Dies ist das
Kernproblem der philosophischen Anthropologie: Wie kam der Mensch dazu,
Qualitäten als wahr und wert zu nehmen, die etwas anderes sind als größere oder
geringere Zweckmäßigkeit bei der Selbst- und Arterhaltung? Mit andern Worten:
Wie kam der Mensch zu seinem 'poietischen',* d. h. ästhetischen Vermögen?
Ein Tier nimmt
all das - aber nur das - 'wahr', was ihm in der Umweltnische, in der sich und
die sich seine Gattung im Laufe ihrer Naturgeschichte eingerichtet hat, für
sein Überleben und seine Fortpflanzung hilfreich ist. Und was dieses oder jenes
Ding ihm 'wert' ist, darüber entscheidet die Dringlichkeit, mit der im
gegebenen Augenblick sein physisches Bedürfnis danach verlangt. Das alles kommt
ihm als Gegebenes vor und bedarf nicht seines Urteils. Es ist, und damit gut.
In der
Gefangenschaft und namentlich in der Beobachtungsstation muss das Tier fürs
Leben und seine Fort- pflanzung nichts von dem tun, was in freier Natur seinen
Alltag erfüllt. Es ist unterbeschäftigt und hat, wie wir, Langeweile. Da nimmt
es gern fremde Dinge an, die ihm von seinen Verpflegern vor-gegeben werden. Es
kompensiert nur einen Mangel.
Aber das kann
es. Es hat offensichtlich Reserven,1 die unter seinen herkömmlichen
natürlichen Lebensum- ständen ungenutzt bleiben, die ihm aber unter
ungewöhnlichen Bedingungen, bei Stress, und sei es dem Stress der Langenweile,
ungewohnte Leistungen erlauben. Und halten die ungewöhnlichen Bedingungen
an – warum soll die Nutzung der verborgenen Reserven, soll die außergewöhnliche
Leistung nicht habituell und selber zu einem Selektionskriterium werden?
Dass also
unsere Vorfahren, nachdem sie den Schritt aus der Urwaldnische in die offene
Savanne einmal getan hatten, erbliche Fähigkeiten erworben haben, die sie als
eine völlig neue Gattung unter den Lebewesen aus- weisen, ist für sich genommen
kein Mysterium. Unerklärt bleibt noch immer, warum sie diesen Schritt getan,
bzw. warum ihre äffischen Vettern ihn nicht unternommen haben; und darf getrost
unerklärt bleiben, denn was ist daran gelegen?
*
Die
Hominisation ist als bloße Kompensation – für den Verlust der angestammten
Selbstverständlichkeiten – nicht hinreichend verstanden. Tatsächlich handelt es
sich um eine Überkompensation. Denn der
selbstverur- sachte Mangel wird nicht aufgefüllt mit je demselben, sondern mit
etwas qualitativ Neuem; eben dem, dass sich die Bedeutungen der offenen
Savannenwelt nicht mehr von selbst verstanden, sondern erfragt werden mussten.
Das ist nicht einfach ‚mehr‘, es ist eine andere Dimension als die
rein positive Umwelt der Tiere.
Die Welt, in
die seither die Menschenkinder hineingeboren werden, hat vom ersten Tag an und
womöglich schon vorher den Charakter der Fraglichkeit. Wenn auch die moderne
Hirnforschung längst nicht so viel des spezifisch Menschlichen herausgefunden
hat, wie sie meint, so hat sie doch erwiesen, dass die Menschen nicht warten,
bis ihnen die Außenwelt mit hartem Griffel ihre Hieroglyphen ins Gemüt ritzt,
sondern ex sponte ihre eigenen Erwartungen an die
Dinge tragen
und achten, was sie darauf antworten.
*
Bis hier ist
noch nicht ersichtlich, wie Qualitäten in Erwägung kommen können, die etwas
anderes bedeuten als Bei- oder Abträge zur Art- und Selbsterhaltung. Das ist es
aber, was die Anthropologie, die Wissenschaft da- von, was die Menschen als solche auszeichnet,
beantworten muss. Ernst Tugendhat, der die Losung Anthropolo- gie statt
Metaphysik in die Welt gesetzt hat, hat dafür leider keinen Fingerzeig
gegeben, jedenfalls keinen brauch- baren.
"In 'gut'
ist der Komparativ ('besser') das Primäre. Alles, was wir gut machen, können
wir besser machen. ... Das Wort 'gut' bezieht sich immer erstens auf einen
Komparativ, der ein Komparativ des Vorziehens ist, und zweitens auf ein solches
Vorziehen, das eine Prätention von Objektivität oder zumindest
Intersubjektivität erhebt."2 Doch trotz der Prämisse der
Allgemeingültigkeit bleibt er im Rahmen einer naturalistischen Voraus- setzung,
denn von logischem Gelten im Unterschied zu sinnlichem Sein ist auf dieser
'komparatistischen' Stufe ja gerade noch nicht die Rede; er soll im Gegenteil
relativistisch erüberflüssigt werden.
Maß
für das Vorziehen ist erst noch der Erhaltungswert, und das Bessere wäre, was
noch mehr zur Erhaltung beiträgt als das weniger Gute. Das Gute selbst müsste
dann als Idee von der maximalen Erhaltung, dem Erhalt-an-sich aufgekommen sein.
Weder die Historiker der Mentalitäten noch die Ethnologen, die in Amerika cultural
anthropologists heißen, haben aber so ein geistiges Gebilde irgendwo in der
Wirklichkeit auffinden können. Auf- finden lässt sich allerdings, bis heute und
quer durch alle Kulturen, eine Idee des Guten-an-sich. Woher mag die kommen?
Aus der im Dunkel der Vorgeschichte untergegangen Idee vom Erhalt-an-sich, die
irgendwann einmal aus Quantität 'in Qualität umgeschlagen' wäre? Eine solche
Anleihe bei einer der dümmsten Ideen des ohnehin nicht geschätzten Hegel wird Tugendhat
doch nicht machen wollen.
"In unseren Erlebnissen sind uns nur qualitative Unterschiede gegeben. Den Unterschied zwischen 'Groß' und 'Klein' erleben wir zunächst nicht anders als den zwischen rot und blau. Erst durch die Zuordnung von Zahlen zu den Erlebnissen wird ein System von Zustandsgrößen geschaffen, zwischen denen quantitative Beziehungen bestehen," sagt indessen der Positivist.3 Viel essen und wenig essen ist der Qualitätsunterschied von hungrig und satt.
*
Für
das Tier sind die Bedeutungen der Dinge immer konkret, sie bedeuten stets dies
oder das, und was es ist, ist ihm durch seine physische Organisation, durch den
Platz, den es in seinem Merknetz einnimmt, vorgegeben.
Erkennen muss es das nicht. Es ist ihm selbstverständlich.
Ist das essbar? stellt sich dem Tier nicht als Frage. Es versucht;
wenn der Versuch scheitert, lässt es von dem Ding ab. Es findet keinen Halt in
seinem Merknetz – weil es sich nicht in seinem Wirknetz verfangen hat.
Beim Tier sind Merk- und Wirknetz kongruent; sie 'bedecken' dasselbe
Gegenstandsfeld und bilden einen geschlossenen Funktionskreis.
Aber
die Menschen haben sich, indem sie ihre Umweltnische verlassen hatten, auf die Hinterbeine aufgerichtet und so das Spiel
von 'Gesicht und Hand'4 begonnen. Während einerseits das
überkommene Merknetz obsolet geworden war, hat sich das Wirknetz dimensional erweitert. "Ich kann mit
allem was anfangen"5 – aber was?!
Der
Funktionskreis ist zerrissen. Zwischen merken
und wirken muss als Vermittler die
(symbolisierte) Bedeutung rücken, um
den Funktionskreis neu zu schließen. Bedeutung ist ein praktisches Problem.
*
Bedeutung als geistige Dimension entsteht aus dem Mangel an ihr: als Frage.
Erst im Fragemodus gibt es Bedeutung-an-sich. Das ist ein alter Hut:
Verallgemeinerung, Begriff gibt es zuerst in der Verneinung. Dieses
Pferd kann ich sehen, ich muss an ihm nichts begreifen. Aber 'die Pferdheit'
kommt mir erst in den Blick, wenn ich nach dem suche, was dieses und jedes
andere Pferd von allem unterscheidet, vor allem auszeichnet, was nicht Pferdheit ist.
Frage
(und Verneinung) gibt es wiederum nur im digitalen Modus der Repräsentation; im
begrifflichen Denken. Der Übergang
zum begrifflichen Denken, als dem Auszeichnen von Qualitäten durch bedeutende
Zeichen, setzt voraus das… Identifizieren
von Qualitäten; sie sind 'das, was' im Begriff dargestellt ist, sie sind das
Gemein- te.
Aber
auch das zeigt nur, dass Fragen, Qualitäten und Begreifen genetisch zu einander
gehören. In welchen historischen Schritten sie im Einzelnen aus und durch
einander entstanden sind, ist erstens nicht in Erfahrung zu bringen und
zweitens unerheblich. Dass es
geschehen ist, wissen wir, und das reicht.
*
Aber
noch immer nicht wissen wir, warum – nicht aus welchen Ursachen, sondern unter
welchen Bedingungen – es geschehen konnte.
-
Solange
sich Alles von selbst versteht, muss ich nicht wissen, was es ist. Genauer gesagt: kann ich nicht einmal fragen, was es ist. Washeit gibt es nur
als Antwort auf eine Frage.
Nachdem
unsere Vorfahren ihre Urwaldnische verlassen hatten, sind die ihnen
angestammten Bedeutungen entfallen. Was neu begegnete (und zuvor nicht gemerkt
worden wäre), war in seiner Bedeutung – in seiner Fähigkeit, mein Leben so oder
anders zu bestimmen – fraglich geworden.
Musste die Frage beantwortet
werden, durch Finden und Erfinden?
Sie
konnte beantwortet werden. Wer sie beantwortete und treffend beantwortete,
hatte Chancen, in der Savanne zu bestehen. Alle andern mussten in den Urwald
zurückkehren oder überlebten nicht. Niemand weiß, wie viele es waren. Doch wenn
erstere noch so wenige gewesen wären – sie haben überlebt und sind zu unsern
Vorfahren geworden.
Die Washeiten wurden
zum Inventar einer offenen Welt. Mit jeder als Washeit bestimmten neuen
Bedeutung hat sich der Aktionsradius erweitert und ipso facto die Frage was? erneuert. Die Frage was? ist eine Endlos- schleife, sie ist es,
die uns die Welt offen hält. Eine
allerletzte Antwort wäre das Ende der Welt.
*
Denn
die Antworten sind nun nicht länger auf die Erhaltungsfunktion
eingeschränkt. Was sich durch die Frage Ist es essbar? einmal im Merknetz
verfangen hat, geht nicht dadurch verloren, dass die Frage verneint wurde. Es
ist nicht essbar, was ist es dann? Diese
Frage ist nicht notwendig noch irgend eine Antwort; aber möglich ist sie.
Die
sie stellten und beantworteten, haben sich durch zwei Millionen Jahre besser in
ihrer offenen Jäger- und Sammlerwelt behauptet als die andern. Denn als die
Frage nach der Essbarkeit durch die Erfindung des Ackerbaus in den Hintergrund
treten konnte, konnten die anderen
Bedeutungen nun auch ins Wirknetz eingehen. So entstand Kultur.
*
Und
recht besehen, haben unsere Vorfahren nicht auf den Ackerbau gewartet. Es
reicht aus, dass das Leben nicht lückenlos von der Suche nach Essbarem erfüllt
ist, damit Muße und Überfluss eintreten. Die Ruhepause, das Fest, bei dem die
nicht konservierbaren Überschüsse verprasst werden, eröffnen einen Blick auf
Qualitäten, die über den Erhaltungswert hinausreichen. Körperschmuck, Festmahl,
Tanz und berauschende Getränke sind die wahren Ursprünge von Kult und Kultur.
Die Kultstätte von Göbekli Tepe wurde nicht von Bauern, sondern von Jägern und
Sammlern errichtet.
*) Von gr. poiein, das die Römer mit lat. ponere [s. dazu positio] wiedergegeben haben und als setzen in unsere philosophische Schulsprache eingegangen ist. Gr. poion = lat. quale ist, so schön es wäre, damit etymologisch leider nicht verwandt.
1 Hypertelie nennt es Adolf
Portmann,
2 Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 29; 33
3 Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen (Wien 1932) Frankfurt a. M. 1988, S. 155
4 Leroi-Gourhan, Hand und Wort, Frankfurt a. M., 1984
5 "Nichts kann sein, was ihm nicht etwas zu bedeuten vermag." H. G. Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. VIII, Tübingen 1993; S. 8
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