Montag, 14. Oktober 2013

Wissenslehre: Durch einander.


Begründung der Wissenschaftslehre; Unbedingtheit des wahren Wissens; Die problematische Bedingungslosigkeit der Wahrheit:

Wenn überhaupt 'es' Wahrheit geben 'soll', so muß sie unbedingt sein (=unbedingt gelten; denn 'Wahrheit' bezieht sich ohnehin nur auf Geltung; nicht auf sinnlich Gegebenes.)

Unbedingt = ihre Geltung beruht "in" ihr selbst und nicht "auf" einem Anderen; welches andere - als der 'Grund', auf dem sie 'beruht' - sonst selber die Wahrheit wäre, und so weiter in infinitum. -

Nun gibt es nur zwei Möglichkeiten: (1) [unendliche Reihe]: hinter jeder Denkbestimmung, welche 'gilt', lässt sich immer noch eine andere 'auffinden', auf welcher ihre Geltung beruht, und wir kämen nie zu einem Punkt, an dem wir halten und an den wir uns halten können; dann ist die Suche nach Wahrheit ein unendlicher Regress, in dem 'es' keinen Grund 'gibt'; also keine Wahrheit, und was immer wir sagen, möchte vielleicht den "Bedürfnissen" unserer Sinne (mit denen "die Natur" uns versehen hat) von Nutzen sein; aber einen Maßstab, nach dem wir die "Bedürfnisse" des einen im Vergleich zu den Bedürfnissen eines andern beurteilen könnten, gäbe es dann nie und nimmer...

- Diese erste Möglichkeit, regressus in infinitum, tritt nur ein unter der Voraussetzung, dass die Reihe der möglichen Denkbestimmungen eine unendliche ist; d. h. dass wir an keinem Punkt (bei der analytischen Rückführung der Gültigkeit von Denkbestimmung Y auf Denkbestimung X) auf Etwas stoßen, das in der bereits zurückgelegten Reihe schon einmal vorgekommen ist.

(2) [Kreis]: Finden wir jedoch einen solchen Punkt, so ist der Regress an seinem Ende - und wir drehten uns im Kreis. Dann aber ist - mittelbar - jede Denkbestimmung in jeder andern begründet (sofern man den ganzen Kreis genügend weit durchläuft). Dann begründen sie alle einander; begründen "sich" "durcheinander".

Aber dadurch ist der Kreis selber doch nicht begründet. Ob er als Ganzes "gilt", ist dann immer noch so fraglich, wie es vorhin bei der unendlichen Reihe war. Aber einen Schritt sind wir dennoch weiter: wenn 'es' Wahrheit 'gibt', dann könnte es jetzt nur noch der Punkt sein, der den Kreis-Lauf "zusammenhält"; als dasjenige, welches macht, dass eine Bestimmung in allen andern begründet ist ('Mittelpunkt' wie 'Radius' des Kreises: kommen in keinem einzelnen Punkt auf dem Kreise selber vor; "begründet" aber jeden einzelnen von ihnen, so dass einer aus dem andern "folgt"; warum? Weil 'Mittelpunkt' und 'Radius' nur Handlungsanweisungen sind, wie der Kreis konstruiert werden soll.)

"Zusammen" hängen sie im Durcheinander ("totale Relation", GL); welches ist: die Form (eídos, Bild, schêma), durch welche sie zu Stande kommen; der Akt, in welchem sie 'gesetzt' werden; Form des Akts selbst (Form = geronnener Akt; Form des Akts "überhaupt" = Form der Form, "absolute" Form, Form an sich {WL 1804, S. 84}). [Von "ich p, dass q" bleibt nur noch: "p", da 'ich' und 'dass q' materiale Bestimmungen sind, die als zufällige fortfallen; welches "p" für sich aber nicht bestehen kann.]

Das Durcheinander ist Form der Form, und als solche Grund der Geltungen = "die Wahrheit" selbst. Sie ist unbedingt, aber nur unter der - in einer anderen Ebene liegenden! - "Bedingung", dass sie sein soll; gilt nur, weil und sofern die gelten soll. Diese Bedingung liegt außerhalb des Kreises selbst und nicht, wie das Durcheinander, "innerhalb". Ist durch Denkbestimmungen also nicht zu entscheiden (läge ja sonst im Kreis des Gewussten - und wäre realer "letzter Grund", auf den wir doch irgendwann hätten stoßen müssen). Ist nur durch Freiheit zu entscheiden; "praktisch", nicht theoretisch. (Lässt sich theoretisch nur mittelbar, apagogisch rechtfertigen, im modus tollens, durch reductio ad absurdum der entgegengesetzten Annahme: "Soll" es Wahrheit nicht geben (soll keine Geltung sein), dann ist jede Aussage in dieser Sache - und jede Aussage überhaupt - ungültig.)

Wie lässt sich nun die Frage: 'unendliche Reihe oder Kreis' entscheiden? Etwa faktisch, als wirkliche Durchmessung aller möglichen Denkbestimmungen und Auffinden eines (wirklichen) Punkts, in dem (wirklich) zwei (wirkliche) Denkbestimmungen gemeinsam begründet sind? Z folgt aus Y, Y folgt aus X, X aus W usw., bis: B folgt aus A, aber A folgt aus Z', und 'es zeigt sich', dass Z' ebenfalls aus... Y folgt... Die Lösung im Begriff der WL (1793) geht so: Wenn das Wissen eine unendliche Reihe ist, dann ist es nicht begründet; eine solche Annahme ist aber sinnlos, denn sie wäre ihrerseits - nicht begründet. Wenn überhaupt gültig gedacht (= gewusst) werden soll, dann muss vorausgesetzt werden, dass das wirkliche Wissen keine unendliche Reihe, sondern ein 'System' (Verweisungszusammenhang, Kreis usw.) ist; dieser ist aufzusuchen, indem von einer (x-beliebigen) wirklichen Denkbestimmung nach und nach alles Materiale [das Was der Aussage] abgezogen wird und nur noch die reine Form [das Dass: dass überhaupt ausgesagt wird...] zurückbleibt; eidetische Reduktion, epochê möchte man sagen. -

Denn ließe sich anders aus einer (faktischen) reellen Denkbestimmung tatsächlich jener Punkt herausfiltern, in dem sie mit den (oder auch nur mit einer) andern gemeinsam wirklich begründet ist, dann wäre das Problem theoretisch und positiv gelöst: wir hätten erwiesen a) dass 'es' Wahrheit 'gibt', und b) worin sie "besteht" ("worauf" sie "beruht"). Alles andere könnten wir uns schenken. -

Tatsächlich ("real") ist das Wissen der Menschen (= Sinngebungen des Faktischen) von einer Bestimmung zur andern fortgeschritten; historisch ist es ein "Diskurs": ein Gewusstes wurde auf einem Gewussten abgesetzt, "begründet"; indem ein bislang Unbekanntes auf ein schon Bekanntes "zurückgeführt", "durch" es "erklärt" wurde; also der tatsächliche Gang des menschlichen Wissens ist an sich 'diskursiv'; unabhängig vom Sein "magischer", mythischer oder sonstwelchen Repräsentionsweisen.

Diskursiv in specie wird das Denken, seit die neu hinzutretenden "Gewusstheiten" nach Regeln geprüft werden, bevor sie dem Wissensfundus einverleibt werden; d. h. verglichen werden mit dem schon Gewussten einerseits, und dem schon erworbenen Wissen über das Wissen andererseits ["Kritik"]. So beginnt Wissenschaft: punktuell durch Reflexion des reellen Wissens auf sich selbst, d. h. das Eintreten der "idealen" Tätigkeit in den Vollzug selbst der "realen" Tätigkeit. Ist aber dimensionell schon immer gegeben, sobald sich einer auch nur fragt: Stimmt das auch, was ich da zu wissen meine?

Wissenschaftslehre ist nun der Schritt, das Ganze angehäufte Realwissen daraufhin zu überprüfen, ob und wie es insgesamt begründet ist. Das heißt, die reale Anschatzung von Gewusstheiten im Verlauf unserer Gattungsgeschichte wird rückwärts auf ihre Gültigkeit überprüft. Also Gesetze, die das Denken in seinem vieltausendjährigen Vollzug sich selbst gegeben hat, werden ex post factum auf diesen Vollzug selbst zurückprojiziert [als dessen Maßstab hineingetragen]. Da kann man dann bis zu einem gewissen Grad der Gemeinplätzlichkeit sagen: "Die Leistungen des transzendentalen Subjekts sind nichts als die Erwerbungen unserer Gattungsgeschichte"; so Habermas in bemerkenswerter sachlicher Übereinstimmung mit Konrad Lorenz und den Vulgärpragmatisten, zu denen auch H. Vaihinger zu zählen ist: Das "Apriori" sei durch trial and error aufgefunden worden durch natürliche Auslese: indem es sich "bewährt" habe im Dienste "des Lebens".

Sei's.

Aber das sagt allenfalls etwas über die tatsächliche Nützlichkeit (pragmatische Richtigkeit) unseres Wissens. (Für die Realwissenschaften kommt es freilich auch nur darauf an.) Aber was Wahrheit ist, wissen wir darum noch lange nicht. Es hieße ja nur, dass die Instrumente, die wir uns selbst geschaffen haben, den Erfordernissen unserer Lebensnotdurft hinreichend "angepasst" sind; jusqu' à nouvel ordre: und dann bauen wir sie eben um, wie's uns eben passt.

Wir sind aber so reich geworden, dass es nicht mehr genügt (theoretisch!), uns unser Lebens aus der Notdurft ("Naturnotwendigkeit") begreiflich zu machen, und der Sinn ("Fortschritt") der Menschheitsgeschichte [wenn sie denn einen haben "soll", kann es nur dieser sein] war der, dass nun schon viele von uns so wohllebend geworden sind, dass ihnen ein solches 'Begreifen' lebenspraktisch öd und entkräftend vorkommt. Sich am Leben erhalten ist ein Zweck ohne Würde.

So ist das "Bedürfnis", recte: Streben nach Wahrheit aufgekommen. Wenn sie keine Sorgen mehr um den Erhalt des Lebens haben, merken sie an der sich einstellenden langen Weile erst, dass sie einen Geist haben (Fichte, Rechtslehre 1812).

Wenn wir nun die einmal - historisch, "selektiv" - gewonnenen Maßstäbe für richtiges Denken im nachhinein - 'a posteriori' - an den Verlauf der tatsächlichen Wissensanhäufung in unserer Gattungsgeschichte herantragen, unterstellen wir ipso facto, dass dieselben Regeln allbereits gültig waren - 'a priori' -, bevor wir sie "entdeckt" haben. Anders wäre ihre (logische) Anwendung auf den (historischen) Verlauf des Wissenserwerbs gar nicht gerechtfertigt. Also wir müssen das Resultat unseres Wissens ihm ex post als seine Begründung voraussetzen. ("dass das Apriori zuerst Aposteriori gewesen sein muss..." Fichte [wo?])

Wollen wir aber denken dürfen, müssen wir unser Aposteriori apriori hypostasieren (hypokeimenon), und postulieren - müssen postulieren - einen Zirkel im Wissen. Dann ist das Wissen kein grundloser Regress in infinitum (und wäre folglich gar nicht), sondern ein "in sich selbst begründeter" Kreis. Als solcher ist er begründet in seinem Konstruktionsprinzip: Form der Form, Form des Akts, actus purus (factum absolute fiens, WL 1805, S. 87)

Die WL ist erst Meta-Logik; hernach materiale Logik (= Lehre von dem, was wahr ist; was gelten darf.) 

[5. 6. 92]
Bild: birgitH, pixelio.de



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