Mittwoch, 29. April 2015

Ein Subjekt muss sich bilden.

Soéhnée

Das autonome Subjekt ist kein Naturdatum. Es muss sich bilden. Das Bilden geschieht durch das Einordnen alles Wirklichen (Erlebten) in das Spannungsfeld zwischen zwei Polen: 'Ich' und 'die Welt'. (Beide haben ein 'Sein' nur als Pole dieses Feldes.)

Unsere Welt ist die Wirklichkeit, betrachtet vom Pol 'Welt' aus, meine Welt ist die Wirklichkeit, betrachtet vom Pol 'Ich' aus. Beide sind Abstraktionen: nämlich vom wirklich-Erlebten.

Persönlichkeitsstörungen sind das Aufgeben des einen Pols zugunsten des andern.

aus e. Notizbuch, 5. 9. 08




Dienstag, 28. April 2015

Das Ästhetische ist ironisch.



Dieses bedeutet Jenes heißt: Es ist als Jenes bestimmt. -

Bedeuten heißt: einen Einfluss auf meine Lebensführung haben; mich veranlassen können, dieses oder jenes zu tun.

Das mag eine reine Vorstellungstätigkeit sein. Wenn ich mir wirklich etwas vorstelle, lässt sich daraus eine weitere Vorstellung entwickeln;* durch Differenzieren, Entgegensetzen usw. Vorstellung neigt zur Fortpflan- zung. 

Das Ästhetische ist das, was erscheint und nichts bedeutet. Es ist bestimmt als unbestimmt. Es lässt sich nichts daraus entwickeln. Ich kann es nur anschauen, und dabei muss es bleiben. Es hat zwar nichts zu bedeuten, sieht aber doch so aus; ich suche und kann nichts finden. Das gibt dem Ästhetischen eine polemische Spitze: Es scheint so, als wolle es sich über das, was ordentlich etwas bedeutet und woraus sich was entwickeln ließe, lustig machen.
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*) "generieren": Vorstellungen sind miteinander genetisch verbunden, oder gar nicht.






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Montag, 27. April 2015

Das poietische Vermögen.



Dies ist das Kernproblem der philosophischen Anthropologie: Wie kam der Mensch dazu, Qualitäten als wahr und wert zu nehmen, die etwas anderes sind als größere oder geringere Zweckmäßigkeit bei der Selbst- und Arterhaltung? Mit andern Worten: Wie kam der Mensch zu seinem 'poietischen',* d. h. ästhetischen Vermögen?

Ein Tier nimmt all das - aber nur das - 'wahr', was ihm in der Umweltnische, in der sich und die sich seine Gattung im Laufe ihrer Naturgeschichte eingerichtet hat, für sein Überleben und seine Fortpflanzung hilfreich ist. Und was dieses oder jenes Ding ihm 'wert' ist, darüber entscheidet die Dringlichkeit, mit der im gegebenen Augenblick sein physisches Bedürfnis danach verlangt. Das alles kommt ihm als Gegebenes vor und bedarf nicht seines Urteils. Es ist, und damit gut.

In der Gefangenschaft und namentlich in der Beobachtungsstation muss das Tier fürs Leben und seine Fort- pflanzung nichts von dem tun, was in freier Natur seinen Alltag erfüllt. Es ist unterbeschäftigt und hat, wie wir, Langeweile. Da nimmt es gern fremde Dinge an, die ihm von seinen Verpflegern vor-gegeben werden. Es kompensiert nur einen Mangel.

Aber das kann es. Es hat offensichtlich Reserven,1 die unter seinen herkömmlichen natürlichen Lebensum- ständen ungenutzt bleiben, die ihm aber unter ungewöhnlichen Bedingungen, bei Stress, und sei es dem Stress der Langenweile, ungewohnte Leistungen erlauben. Und  halten die ungewöhnlichen Bedingungen an – warum soll die Nutzung der verborgenen Reserven, soll die außergewöhnliche Leistung nicht habituell und selber zu einem Selektionskriterium werden?

Dass also unsere Vorfahren, nachdem sie den Schritt aus der Urwaldnische in die offene Savanne einmal getan hatten, erbliche Fähigkeiten erworben haben, die sie als eine völlig neue Gattung unter den Lebewesen aus- weisen, ist für sich genommen kein Mysterium. Unerklärt bleibt noch immer, warum sie diesen Schritt getan, bzw. warum ihre äffischen Vettern ihn nicht unternommen haben; und darf getrost unerklärt bleiben, denn was ist daran gelegen?

*

Die Hominisation ist als bloße Kompensation – für den Verlust der angestammten Selbstverständlichkeiten – nicht hinreichend verstanden. Tatsächlich handelt es sich um eine Überkompensation. Denn der selbstverur- sachte Mangel wird nicht aufgefüllt mit je demselben, sondern mit etwas qualitativ Neuem; eben dem, dass sich die Bedeutungen der offenen Savannenwelt nicht mehr von selbst verstanden, sondern erfragt werden mussten. Das ist nicht einfach ‚mehr‘,  es ist eine andere Dimension als die rein positive Umwelt der Tiere. 

Die Welt, in die seither die Menschenkinder hineingeboren werden, hat vom ersten Tag an und womöglich schon vorher den Charakter der Fraglichkeit. Wenn auch die moderne Hirnforschung längst nicht so viel des spezifisch Menschlichen herausgefunden hat, wie sie meint, so hat sie doch erwiesen, dass die Menschen nicht warten, bis ihnen die Außenwelt mit hartem Griffel ihre Hieroglyphen ins Gemüt ritzt, sondern ex sponte ihre eigenen Erwartungen an die Dinge tragen und achten, was sie darauf antworten.

*

Bis hier ist noch nicht ersichtlich, wie Qualitäten in Erwägung kommen können, die etwas anderes bedeuten als Bei- oder Abträge zur Art- und Selbsterhaltung. Das ist es aber, was die Anthropologie, die Wissenschaft da- von, was die Menschen als solche auszeichnet, beantworten muss. Ernst Tugendhat, der die Losung Anthropolo- gie statt Metaphysik in die Welt gesetzt hat, hat dafür leider keinen Fingerzeig gegeben, jedenfalls keinen brauch- baren.

"In 'gut' ist der Komparativ ('besser') das Primäre. Alles, was wir gut machen, können wir besser machen. ... Das Wort 'gut' bezieht sich immer erstens auf einen Komparativ, der ein Komparativ des Vorziehens ist, und zweitens auf ein solches Vorziehen, das eine Prätention von Objektivität oder zumindest Intersubjektivität erhebt."2 Doch trotz der Prämisse der Allgemeingültigkeit bleibt er im Rahmen einer naturalistischen Voraus- setzung, denn von logischem Gelten im Unterschied zu sinnlichem Sein ist auf dieser 'komparatistischen' Stufe ja gerade noch nicht die Rede; er soll im Gegenteil relativistisch erüberflüssigt werden. 

Maß für das Vorziehen ist erst noch der Erhaltungswert, und das Bessere wäre, was noch mehr zur Erhaltung beiträgt als das weniger Gute. Das Gute selbst müsste dann als Idee von der maximalen Erhaltung, dem Erhalt-an-sich aufgekommen sein. Weder die Historiker der Mentalitäten noch die Ethnologen, die in Amerika cultural anthropologists heißen, haben aber so ein geistiges Gebilde irgendwo in der Wirklichkeit auffinden können. Auf- finden lässt sich allerdings, bis heute und quer durch alle Kulturen, eine Idee des Guten-an-sich. Woher mag die kommen? Aus der im Dunkel der Vorgeschichte untergegangen Idee vom Erhalt-an-sich, die irgendwann einmal aus Quantität 'in Qualität umgeschlagen' wäre? Eine solche Anleihe bei einer der dümmsten Ideen des ohnehin nicht geschätzten Hegel wird Tugendhat doch nicht machen wollen.

"In unseren Erlebnissen sind uns nur qualitative Unterschiede gegeben. Den Unterschied zwischen 'Groß' und 'Klein' erleben wir zunächst nicht anders als den zwischen rot und blau. Erst durch die Zuordnung von Zahlen zu den Erlebnissen wird ein System von Zustandsgrößen geschaffen, zwischen denen quantitative Beziehungen bestehen," sagt indessen der Positivist.Viel essen und wenig essen ist der Qualitätsunterschied von hungrig und satt.

*
Für das Tier sind die Bedeutungen der Dinge immer konkret, sie bedeuten stets dies oder das, und was es ist, ist ihm durch seine physische Organisation, durch den Platz, den es in seinem Merknetz einnimmt, vorgegeben. Erkennen muss es das nicht. Es ist ihm selbstverständlich.
Ist das essbar? stellt sich dem Tier nicht als Frage. Es versucht; wenn der Versuch scheitert, lässt es von dem Ding ab. Es findet keinen Halt in seinem Merknetz – weil es sich nicht in seinem Wirknetz verfangen hat.

Beim Tier sind Merk- und Wirknetz kongruent; sie 'bedecken' dasselbe Gegenstandsfeld und bilden einen geschlossenen Funktionskreis.
 
Aber die Menschen haben sich, indem sie ihre Umweltnische verlassen hatten, auf  die Hinterbeine aufgerichtet und so das Spiel von 'Gesicht und Hand'4 begonnen. Während einerseits das überkommene Merknetz obsolet geworden war, hat sich das Wirknetz dimensional erweitert. "Ich kann mit allem was anfangen"5 – aber was?!
Der Funktionskreis ist zerrissen. Zwischen merken und wirken muss als Vermittler die (symbolisierte) Bedeutung rücken, um den Funktionskreis neu zu schließen. Bedeutung ist ein praktisches Problem.
*

Bedeutung als geistige Dimension entsteht aus dem Mangel an ihr: als Frage. Erst im Fragemodus gibt es Bedeutung-an-sich. Das ist ein alter Hut: Verallgemeinerung, Begriff gibt es zuerst in der Verneinung. Dieses Pferd kann ich sehen, ich muss an ihm nichts begreifen. Aber 'die Pferdheit' kommt mir erst in den Blick, wenn ich nach dem suche, was dieses und jedes andere Pferd von allem unterscheidet, vor allem auszeichnet, was nicht Pferdheit ist.
Frage (und Verneinung) gibt es wiederum nur im digitalen Modus der Repräsentation; im begrifflichen Denken. Der Übergang zum begrifflichen Denken, als dem Auszeichnen von Qualitäten durch bedeutende Zeichen, setzt voraus das Identifizieren von Qualitäten; sie sind 'das, was' im Begriff dargestellt ist, sie sind das Gemein- te.
Aber auch das zeigt nur, dass Fragen, Qualitäten und Begreifen genetisch zu einander gehören. In welchen historischen Schritten sie im Einzelnen aus und durch einander entstanden sind, ist erstens nicht in Erfahrung zu bringen und zweitens unerheblich. Dass es geschehen ist, wissen wir, und das reicht.
*
Aber noch immer nicht wissen wir, warum – nicht aus welchen Ursachen, sondern unter welchen Bedingungen – es geschehen konnte. -

Solange sich Alles von selbst versteht, muss ich nicht wissen, was es ist. Genauer gesagt: kann ich nicht einmal fragen, was es ist. Washeit gibt es nur als Antwort auf eine Frage.

Nachdem unsere Vorfahren ihre Urwaldnische verlassen hatten, sind die ihnen angestammten Bedeutungen entfallen. Was neu begegnete (und zuvor nicht gemerkt worden wäre), war in seiner Bedeutung – in seiner Fähigkeit, mein Leben so oder anders zu bestimmen – fraglich geworden.

Musste die Frage beantwortet werden, durch Finden und Erfinden?

Sie konnte beantwortet werden. Wer sie beantwortete und treffend beantwortete, hatte Chancen, in der Savanne zu bestehen. Alle andern mussten in den Urwald zurückkehren oder überlebten nicht. Niemand weiß, wie viele es waren. Doch wenn erstere noch so wenige gewesen wären – sie haben überlebt und sind zu unsern Vorfahren geworden.

Die Washeiten wurden zum Inventar einer offenen Welt. Mit jeder als Washeit bestimmten neuen Bedeutung hat sich der Aktionsradius erweitert und ipso facto die Frage was? erneuert. Die Frage was? ist eine Endlos- schleife, sie ist es, die uns die Welt offen hält. Eine allerletzte Antwort wäre das Ende der Welt.

*

Denn die Antworten sind nun nicht länger auf die Erhaltungsfunktion eingeschränkt.  Was sich durch die Frage Ist es essbar? einmal im Merknetz verfangen hat, geht nicht dadurch verloren, dass die Frage verneint wurde. Es ist nicht essbar, was ist es dann? Diese Frage ist nicht notwendig noch irgend eine Antwort; aber möglich ist sie.
Die sie stellten und beantworteten, haben sich durch zwei Millionen Jahre besser in ihrer offenen Jäger- und Sammlerwelt behauptet als die andern. Denn als die Frage nach der Essbarkeit durch die Erfindung des Ackerbaus in den Hintergrund treten konnte, konnten die anderen Bedeutungen nun auch ins Wirknetz eingehen. So entstand Kultur.
*
Und recht besehen, haben unsere Vorfahren nicht auf den Ackerbau gewartet. Es reicht aus, dass das Leben nicht lückenlos von der Suche nach Essbarem erfüllt ist, damit Muße und Überfluss eintreten. Die Ruhepause, das Fest, bei dem die nicht konservierbaren Überschüsse verprasst werden, eröffnen einen Blick auf Qualitäten, die über den Erhaltungswert hinausreichen. Körperschmuck, Festmahl, Tanz und berauschende Getränke sind die wahren Ursprünge von Kult und Kultur. Die Kultstätte von Göbekli Tepe wurde nicht von Bauern, sondern von Jägern und Sammlern errichtet.
*) Von gr. poiein, das die Römer mit lat. ponere [s. dazu positio] wiedergegeben haben und als setzen in unsere philosophische Schulsprache eingegangen ist. Gr. poion = lat. quale ist, so schön es wäre, damit etymologisch leider nicht verwandt.

1 Hypertelie nennt es Adolf Portmann, 
2 Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 29; 33
Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen (Wien 1932) Frankfurt a. M. 1988, S. 155
Leroi-Gourhan, Hand und Wort, Frankfurt a. M., 1984 
"Nichts kann sein, was ihm nicht etwas zu bedeuten vermag." H. G. Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. VIII, Tübingen 1993; S. 8






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Mittwoch, 22. April 2015

Zählen und messen und werten und schätzen.

S. Hofschlaeger, pixelio.de

"[Dieser Gedanke ... setzt als selbstverständlich voraus, daß Qualität und Quantität Grundeigen- schaften der wirklichen Naturvorgänge sind. Das ist aber eine durchaus oberflächliche Anschau- ung.] In unseren Erlebnissen sind uns nur qualitative Unterschiede gegeben. Den Unterschied zwischen 'Groß' und 'Klein' erleben wir zunächst nicht anders als den zwischen rot und blau.** 
Erst durch die Zuordnung von Zahlen zu den Erlebnissen wird ein System von Zustandsgrößen geschaffen, zwischen denen quantitative Beziehungen bestehen." 
Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen (Wien 1932)*

Erst die Arbeitsgesellschaft hat Messen und Kombinieren so in den Vordergrund treten lassen, daß der eigentlich-poietische 'Anteil' des Geistes - der eigentlich sein Grund ist - als ein uneigentliches Residuum in den Hintergrund tritt. Vollends mit dem Beginn der industriellen Kultur, wo Fragen nach dem "Wesen" (quale) im Zuge der 'Entmythologisierung' und 'Entzauberung der Welt' als "metaphysisch" direkt abgewiesen werden. Das postmoderne "Anything goes" ist nur der Punkt auf dem i. Es ist überhaupt nicht "post". Es verweist die Frage nach den Qualitäten endgültig unter die Spielereien; freilich - wenn sie "funktionieren", why not?

Dieses "Residuum" wird 'bestimmt' (ex negativo: als das uneigentlich-Überschüssige) als "das ästhetische Erleben".

Daher die Unmöglichkeit, das Ästhetische positiv zu "definieren": Es ist eben nicht "positiv", sondern negativ bestimmt: als Ausschluß von dem, was für die Welt der Arbeit "nicht nötig" ist. Im Laufe der Entfaltung der Arbeitsteilung und galoppierend seit der Industrialisierung wurde das immer mehr. 

Nota. - Die Bereitschaft, Bedeutungen zu erfinden über das unbedingt Nötige hinaus - Abenteuer, Spiel, Risiko - ist stammesgeschichtlich auf der männlichen Seite der Gattung stärker ausgeprägt; weshalb der Umstand, daß allein diejenige Gattung, wo das Männliche einen relativ autonomen 'Stand' erworben hat, diejenige war, die den Sprung in die Welt gewagt hat. Und weshalb die 'ästhe- tischen' Tendenzen bis auf den heutigen Tag im männlichen Teil stärker ausgeprägt sind als im weiblichen. (Sollte sich das künftig ändern, tant mieux.) 

*) neu Ffm. 1988, S. 155

aus e. Notizbuch, 14. 7. 2005
  
**) Ob ich reichlich zu essen habe oder nicht genug, ist der Qualitätsunterschied von satt und hungrig.

Dienstag, 21. April 2015

Bedeutungen sind keine Eigenschaften.




Bedeutungen sind keine Eigenschaften von Sachen, sondern Handlungsmöglichkeiten eines Subjekts.
Grün ist nicht der Baum; sondern wenn ich ihn sehe, sehe ich ihn so. Ich kann ihn auch groß oder klein sehen oder nah oder fern - aber stets so und nicht anders. Dass ich nicht anders kann, mag wohl irgendwie an ihm liegen. Aber stets bin ich es, der nicht anders kann.  







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Sonntag, 19. April 2015

Merkmale der Dinge.

Winslow Homer, Boy fishingWinslow Homer, Boy fishing 


Es sind die Absichten der Menschen, an denen die Dinge Merkmale bekunden.
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Merke: Ein Merkmal ist ein Mal, das merkbar ist.

3. 9. 13


Erst durch ihre Merkmale ähneln oder unterscheiden sich Dinge. Besser gesagt - 'sich' unterscheiden die Dinge überhaupt nicht. Nur wer etwas mit ihnen vorhat, unterscheidet sie, denn nur dann merkt er was.




Samstag, 18. April 2015

Bedeuten, urteilen, Freiheit.


'Auch das Tier lebt in Bedeutungen', hieß es in einem meiner Texte.

"...weil es mir der Hauptthese zu widersprechen scheint, derzufolge das Proprium Humanum doch die Doppelung von Erscheinungsstrom und Bedeutung ist, also die Bedeutungsstiftung als genuin Menschliches anzusehen ist", schrieb dazu ein eiliger Reviewer. Nicht beachtet hat er die kleine, aber spezifische Differenz: nur weiß es nichts davon. Weil die Menschen von den Bedeutungen der Dinge wissen, haben sie die Möglichkeit der Wahl. Jene haben sie nicht. Die Dinge haben Bedeutung für sie als Exemplare ihrer Gattung, aber nicht für sie als Subjekte. Sie müssen und können nicht urteilen.

Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit, sagte ein Knecht.

Wissen ist die Einsicht in die Möglichkeit von Freiheit.







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Freitag, 17. April 2015

Zwecksetzen ohne Zweck.

Canciani, Lanciasassi

Leben ist Zwecksetzen ohne Zweck. 
Albert Mues

Nota. - Damit hat es eine doppelte Bewandtnis. Zweckmäßig ohne Zweck lautet Kants bekannte Definition des Schönen (und des ästhetisch-Erheblichen überhaupt, darf man erweitern). Anderer- seits ist nach Fichte das reine Wollen das menschliche An-sich; sein Für-sich, das Bewusstsein, hebt an mit der Bestimmung des - nun nicht mehr 'reinen' - Wollens durch einen Zweck.

Zwecksetzen ohne Zweck - wäre das Bestimmen ohne Bestimmung? Bestimmen als unbestimmt? Das wäre eine weitere 'Bestimmung' des Ästhetischen.
JE



Mittwoch, 15. April 2015

Vernunft und Öffentlichkeit bedeuten dasselbe.


Epidauros

Vernunft nennen wir die Annahme, dass es ein Urteilsvermögen gibt, welches als einem Jeden („der mensch- liches Antlitz trägt“, sagt Fichte) in gleichem Maße gegeben vorausgesetzt, und dessen Betätigung einem Jeden in gleichen Maße zuzumuten ist.

Vernunft ist ein Postulat, das sich selbst setzt und voraussetzt. Es ist eo ipso das Postulat, dass zumindest in dieser einen Hinsicht „Alle gleich“ sind.

Das ist offenbar zunächst nur eine formale Bestimmung. Welche die positiven Gehalte der Vernunft seien, muss sich immer wieder erst im Zuge von deren Betätigung erweisen: im argumentativen Verkehr eines Jeden mit Jedem.

Und dieser Verkehr heißt Öffentlichkeit.

Dass es sich nur um Postulate handelt, bedeutet zugleich, dass sie nur problematisch gelten, d. h. als immer wieder zu bewältigende Aufgabe. Ob es ‚wirklich so ist’, muss sich allezeit im Vollzug erst noch bewähren. Vernunft gibt es nur als self fulfilling prophecy – oder eben nicht.

*

Man sollte meinen, dass es der Öffentlichkeit noch nie leichter gefallen ist, sich herzustellen, als im Zeitalter der WorldWideWeb.

30. 8. 2013





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Dienstag, 14. April 2015

Mein Vermögen ist eins.



Mein Vermögen ist eins: alles, was ich vermag. Ob es phylogenetisch oder ontogenetisch bedingt ist, ob es mir angestammt wurde oder ob ich es spontan und individuell erworben habe, merkt man ihm selbst nicht an.

Verschieden sind die Gegenstände, auf die ich es anwende, und verschieden wohl auch die Weisen der Anwendung. Ähnliche Anwendungsweisen schaffen Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen, die ich so zu Klassen zusammenfassen kann.

Bin ich soweit einmal gekommen, mag es aussehen, als sei mein Vermögen selbst in Klassen unter- schieden. Namentlich in ein Erkenntnisvermögen, durch das ich mit Hilfe von Begriffen an den Gegenständen meine Zwecke realisiere, und eine zweckfreie Anwendung, die 'ohne Interesse gefällt'. Letztere fasse ich auf als mein ästhetisches Vermögen. Ob und wie das eine oder das andere in Anspruch genommen wurde, lässt sich immer erst am einzelnen Fall und nachträglich unterscheiden. 

2. September 2013






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Montag, 13. April 2015

Die Zweige des Wissens.

plumbe, pixelio.de

Die Welt ist kein Mosaik, das aus so und soviel Wahrheitsatomen zusammengesetzt ist, die man, jedes für sich, herausgreifen, begutachten und in Schubladen verteilen kann. Sondern was der Einfachheit halber 'die Welt' genannt wird, ist ein ununterbrochener Fluß von Geschehnissen in einem komplexen Feld von wechselseitigen Bedingungsverhältnissen. Dabei erweist sich das, was prima facie als reale Bedingung erschien, der kritischen Reflexion als eine Projektion dessen, was vorher ("a priori") schon eine (logische) 'Hinsicht', ein Ab-Sicht des Betrachters gewesen war: Nur in gewissen Hinsichten, und daher nur in bestimmten realen Bedingungsverhältnissen ('Gesetzen') 'zeigen sich' gewisse Geschehnisse; doch nicht in allen: Sie mögen mehreren Bedingungsebenen angehören, aber allen nicht.


So gibt es eine Bedingungsebene namens Chemie, eine namens Physik, namens Ethologie, namens Mathematik… Und alle stehen untereinander "irgendwie" selber wieder in einem Bedingungsverhält- nis... Eine pazifische Koralle etwa "kommt vor" in Biologie, Chemie, Physik, Ethologie, sogar in Mathematik, wenn man will. Aber in Musik kommt sie nicht vor, und in Nationalökonomie nur mit Hilfe von Sophismen. Allerdings sind Biologie, Chemie, Physik nicht die "Etagen", in denen die tatsächliche Existenz der Koralle tatsächlich "stattfindet", sondern sie sind die Blickwinkel, unter denen ein abstrahierend-reflektierender Verstand die Koralle anschauen mag – oder eben nicht.

Das gilt für alle Wissenszweige ebenso wie für Kants Kategorientafel. 

Also, ein Geschehen "zeigt sich" in dem einen Bedingungsverhältnis (unter der einen Kategorie) so, in dem andern anders; und in einem dritten gar nicht. 

Wo die Menschen ihre apriorischen 'Hinsichten' herhaben – ob ihrerseits ex sponte 'gesetzt' oder aus "sinnlichen Eindrücken" empirisch angesammelt –, diese Frage "erscheint" ihrerseits in logischer Hinsicht (philosophisch) gar nicht, sondern nur empirisch-psychologisch – als Streit zwischen Assoziations- und Gestaltpsychologie (der freilich selber logisch zu entscheiden ist). 

Ausschlaggebend ist nur, dass 'es' diese Hinsichten 'gibt', und dass ihre logisch-regelmäßige Handha- bung die Gewähr für die Vernünftigkeit unseres Denkens ist. Dank ihrer 'gibt es' vernünftiges Den- ken: Sie "konstituieren" es. Aber da es nun einmal 'ist', reicht ihm die Faktizität der  Kategorien, die es konstituieren, nicht aus. Es will die Gründe sehen. Will sehen, dass sie nicht (historisch) zufällig sind (und also auch anders sein könnten), sondern (genetisch) notwendig. Wenn es unter den faktisch gegebenen Kategorien nicht einen genetischen, einen Bedingungs- zusammenhang auffinden kann – einen ‚letzten’, d. h. ersten Grund -, dann müsste es sich selber als unbegründet, und damit als un- gültig erkennen. 

Die Suche nach einem letzten Grund heißt Wissenschaftslehre. 

Das heißt, 'eigentlich' ist sie zirkulär: Sie setzt die Auffindbarkeit des Grundes schon voraus. Denn 'gäbe es' einen solchen Grund nicht, dann könnte sie ihn nicht nur nicht finden; sondern sie könnte nicht einmal finden, dass sie ihn nicht finden kann, und so verlöre die Suche ihr Wonach. 

Wer sich also auf die Suche macht, der muß sinnvollerweise voraussetzen, dass es hier etwas zu finden gibt. Seine Suche beginnt dann folgendermaßen: Da das Wissen einen Grund haben muß (weil ich anders gar nicht suchen könnte), muß er… da oder dort zu finden sein. 

Logisch korrekt muss die Aufgabe also so formuliert werden: Wenn unser Wissen einen Grund hat, dann muss er sich 'in' unserm Wissen als dessen immanente Prämisse auffinden lassen. Daß aber unser Wissen einen Grund hat, das soll so sein, weil jedes Wort sonst hinfällig wäre.

aus e. Notizbuch, 21. 3. 1993





Sonntag, 12. April 2015

Das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus.

Wendeltreppe

Das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus ist der von späteren Herausgebern gewählte Titel eines kurzen, vermutlich im Jahr 1797 entstandenen Textbruchstücks, das erst im 20. Jahrhundert an die Öffentlichkeit kam und dessen Verfasser nicht zweifelsfrei feststeht.

Die Handschrift des Manuskripts lässt sich eindeutig Hegel zuordnen. Wortwahl und Inhalt aber passen nicht zur Philosophie des jungen Hegel. Daher ist anzunehmen, dass es sich um eine Abschrift Hegels von dem Text eines seiner Tübinger Freunde und zeitweisen Zimmergenossen Schelling oder Hölderlin handelt; wobei mir der Dichter wahrscheinlicher vorkommt als der dilettierende HansDampfinallenGassen.

Der Verfasser geht offenbar von Fichtes transzendentalistischen Ich-Philosophie aus, um mit einem ästhetischen Postulat des Absoluten zu schließen. 1794 bis 1795 besuchte Hölderlin in Jena Fichtes Vorlesungen. In diese Zeit fällt Fichtes Kontroverse mit Schiller um die Veröffentlichung von Fichtes Über Geist und Buchstab in der Philosophiein Schillers Zeitschrift Horen. Und am 25. Juli 1795 schrieb Fichte an Schiller, dieser begriffe ihn nicht, „weil Sie die Ausdehnung dessen, was ich einstweilen ästhetischen Trieb genannt habe, nicht vermuten.“ Fichtes Studenten werden in dessen Privatkorrespondenz kaum Einblick gehabt haben. Aber es ist anzunehmen, dass sie über die Entwicklung seines Denkens auf dem Laufenden waren.

Weder Schelling noch gar Hegel waren damals in Jena.*


Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus

Hölderlin 1792...eine Ethik. Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt – wovon Kant mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft hat -, so wird diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts.

Hier werde ich auf die Felder der Physik herabstei- gen; die Frage ist diese: Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? Ich möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden Physik einmal wieder Flügel geben.

So, wenn die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Data angibt, können wir endlich die Physik im Großen bekommen, die ich von späteren Zeitaltern erwarte. Es scheint nicht, daß die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist oder sein soll, befriedigen könne.

Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk.

Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwasSchelling um 1800 Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also über den Staat hinaus!

Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören. Ihr seht von selbst, daß hier alle die Ideen vom ewigen Frieden usw. nur untergeordnete Ideen einer höheren Idee sind.

Zugleich will ich hier die Prinzipien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung bis auf die Haut entblößen. Endlich kommen die Ideen von einer moralischen Welt, Gottheit, Unsterblichkeit,- Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die Vernunft selbst.

HegelAbsolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen.

Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, in dem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonieren – ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen – und treuherzig genug gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinausgeht.

Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.

Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur derTübinger Stift große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s, was wir bedürfen.

Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.

Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophie sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister!

Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte größte Werk der Menschheit sein.

tower-of-negation 
aus: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Frankfurt 1961, S. 1014ff.

*Nota. - Nachdem zeitweilig daran gedacht wurde, Schelling und Hölderlin könnten gemeinsam die Verfasser, Hegel jedoch nur der Kopist gewesen sein, wird nun in Erwägung gezogen, dass Hegel doch, nämlich gemeinsam mit Hölderlin, am Verfassen des Textes beteiligt gewesen sein könnte. Die Gedanken über den Staat als Mechanismus und über die Notwendigkeit einer mythologischen Ästhetisierung der Religion erinnern tatsächlich an Hegels Beschäftigungen in dieser Zeit; vgl. Galvano della Volpe, Hegel romantico e mistico, Florenz 1929.
JE 

Samstag, 11. April 2015

Wie scharf soll man die Einzelwissenschaften von einander trennen?

duxschulz  / pixelio.de

Die Frage ist nicht, ob "man" die Wissenschaften trennen kann, sondern ob nicht gewisse Wissenschaften "von selbst" von andern Wissenschaften getrennt sind.

Gewiß, wenn man von vorneherein alle Gegenstände, die man möglicherweise vorfinden kann, dogmatisch in die Rubriken "Geisteswissenschaften" und "Naturwissenschaften" einteilt, verfällt man in einen logischen Zirkel, indem man das, was man vorher hineingesteckt hat, notwendigerweise hinten wieder heraus analysiert.

Darum wurde vorgeschlagen, die Wissenschaften in "nomothetische" (=solche, die auf die Formulierung allgemeiner Gesetze abzielen) und in "idiographische" (=solche, die das je einzeln Gegebene beschreiben) zu unterteilen. Aber das ist keine Unterscheidung der Gegenstände "a priori", von vornherein und durch bloße logische Konstruktion, sondern eine Unterscheidung im nachhinein: Welche Gegenstände haben sich tatsächlich für die Behandlung nach der einen Methode, und welche haben sich für die andere Methode tauglich erwiesen?



...Denn natürlich geht es den Naturwissenschaften um das Formulieren allgemeingültiger Gesetze und nicht um die Darstellung eines tatsächlich vor ihr liegenden ("Natur"-) Objekts. Darum löst sie ja die Gegenstände zuerst aus ihrer natürlichen Umgebung heraus und versetzt sie in eine künstliche Labor-Situation, wo ein jedes Ding nicht mehr als es selber, sondern bloß als Vertreter seiner Gattung erscheint. Man hat es also durch das bloße experimentelle Verfahren definiert als eines, das... einer Gattung zugehört!

Das kann man mit historischen Ereignissen, mit gedanklichen Gebilden (also mit philosophischen "Systemen), mit Kunstwerken und sozialen Situationen nicht machen. Die kann man höchstens, nach erschöpfender "idiographischer" Bearbeitung, je nach den Ergebnissen wegen ihrer mehr oder weniger großen Ähnlichkeiten in Gruppen zusammenfassen. Aber daraus lassen sich nachträglich keine "Gesetze" rekonstruieren, denn die könnten ja nur... die eigene Vorgehensweise betreffen!

Wenn irgendeine Denkfigur oder ein Vorstellungsschema aus einer Geisteswissenschaft (z.B. Philosophie) in einer naturwissenschaftlichen Disziplin (z.B. Mikrophysik) wiederauftaucht, oder umgekehrt: dann handelt es sich immer nur um eine Analogie, die unser Vorstellungsvermögen zum Weiterdenken anregen mag, aber nie um eine Identität, aus der sich ihrerseits wissenschaftliche Schlüsse ziehen ließen.

 ... Die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften stammt von Wilhelm Dilthey. Der war kein Dummkopf und wußte ziemlich viel. Wie manchem anderen ist ihm aufgefallen, daß das Wort Wissenschaft "irgendwie" je nach Disziplin in deutlich verschiedenem Sinn verstanden wird. Das hat er zu klären versucht, indem er die (bestehenden!) Wissenschaften nach ihren Gegenständen in solche unterschied, in denen sich der Mensch mit den Dingen außer ihm beschäftigt, und solche, wo er sich mit sich selbst und seinen Werken befaßt.

Das Problem war, daß sich damit eine klare Grenzlinie gar nicht, wie er dachte, ziehen ließ.* Auch Dilthey hatte seinen Kant gelesen und mußte zugeben, daß sich in den "Naturwissenschaften" der Mensch nicht mit den Dingen beschäftigt, wie sie an sich sind, sondern mit den Dingen, wie er sie sich zurechtkonstruiert hat. Durch- führen läßt sich seine Unterscheidung nur dann, wenn man das, was man herausfinden will, klammheimlich vorneweg schon vorausgesetzt hat.

Darum hat der Neukantianer Wilhelm Windelband die Unterscheidung von Nomothetisch und Idiographisch eingeführt. Natürlich hatte er dieselben (bestehenden) Wissenschaften im Auge wie Dilthey: Was haben Chemie und Physik gemein, und was unterscheidet sie gemeinsam von Philosophie und Geschichte - und was haben letztere gemeinsam? Natürlich kann man die Liste ausweiten, aber um wen es geht, weiß man schon irgendwie.

Die neue Formulierung Windelbands bezog sich daher nicht auf die Gegenstände (die man so sauber gar nicht trennen kann), sondern auf die Erkenntnisziele und die jeweils ihnen entsprechenden Verfahren.

Ich hoffe, jetzt ist es klarer. Wenn Du meinst, Kunst und Geschichte hätten "mit dieser Art Wissenschaft nichts zu tun", dann hattest Du es aber schon beim erstenmal richtig verstanden: Genau das wollte ich sagen. Und Philosophie genausowenig! Die hat - seit der Kant'schen Revolution - ausschließlich mit dem Erzeugen und den Erzeugnissen unserer Vorstellung zu tun. Von den Dingen "an sich" weiß sie gar nichts. Sie ist eine Kritik unseres Vernunftgebrauchs und lehrt uns, daß die begrifflichen Spekulationen gar nichts zur Naturerkenntnis beitragen, und daß uns die Naturwissenschaften keinen Deut weiterbringen, wo es um den Sinn der Sache(n) geht.

aus einen Online-Forum,  24.09.07 

Freitag, 10. April 2015

Wo die Vorstellung von einem realen Absoluten herstammt.



Wahrheit ist kein Begriff, sondern eine Idee, indem sie sich durch keine Bestimmung erschöpfen lässt. Aber nicht so, dass man noch eine und stets noch eine Bestimmung hinzufügen könnte, ohne je zu Ende zu kommen; sondern so, dass man mit dem Bestimmen gar nicht erst anfangen kann.

Dies wäre eine Worterklärung: Wahrheit ist eine Geltung, die durch nichts bedingt ist.

Geltung ist das, was mich bestimmen kann, so oder anders zu handeln; das, was auf mein Wollen wirkt.

Ohne Bedingung heißt aber - auch ohne diese: dass sie auf mein (oder irgendein) Wollen wirkt. 

Das ist paradox.

Da aber unser Denken selber ein Handeln ist, kann es vom Wollen schlechterdings nicht abstrahieren, und so schiebt es unbemerkt einen unbedingten Willen nach, der die unbedingte Geltung bedingt. Das ist nicht minder paradox, kommt uns aber aus unserer animistischen Vorgeschichte her bekannt vor.

Es gibt nur zwei mögliche Vorstellungen von der Wahrheit: entweder das Intelligent Design, oder die prakti- sche Fiktion. Welche man wählt, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist.






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.