Jusepe Ribera, St. Peter
aus derStandard, 17. 5. 2019
... In Brasilien zeichnete das Team um Melissa Berthet die Laute von Titi-Affen (Springaffen) auf, nachdem die Wissenschafter ein ausgestopftes Raubtier – einen Raubvogel oder eine Raubkatze – am Boden oder im Blätterdach in unmittelbarer Nähe der Gruppe platziert hatten. Später spielten sie der Gruppe die aufgezeich- neten Laute wieder vor, um die Reaktionen der Affen zu beobachten. Demnach konnten die Tiere durch die Laute Informationen über den Typ des Raubtiers und seinen Standort vermitteln, schienen dabei jedoch keine Kategorisierung zu verwenden, wie es beim Mensch der Fall ist.
"Wir neigen dazu, die Ereignisse, die uns umgeben, in Kategorien einzuteilen, auch wenn die Unterschei- dung zwischen diesen Kategorien tatsächlich unklar ist", sagte Berthet. "Zum Beispiel bilden die Farben eines Regenbogens ein Kontinuum, aber Menschen bevorzugen es, über sieben Farbbänder zu sprechen", so die Forscherin.
In ähnlicher Weise würden Menschen in der den Affen präsentierten Situation dazu neigen, vier Kategorien zu unterscheiden: bodenlebendes Raubtier am Boden, Flug-Raubtier am Boden, bodenlebendes Raubtier im Blätterdach, Flug-Raubtier im Blätterdach.
Nicht so bei den Affen: Sie stellen diese vier Situationen als Kontinuum dar, und zwar durch Lautfolgen aus Kombinationen von Schreipaaren, die aus Schrei A und/oder Schrei B bestehen können. Je weniger Kombi- nationen von zwei B-Schreien in der Lautfolge vorhanden sind, desto mehr schauen die zuhörenden Affen in die Luft, um dort nach einem Raubtier zu suchen. Aber sobald die Anzahl der Kombination mit zwei B-Schreien zunimmt, schauen die Affen eher zum Boden. Diese als probabilistisch bezeichnete Informati- onsübermittlung wurde bisher bei keiner anderen Tierart beschrieben. ...
mein Kommentar:
Die Auffassung der Erscheinungen der Welt als eindeutig zu Unterscheidende nennen wir die digitale, die Auffas- sung der Erscheinungen als gleitendes Kontinuum nennen wir eine analoge. Um die digitale Wahrnehmung so wiederzugeben, dass ein Anderer sie identifizieren kann, braucht man ein unmissverständliches Zeichen, ein digit, am besten ein - Wort. Eine analoge Wiedergabe bedarf eines kontinuierlichen Signalsystems.
Was war eher da - die digitale Wahrnehmungsweise des Menschen oder seine sprachliche Mitteilungsweise? Ich wage mal eine Spekulation: Es war die Wiedergabe durch spezifische Wortzeichen, die durch Äonen das unser Bewusstsein geprägt, nämlich überhaupt erst möglich gemacht hat, und diese Bewusstseinsverfassung hat ihrer- seits unsere Wahrnehmung geprägt.
Und siehe da: Eine 'vernünftige' Weltanschauung, und darunter verstehen wir seit gut 200 Jahren eine, die die Phänomene einander als Ursachen und Wirkungen zuordnet, ist nur bei einer digitalen Unterscheidung der Wahrnehmungen möglich: Eine Erscheinung muss als diese Eine spezifiziert worden sein, um ihr 'diese eine' Ur- sache zuschreiben zu können. Wessen Wahrnehmung aus ineinander übergehenden Bildern besteht, muss sich mit erfahrungsmäßiger Wahrscheinlichkeit bescheiden.
Merke: Die Unterscheidung nach Ursache und Wirkung ist reflexiv, sie schaut sich um: 'Da' ist die Erscheinung, die Ursache muss als hinter ihr verborgen angenommen werden - als schon geschehene, und durch sie ist sie bestimmt. Der probabilistische Blick in die Welt sieht nach vorne, er erwartet etwas; doch das Etwas ist analog, nur ungefähr, noch unbestimmt.
JE
*
Nachtrag.
Das könnte zu einem Aha-Erlebnis der Anthropologie werden. Die Hirnforscher stehen ratlos vor der Tatsache der Reflexion. Wir denken nicht nur dieses und jenes, sondern wir denken uns, wir denken, dass wir denken, wir denken Dieses als ein Anderes. Aus ihren bildgebenden Verfahren können sie weder ersehen, wo, noch wie das geschieht. Sie können sich vor allem nicht vorstellen, was es ist.
Überliefert war die Auffassung, dass es für jede spezifische Leistung des Erkenntnisapparats eine spezialisierte Region im Gehirn gäbe, die für sie und sonst nichts zuständig wäre. Die schematische Unterscheidung zwischen Broca- und Wernicke-Zentrum ist wohl inzwischen von der Vorstellung zweier spezifischer neuronaler Verbün- de ersetzt, die zwar um einern Schwerpunkt herum gruppiert, aber über einen größeren Raum verteilt sind. Es sind dynamische Verbünde zwischen vielen einzelnen Neuronen; das macht sie so plastisch.
Und es bleibt dabei: Nur wir Menschen verfügen darüber, die Tiere nicht.
Man stellt sich leicht vor, wie nach dem zuerst entwickelten 'technischen' Broca-Areal sich stetig das 'semanti- sche' Wernicke-Areal ausgebildet hat: Die Struktur folgte der peiristischen Funktion. Kaum vorstellbar ist hin- gegen, die Struktur sei durch ein oder zwei plötzliche Mutationssprünge fix und fertig entstanden und habe die Individuen veranlasst, sie in Funktion zu nehmen.
Dass das begriffliche und eo ipso reflektierende Denken immanent aus der Evolution des Gehirngewebes ent- sprungen sei, ist aber nur unter letzterer Hypothese vorstellbar. Begreifen heißt: ein Phänomen so weit eingren- zen und fest-stellen, dass es mit einem anderen Phänomen nicht mehr verwechselbar ist. Eingrenzen lassen sich die Phänomene allerdings nicht durch ihre sinnlichen Qualitäten: Die gehen stetig ineinander über, wie die Farben des Regenbogens. Um sie immerhin grob unterscheiden zu können, muss man sie unter übersinnliche Bedeutungen fassen: namentlich unter die Zwecke, zu denen man sie brauchen wollen kann.
Wird auf den Unterschied gemerkt, entsteht im sinnlichen Kontinuum ein semantischer Bruch. Der schreit gera- dezu nach dem Beachtetwerden, und aus dem Wahrnehmen eines Unterschieds wird die Bedeutung eines Gegen- satzes. Und das ist Reflexion. Denn der Gegensatz stellt sie Dinge so dar, als ob sie gegeneinander tätig würden. Die aus festgestellten Begriffe starr gefügte Welt wird dynamisiert.
Nicht aus der veränderten Struktur des Hirngewebes wäre die Funktion des Sprechens entstanden, sondern mit der sich ausbildenden Sprachfunktion wäre eine Veränderung der Gewebestruktur einhergegangen.
Das ist ein Modell; wie gut es sich zu einer empirisch überprüfbaren theoretischen Hyposthese entwicklen lässt, können nur Fachleute beurteilen. Es würde immerhin einige offene Fragen klären und sollte daher versucht werden, meine ich.
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