Donnerstag, 9. Mai 2019

Das Bestimmen hat eine vordere und eine hintere Grenze.

Lothar Sauer
 
Bestimmt und unbestimmt haben nur in Bezug aufeinander einen Sinn. Nichts ist absolut bestimmt, nichts ist absolut unbestimmt. Jedenfalls nichts, was ich mir vorstellen kann.

Zu welchen Operationen eine Vorstellung taugt, kann ich nur prüfen, wenn ich sie bestimme, nämlich zum Begriff vereindeutige. Ich stelle mir die Figur eines Quadrats vor. Um sie zu begreifen, nämlich so, dass ich sie in meiner Vorstellung willkürlich wieder hervorrufen und sie womöglich einem An- dern erklären kann, müsste ich sagen: eine geschlossene Figur aus vier gleichlangen Schenkeln. Dass sie nur zwei Dimensionen hat, dass sie vier rechte Winkel hat, muss ich nicht hinzufügen, es folgt aus der Prämisse. Mit dem so gefassten Begriff kann ich gedank- lich operieren, dafür ist er hinreichend bestimmt. 


Um praktisch zu konstruieren - ein Haus etwa -, muss ich im Fortbestimmen den Begriff überschreiten und eine wirkliche Figur zeichnen, indem ich nämlich eine bestimmte Länge angebe, 23 mm zum Beispiel. Das ist nun kein Begriff mehr, sondern ein wirkliches Quadrat; ein Bild. Als ein solches kann ich es mir aber nicht vorstellen; 23 mm, 53 mm, 87 mm? Das geht nur noch ungefähr, und auch nicht absolut, indem ich die Augen schließe, son- dern nur relativ, indem ich auf ein vorhandenes Ding schaue und es zum Maßstab nehme. In der Wirklichkeit, als Bild, kann ich mir ein Quadrat nicht vorstellen, sondern muss es anschauen.

Mein Bestimmen hat seine Außengrenze in den Singulariis, die bestimmt sind wie alles Wirkliche, und seine Vor- dergrenze in dem Zustand, wo ich mir nichts mehr vorstelle - weil ich entweder mein Bewusstsein ruhen lasse oder weil ich mich ganz ins Anschauen versenke. Letzteres ist, was Schiller den ästhetischen Zustand nennt.

Wo nichts vorgestellt wird, gibt es nichts zu bestimmen. Wo schon alles bestimmt ist, gibt es nichts vorzustellen. 

Was immer zwischen Subjekt und Objekt geschieht, ist Bestimmung. Sie selber liegen außerhalb; es ist das Be- stimmen, das sie zu dem macht, was sie sind.

8. 7. 17


Was immer ich tue - ich bestimme. Man kann nicht nicht-bestimmen? Man kann nichts tun. Allerdings nicht lange. Früher oder später muss der Mensch etwas tun, früher oder später muss er bestimmen. Muss er etwas bestimmen! Hinter das, was es vorfindet, kann sein Bestimmen nicht zurückgreifen, er kann es allenfalls links liegen lassen und - in diesem Fall nichts tun. Bestimmen kann er nur, was er anschaut.

Das ist die vordere Grenze. Und er kann beim Bestimmen über den Horizont seiner Anschauung hinausgehen. Er kann Begriffe bestimmen, unter denen er sich nichts mehr vorstellen kann. Er kann mit ihnen auf unanschauli- che, nämlich formalisierte und digitalisierte Weise operieren, immer in der Absicht, zu Ergebnissen zu gelangen, die er sich wieder vorstellen kann - so, als ob er sie ansähe. Das ist ein problematisches, ein hypothetisches Bestim- men, kein wirkliches, es ist ein Bestimmen auf Verdacht. Das ist die hintere Grenze. Die theoretische Physik be- wegt sich in diesen Breiten.


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