Montag, 28. Mai 2018

Das Korn und die Spreu.

Millet, Un vanneu

Was er nicht ausspricht, aber durchklingen lässt: Wenn in den Ingenieursdisziplinen zusehends an die Stelle des diskursiven, definierte Begriffe durch geprüfte Methoden regelgerecht verknüpfende Denken die Intuition tritt, gerät die Vernünftigkeit unserer Weltauffassung selbst in Gefahr. Der franzsösische ingénieur stammt vom latei- nischen ingenium ab, der eingeborenen Inspiration. Wir würden auf ein neues Geniezeitalter zusteuern, wo begei- sterte Führerpersönlichkeiten eine unkontrollierte Macht ausübern, die der gesunde Menschenverstand der breiten Massen nur mit offenem Maul anstaunen kann.

Gumbrecht zählt sich sicher selber zu den Inspirierten, da macht ihn die Vorstellung eines Großen Comeback der Geisteswissenschaften nicht bange. Aber dass die Intuitionen auch durch eine wetteifernde scientic community schwerer zu kontrollieren sind als die rationellen Diskurse, wird er nicht bestreiten. Da kommt mehr Farbe, aber auch mehr Unberechenbarkeit in die Bude: Riskant, wie er richtig sagt.


Es war aber ein Irrtum, die Herrschaft der Vernunft mit Berechenbarkeit gleichzusetzen. Er hat ein Viertel- jahrtausend geherrscht, doch wäre es Zeit, ihn zu korrigieren. Die technische Anwendbarkeit ihrer Produkte ist nur die eine Dimension der Vernunft. Sie hat die westlichen Gesellschaften lange genug beherrscht. Sie ist das, was während der langen Geschichte der Arbeitsgesellschaft im allgemeinen und der kapitalistischen Produktions- weise im besondern von der Vernunft im Vordergrund stand; und das vorherrschende Motiv des Denkens war - der Naturwissenschaften wie der Philosophie.


Das konnte kaum anders sein, solange die überwältigende Mehrheit der in der Welt Tätigen mit technischen An- wendungen beschäftigt war, mit der Ausführung vorgegebener Projekte. Lat. proiectum bedeutet lexikalisch fast dasselbe wie gr. problema , und wenn beide Begriffe sich durch verschiedene Anwendung auseinander entwickelt haben, darf das im Rückblick nicht darüber täuschen, dass das Bild, das ursprünglich hinter beiden stand, das ist, was das deutsche Wort Vorstellung bezeichnet. Die Vorstellung ist das Gemeinte, das, worauf abgesehen wird, das, was dem Tätigen seinen Zweck vorgibt.

Der Begriff ist nur dessen marktgängige Verpackung, in der es weitergereicht und vor-geschrieben werden kann - dem, der es ausführen soll. Die Begriffe lassen sich zweckmäßig verknüpfen, sie lassen sich in Formeln tun und gegeneinader verrechnen. Die Begriffe beherrschen die technische Zivilisation.  

Müssen sie nicht die Hypertechnik der digitalen Welt erst recht beherrschen?

Nein, eben nicht. Je mehr die ausführend en Tätigkeiten von den Maschinen übernommen werden, umso weni- ger Verpackung wird nötig. Der Algorithmus, dumm und dürftig, tritt an ihre Stelle. Das Vorstellen selbst, das bildhafte Entwerfen von Absichten, das Einbilden tritt in seine Erstgeburtsrechte zurück.

Die Vernunft ist ursprünglich intuitiv, wörtlich: anschaulich, nämlich solange sie noch probiert. Der Begriff tritt nun in sein Zweitgeburtsrecht zurück: als Prüfstein. Das Erfinden ist eins, aber ohne Prüfung ist es nicht einmal die Hälfte. Je freier das bildhafte Vorstellen wird, umso nötiger wird die Kritik durch die Begriffe. Je einfallsrei- cher die ingeniösen Ingenieure werden, umso wichtiger wird die Kritische Philosophie. Sie trennt das Korn von der Spreu.


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