Donnerstag, 23. März 2017
Erleben (Raum und Zeit).
blancan
Unser Wissen ist uns nicht durch die Sachen selbst gegeben, sondern durch unser Erleben, in dem die Sachen 'vorkommen'. Ob die Sachen auch außerhalb meines Erlebens vorkommen, ist davon noch gar nicht berührt. Wenn ich erfahre, dass die Sache auch im Erleben eines andern vorkommt, gewinnt die Annahme, dass sie 'an sich' sei und unabhängig von ihrem Erlebtwerden ("esse est percipi"), eine gewisse lebenspraktische Plausibi- lität, oder richtiger: Ich bin gut beraten, wenn ich in meinem Verkehr mit anderen davon ausgehe, dass die Sachen, die ich und sie gemeinsam erleben, "wirklich" sind.
Allerdings gehört die Frage, ob... nicht zu meinem Erleben; gehört nicht in die Weise ihrer Gegebenheit in meinem Erleben. Sie entstammt der Reflexion, durch die ich mich außerhalb meines Erlebens, neben mein Erleben stelle, um gewissermaßen mein Erleben zu erleben. Es ist ein Erleben zweiten Grades, das nicht "ge- geben", sondern gemacht, "hervor-gerufen" ist ex sponte mea. Erst auf diesem zweiten Grad, der Verdoppe- lung meines Erlebens im Spiegel meines Erlebens, kommen überhaupt 'Sachen' vor.
Denn im unmittelbaren Erleben, das die Weise der Gegebenheit hat, kommen Akte vor, nicht Dinge. Das ist eine vorläufiger Ausdruck, der lediglich bezeichnen soll, dass hier eine Veränderung gemeint ist: Auf Zuständ- lichkeit a folgt Zuständlichkeit b, 'Zeit' nenne ich "das, was" zwischen den beiden liegt, und wenn ich Zustand b nicht anders erlebte, als ich Zustand a erlebt habe, dann wäre nichts zwischen ihnen und gäbe es keine Zeit.
(Also kommt Zeit in meinem Erleben unmittelbar vor, wenn auch nicht gleich 'als' solche; ebenso wie 'Raum', der kommt ursprünglich nur als Umfang meines Gesichtskreises vor, als 'Feld', in dem Veränderung von Zu- ständen Statt-findet; aber hier nur die Veränderung äußerer Zustände, das Erlebnis meiner inneren Zustände hat keinen Raum zu seiner Statt, sondern 'mich'.
Der Einwand, 'mir selbst' sei ich ursprünglich als Körper und ergo als 'Raum' gegeben, ist unangebracht. Mir 'selbst' bin ich überhaupt erst in der Reflexion gegeben, im Erlebnis zweiten Grades, wo ich mein Erleben "als meines erlebe". 'Raum' ist also dem Erleben nicht ebenso unmittelbar gegeben wie 'Zeit'.)
'Zeit' ist der 'Raum', "in dem" die Veränderung meiner Erlebenszustände "stattfindet". Sie ist Ort des Geschehens.
Geschehen als Veränderung von Zuständen ist in unserer Erlebenweise "eingefärbt" als Wirkung. (Ob diese Färbung 'urprünglich' ist oder eine gattungsgeschichtlich erworbene Rückprojektion meiner eigenen Wirksam- keit (Nietzsche: "die Natur bei ihrer Arbeit belauscht") in alles, was ich 'überhaupt' erlebe, ist hier noch nicht zu erörtern.
Also im unmittelbaren Erleben kommen keine 'Punkte' - weder Zeit-Punkte noch Raum-Punkte (=Dinge) - vor, sondern Zeiträume als Bühne der Veränderung von Zuständen.
Allerdings sind Räume von Punkten begrenzt. Wer oder was setzt die Punkte, die den Zustand a als diesen, den Zustand b als den anderen de/finieren? Sicher ist es die jeweilige "Erlebnisqualität", die den Fluss des Erlebens zu diskreten Zu-Ständen interpunktiert. Aber die Qualitäten meines Erleben entsprechen ebensovielen Erlebnis- bereitschaft "in" mir: Ich muss sie "irgendwie" schon 'erwartet' oder 'gemeint' haben, es muss eine 'Absicht' dagewesen sein (und sei es als eine - ja übrigens auch naturgeschichtlich erworbene - physiologische Disposi- tion meiner Körperorgane).
Also alles, 'was' erlebt wird, wird so (oder anders) erlebt. Und dass es so (und nicht anders) erlebt wird, antwortet auf eine vor-gegebene Erwartung.
Oder anders - alles, was uns in unserem Erleben als dieses gegeben ist, war als solches immer schon 'gemeint'. 'Intentionalität' ist nicht erst ein noetisches Phänomen. Schon der sinnliche Wahrnehmungsapparat wählt die 'Reize' aus, denen er sich 'zuwenden' will; und reagiert nicht nur auf deren (physikalisch messbare) Stärke.
Das eigentliche Problem sind diese Disponiertheiten; nicht zunächst die physiologisch verketteten Reiz-Reak- tions-Folgen natürlich, obwohl auch die selekiv erworben sind...; sondern sie sozusagen mentalen 'Reizbarkeiten' (dass sie sich von den ersteren nicht immer sauber scheiden lassen, mag sein; aber logisch gehts immerhin, und daruf kommt es an).
aus e. Notizbuch, 27. 11. 1994
Hier müsste anschließen ein Absatz über die produktive Einbildungskraft. Aber der könnte nicht mehr phänomenologisch vorgehen, sondern müsste sich auf spekulatives Gelände wagen. Ich hab's immerhin versucht.
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