Der phänomenale Ausgangspunkt einer jeden nach Gründen suchenden Ethik ist die faktische Gegebenheit der positiven Moralen rund um den Erdball und auf allen Kulturstufen. Sie wirft die Frage auf nach einer Verwurzelung des ubiquitären Moralismus in der Conditio humana selbst. Diese wiederum zerfällt in die Frage, was der Mensch historisch (geworden) ist, und die Frage, was er heute daraus machen will, d. h. soll.
Historisch ist nicht davon zu abstrahieren, dass die Menschen, d. h. ihre Vorfahren den Sprung aus der Urwaldnische in die offene Welt der Savannen nicht hätten überstehen können ohne eine Festigung und Formalisierung ihrer gemeinschaftlichen Lebensweise. Aus der Blutsverwandtschaft und dem Totemismus entstand das positive Recht; es kompensiert in vieler Hinsicht die mit seiner Weltoffenheit korrelierende 'Istinktentbundenheit'.
In anderer Hinsicht korreliert mit der Weltoffenheit des Menschen seine Freiheit. Dem Tier ist durch die Anpas- sungsleistungen seiner Gattungsgeschichte der Platz, der ihm in seiner Umweltnische zukommt, angewiesen. Das Invividuum lebt, wie seine Gattung lebt. Die Menschen jedoch haben kollektiv eine eigene Geschichte, weil auch die Individuen ihre eigenen Geschichten haben. Mit andern Worten: Seit der Neueröffnung der Welt aus der selbstgemachten, sekundären Nische des Ackerbaus durch die große Industrie und die bürgerliche Verkehrs- gesellschaft muss ein jedes Individuum sein eigenes Leben führen. Was es zu tun hat, ist ihm nicht eingeboren. Es muss danach fragen - und wen, wenn nicht sich selbst?
"Die Moral sagt schlechterdings nichts Bestimmtes – sie ist das Gewissen – eine bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer einzeln. Gesetze sind der Moral durchaus entgegen."
Novalis, Allgemeines Brouillon, N°670
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