaften kann es die Wahrheit nicht geben. Da reicht die Annahme einer Menge von einzelnen Wahrheitsatomen völlig aus, und da sie in Raum und Zeit bedingt sind, sind sie nur vorläufig. Mehr anzunehmen untergrübe die Wissenschaft.

*

Fichte betrieb nicht Realwissenschaft, sondern Wissenschaftslehre. Dass er sie auf einem Zirkel begründen musste, hat er den Skeptikern, die damals so in Mode waren wie heute, freimütig eingeräumt:

"Ueber diesen Cirkel hat man nun nicht Ursache betreten zu seyn. Verlangen, dass er gehoben werde, heisst verlangen,dass alles menschliche Wissen nur bedingt seyn, und dass kein Satz an sich, sondern jeder nur unter der Bedingung gelten solle, dass derjenige, aus dem er folgt, gelte, mit einem Worte, es heisst behaupten, dass es überhaupt keine unmittelbare, sondern nur vermittelte Wahrheit gebe – und ohne etwas, wodurch sie vermittelt wird."*

So muss, wer an die realen Wissenschaften mit dem Maßstab der formalen Logik heranginge, zugeben, dass auch sie 'vorübergehend' davon ausgehen muss, dass das, was jetzt gilt, gilt. Doch die Prämisse beruht auf einem Zirkel und gilt selber daher nur problematisch. In den reellen, 'theoretischen' Wissenschaften ist das kein wirklicher Mangel, denn der Wert ihrer Sätzen wird nicht an der Wahrheit gemessen, sondern daran, ob sie sich - technologisch oder forschungspraktisch - bewähren. Solange sie das tun, schadet es nichts, sie so anzusehen, als ob sie wahr wären - denn daran liegt nichts. Ob es "etwas gibt, wodurch sie vermittelt werden", muss sie nicht kümmern; Realwissenschaft ist nur vorläufig.

*

Ob es 'Geltung überhaupt' gibt, die nicht durch (wechselnde) Umstände von Raum und Zeit bedingt ist, wird zu einer Frage überhaupt nur für einen, dem es darum geht, sein Leben zu führen. Darf, kann, muss er das nach Lust und Laune tun, oder gibt es etwas, woran er sich halten soll? - Die Frage nach der Wahrheit ist ein praktisches Problem; von Evidenz ist keine Spur.
 


*) J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 62
24. 4. 14

Montag, 16. Mai 2016

Transzendentalphilosophie ist keine Hirnphysiologie.




Es ist ein Missverständnis, dass die Transzendentalphilosophie mit dem Empirischen gar nichts zu tun hätte. Würde sie von etwas handeln, das nicht wirklich ist, wäre sie überflüssig. Würde sie allerdings von etwas Wirklichem handeln, von dem wir Erfahrung haben können (wenn also zum Beispiel die Hirnphysiologen nicht nur die elektrochemischen Vorgänge im Gehirn beobachten, sondern auch darstellen könnten, was sie jeweils bedeuten), wäre sie nicht bloß überflüssig, sondern widersinnig.


Die Transzendentalphilosophie rekonstruiert ein Wirkliches, von dem wir keine Erfahrungen haben und das wir uns aus seinen Wirkungen erst erschließen müssen. Sie ist Wissen von etwas, das vor dem Wissen liegt: ist Spekulation, sie entwirft ein Bild; aber kein Abbild, sondern ein Sinnbild: ein Schema. 

Dezember 10, 2008



 

Samstag, 14. Mai 2016

"Geist = Absicht"...



...heißt es bei Fr. Schlegel, und wo er keine solche findet, da sucht er nach dem, was fehlt.

Absicht ist die Meinung, dass Etwas (etwas) besser sei als nichts (nicht-Etwas), ein Bestimmtes besser sei als ein Unbestimmtes.

Der Witz ist, dass die Menschen den Geist jetzt einmal haben; und wo er nichts findet, worauf er sich verwen- den kann, da denkt er sich etwas.

Geist ist das Vermögen, die Bedeutungs-Lücke aufzufüllen, nachdem er aus der Umwelt, wo alles seine Bedeutung hatte, in die Welt aufgebrochen ist, wo alles, was ihm begegnet, eine Bedeutung erst noch braucht. 

aus e. Notizbuch, 26. 10. 2000

Freitag, 13. Mai 2016

Vom Sprechen und dem Vergessen.








Der Mensch fragte wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob verwunderte.
___________________________________________________________________________
Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Nietzsche-Werke (ed. Schlechta) Bd. 1, S. 211








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Donnerstag, 12. Mai 2016

Kann sich das Tier etwas vorstellen?



Kann das Tier sich etwas vorstellen? 

Das kann man nicht wissen, es redet ja nicht darüber. Es ist aber auch egal, weil es sich das nämlich nicht merken und nicht behalten kann. Denn dazu bedürfte es der Symbolisierung. Die wiederum setzt eine notwendige - nicht zufällige! - Kommunikation voraus. Notwendig wird eine Kommunikation, die der Symbole bedarf, erst, wenn Bedeutungen mitgeteilt werden sollen, die sich nicht von selbst verstehen. Also wenn nicht bloß das Individu- um, sondern regelmäßig der Verband auf Fremdes stößt, das man verstehen -, weil man sich darüber verständigen muss.

aus e. Notizbuch, im Herbst 2010








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Mittwoch, 11. Mai 2016

Warum philosophieren überhaupt nötig ist.

glade-web
 
Dass die Menschen bestrebt sind, sich satt zu essen und danach das eine oder andere sinnliche Bedürfnis auch noch zu befriedigen, versteht sich von selbst, dafür braucht man keine Philosophie. Philosophieren müssen wir, um zu verstehen, wo die Menschen diesen schlimmen Drang nach dem Höheren her haben. Denn ohne den hätte "das Leben" gewiss nie das Rad erfunden, vom Mühlrad ganz zu schweigen.

Will sagen, nicht einmal die materiellen Bedürfnisse des Menschen hätten sich höher entwickelt, wenn sein Horizont nicht von Anfang an über das Erfordernis des Tages hinaus gereicht hätte.

aus e. Notizbuch, im Frühjahr 2008

Dienstag, 10. Mai 2016

Bedeutung und Erhaltungswert.



Bedeutungen, die in Bezug auf die Erhaltung stehen, kommen als solche im Erleben der Individuen vor, nämlich wo es um individuelle Erhaltung geht. Bedeutungen, die in Bezug auf die Erhaltung der Art stehen, kommen nur - durch "Auslese und Anpassung" - generationenübergreifend im kollektiven Verkehr "zum Tragen". Sie 'wirken' in der Gattungsgeschichte regulativ, müssen also, um "erlebt" zu werden, symbolisch erschlossen sein, und nur so sind sie tradierbar.

Bedeutungen, die 'auftreten', aber in keinem Bezug zu irgendeinem Erhaltungswert stehen, können individuell "erlebt", aber überhaupt nur in symbolische Form "gemerkt" ("behalten") werden. Die symbolische Form der Bedeutung lässt sie so erscheinen, als sei sie außer-sinnlicher Herkunft.

aus e. Notizbuch, im November 08


Und ich höre schon den Einwand: Der Akt, der am unmittelbarsten mit der Arterhaltung zu tun hat, bedürfte kein bisschen der Symbolisierung, um gemerkt zu werden. - Doch wie die Dialektik so spielt: Wenn er um der Arterhaltung willen vollzogen werden soll, was ganz ungewöhnlich wäre, dann bedürfte er sogar besonders starker Symbole, um zu gelingen; wenn überhaupt. 

11. Dezember 2014

Sonntag, 8. Mai 2016

Das einzig mögliche Absolute.

absolutes Postulat


Was tu ich, indem ich philosophiere? Ich denke über einen Grund nach, dem Philosophieren liegt also ein Streben nach dem Denken eines Grundes zu Grunde. Grund ist aber nicht Ursache im eigentlichen Sinne, sondern innere Beschaffenheit – Zusammenhang mit dem Ganzen. Alles Philosophieren muss also bei einem absoluten Grunde endigen.

Wenn dieser nun nicht gegeben wäre, wenn dieser Begriff eine Unmöglichkeit enthielte, so wäre der Trieb zu philosophieren eine unendliche Tätigkeit und darum ohne Ende, weil ein ewiges Bedürfnis nach einem absoluten Grunde vorhanden wäre, was doch nur relativ gestillt werden könnte – und darum nie aufhören würde.

Durch das freiwillige Entsagen des Absoluten entsteht die unendliche freie Tätigkeit in uns – das einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann und das wir durch unsre Unvermögenheit, ein Absolutes zu erreichen und zu erkennen, finden. Dies uns gegebene Absolute lässt sich nur negativ erkennen, indem wir handeln und finden, dass durch kein Handeln das erreicht wird, was wir suchen.

Das ließe sich ein absolutes Postulat nennen.—————————————————————————————————
Novalis, "Fichte-Studien", in Gesammelte Werke, Herrliberg-Zürich 1945, Bd. 2, S. 172









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Samstag, 7. Mai 2016

Denkzeug.

Allar, Enfant des Abruzzes

So wie Hämmer, Zangen und Sägen Werk-Zeuge sind, so sind Begriffe und logische Regeln Denk-Zeuge und keine Werke. Werke sind erst die mit ihrer Hilfe komponierten 'Bilder', deren 'Bedeutung' angeschaut wird.*

Soll heißen, das Denken beginnt nicht nur in der Anschauung, sondern läuft auch darauf hinaus.

Freilich sind auch die Werk- und Denk-Zeuge ihrerseits komponiert; aber zu einem formalen Zweck. Die Form ist die Gebrauchsanleitung.

*) Ebendas ist die Rechtfertigung der Dialektik: Sie lässt die Verselbständigung der Begriffe im diskursiven Zusammenhang durch ihr Widerspiel deutlich werden - und macht ihren anschaulichen Gehalt kenntlich!

aus e. Notizbuch, 30. 4. 07


Nota, Sept. 2014

Sie sind vor allem ersteinmal Behältnisse (und ihre Henkel). So können die Anschauungsgehalte - 'das Gemeinte' - für späteren Gebrauch aufbewahrt und, wenn nötig, Anderen mitgeteilt werden. Verschiedene Gefäße taugen für verschiedene Inhalte, und Henkel - oder Räder, Schienen, Kräne - ermöglichen verschiedenen Transport. Ob die Gefäße zu groß sind oder zu klein, so dass etwas danebenfällt, und ob der Inhalt unterwegs Schaden nimmt - immer ist es der anschauliche Inhalt, auf den es ankommt, und darauf, wie er ankommt; aber nicht die Gefäße und nicht der Transport.



 

Freitag, 6. Mai 2016

Bürgerliche Welt und bürgerliche Mentalität.



Die mentale Grundverfassung des bürgerlichen Subjekts: Hinter mir liegt ein Woher, das schiebt, und vor mir liegt ein Wozu, das saugt und zieht.

Hat die bürgerliche Welt diese Mentalität geschaffen? Umgekehrt. Leute mit dieser Mentalität haben eine Welt geschaffen, und andre sind nachgedrungen. Die Vorreiter haben mit ihrer Weltanschauung unter den ihnen ge-gebenen Bedingungen reüssiert, da wollten die andern unter denselben Bedingungen nicht nachstehn.

Den Punkt gäbe es nicht ohne den unendlichen Raum, in dem er ist. Den Raum gäbe es nicht ohne den Punkt, der in ihm ist.

Ich und Welt sind Wechselbegriffe.








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15. 12. 15

Donnerstag, 5. Mai 2016

Der hermeneutische Zirkel.

Einbildung 

Sein ganzes wissenschaftliches Instrumentarium – das Denkzeug ebenso wie seine Laboreinrichtung – ist auf  'ursächlich wirkende' Res extensa ausgelegt. Was anderes bleibt gar nicht darin hängen. 

VersuchsanordnungWer ein Sieb zum Schöpfen nimmt, wird finden, dass Wasser eine bloße Einbildung unserer Vorfahren war.









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Mittwoch, 4. Mai 2016

Vernunft ist die Überkompensation eines Mangels.


Die Bedeutungen der Urwaldnische waren an den Erhaltungswert gebunden.
Der Mangel an Bedeutungen in der offenen Welt ist nicht an den Erhaltungswert gebunden.


aus e. Notizbuch, Frühjahr 10


Das ist der Schlüssel zum Verständnis der Hominisation und der Schlüssel zum Mysterium der Vernunft. Nicht der Verstand ist das spezifisch Menschliche; tierische Intelligenzen reichen da nah heran. Hinzu kam die Fähigkeit, Zwecke zu setzen: wahrnehmen und wägen von Werten: Vernunft. 

Wertnehmen ist das Erfinden von etwas vorher-nie-Dagewesenem. In der Umwelt des Tieres gibt es nur einen Wert - Erhaltung; also keinen: von Werten kann erst die Rede sein, sobald ich wählen kann. Doch gegeben war nun auch der nicht mehr. Aber geführt werden musste das Leben, weil die 'Welt' in der Savanne offen war. Das war die Stunde der produktiven Einbildungskraft. Musste sie entstehen? Nein, aber sie konnte. Und dass die Familie Homo bis heute überlebt, bezeugt, dass sie entstanden ist.


31. 10. 14 




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Dienstag, 3. Mai 2016

Einbilden und urteilen.



Einbilden kann ich rein anschauend, beschauend, passiv. Urteilen muß ich, sobald ich ans Handeln denke.

Merke: Einbilden ist selber Tätigkeit


Handeln ist eine Tätigkeit, die auf einen Widerstand trifft, weil sie ihn sucht. Das Einbilden findet keinen Widerstand und sucht keinen. Sobald es sucht, muss es urteilen.






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Montag, 2. Mai 2016

Das Wesen des Christentums.



Das Abendländische am Abendland ist Reflexion. Sie ist das auszeichnende Charakteristikum des westlichen Kultur.

Der morgenländische Weise versenkt sich in der Anschauung und hört auf, er selbst zu sein; wird Eins mit dem Angeschauten und taucht daraus nicht wieder auf. Das ist sein Ideal.

Die Besonderheit des Christentums ist, dass Gott Mensch geworden ist. Als Sohn schaut er den Vater an - durch das Auge des Heiligen Geistes; durch ihn sind sie geschieden und vereint. 

Als Schöpfer war Gott - der Gott der Juden - real tätig. Er war; schlechthin. Aber er wusste es nicht. Als menschgewordenes Geschöpf wird er ideal tätig: Er schaut sich an. 

Mensch geworden ist er aus absoluter Freiheit. Er ist es geworden, aber auch geblieben. Dass er Mensch wurde, geschah aus Freiheit, aber seit er Mensch ist, ist er gebunden.

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Die Dreifaltigkeit macht das Christentum unter den Religionen einzig; macht es nicht bloß 'anders', sondern hebt es von jenen ab. Die eigentliche Entstehung der christlichen Religion waren die christologischen Kämpfe des vierten bis siebten Jahrhunderts, und sie wurden so heftig geführt, weil es zugleich die Grundsteinlegung des Abendlands war: einer Kultur, deren idealer Ziel- und Endpunkt nicht die Verschmelzung im Einen, sondern deren Beweggrund die unendliche Reflexion ist.

 
Das ist eine historische Feststellung. Man muss weder Christ sein noch an einen Gott glauben, um dahin zu kommen.








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Sonntag, 1. Mai 2016

Beifall und Missbilligung.



Moulin, Objet trouvé à Pompéi

In seiner Umwelt "erscheint" dem Tier nur das, was durch seinen Platz in der ökologischen Nische "für es bestimmt" ist: seinen Stoffwechsel und seine Fortpflanzung. Für das Tier sind Bedeutung und Erscheinung ungeschieden. Genauer gesagt, "für" das Tier ist nichts. Etwas ist "da" und damit basta.

Der Mensch hat mit seinem Ausbruch in eine fremde Welt die Vorbestimmtheit alles ihm Erscheinenden verloren: Ihm "erscheint" auch das, was für Stoffwechsel und Fortpflanzung (zu einem gegebenen Zeitpunkt) ohne Bedeutung ist. Er muss Dinge selbst-bestimmen. Zuerst, ob sie für Stoffwechsel und Fortpflanzung 'in Frage kommen'. Von ihm fordert jede Erscheinung ein Urteil. Das ist die Grundbedingung des Existierens in einer Welt. Das Urteilen ist: im Wahrnehmen ipso actu entscheiden zwischen Beifall und Missbilligung. 

So tritt er in eine apriorischen Distanz zu allem Etwas. Was erscheint, wird zu 'etwas' erst in diesem distanzierenden Akt. (Der lässt sich prinzipiell umkehren: So kann er zu "sich" in Distanz treten und zu "ich" werden.)

Die Distanz zu Dingen setzt ihn in einen Zustand der Freiheit. Sie erzwingt Abstraktion und eo ipso Reflexion. Diese Distanz macht ihn zu einem ideellen, seine physische Organisation (Folge und Voraussetzung des zur-Welt-Kommens) setzt ihn in den Zustand eines sachlichen Produzenten

Die Erfahrung mögliches Überflusses setzt ihn in Lage, zu sich, das heißt zu seinem Bedürfnis, in Distanz zu treten.

aus e. Notizbuch, 13. 3. 07


"Im Wahrnehmen ipso actu entscheiden zwischen Beifall und Missbilligung" - da ist mir, ohne es recht zu bemerken, die anderwärts vergeblich gesuchte Herleitung unseres Geistes alias Einbildungskraft aus unserm ästhetischen alias ' poietischen' Vermögen unterlaufen. Beifall und Missbilligung erfolgen nämlich einstweilen versuchsweise: 'Ob es was taugt?' - Mal sehen, zu was.

Man muss nicht demonstrieren, dass es so kommen musste. Es reicht zu zeigen, weshalb es so kommen konnte.


30. 11. 2014