Dienstag, 5. Februar 2019

Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft.


Eine rationale Naturlehre verdient also den Namen einer Naturwissenschaft nur alsdenn, wenn die Natur- gesetze, die in ihr zum Grunde liegen, a priori erkannt werden, und nicht bloße Erfahrungsgesetze sind. Man nennt eine Naturerkenntnis von der ersteren Art rein; die von der zweiten Art aber wird angewandte Vernunfterkenntnis genannt. Da das Wort Natur schon den Begriff von Gesetzen bei sich führt, dieser aber den Begriff der Notwendigkeit [12] aller Bestimmungen eines Dinges, die zu seinem Dasein gehören, bei sich führt, so sieht man leicht, warum Naturwissenschaft die Rechtmäßigkeit dieser Benennung nur von einem reinen Teil derselben, der nämlich die Prinzipien a priori aller übrigen Naturerklärungen enthält, ableiten müsse und nur kraft dieses reinen Teils eigentliche Wissenschaft sei, imgleichen daß, nach Fo[r]de- rungen der Vernunft, jede Naturlehre zuletzt auf Naturwissenschaft hinausgehen und darin sich endigen müsse, weil jene Notwendigkeit der Gesetze dem Begriffe der Natur unzertrennlich anhängt und daher durchaus eingesehen sein will; daher die vollständigste Erklärung gewisser Erscheinungen aus chymischen Prinzipien* noch immer eine Unzufriedenheit zurückläßt, weil man von diesen, als zufälligen Gesetzen, die bloß Erfahrung gelehrt hat, keine Gründe a priori anführen kann.

Alle eigentliche Naturwissenschaft bedarf also einen reinen Teil, auf dem sich die apodiktische Gewißheit, die die Vernunft in ihr sucht, gründen könne, und weil dieser, seinen Prinzipien nach, in Vergleichung mit denen, die nur empirisch sind, ganz ungleichartig ist, so ist es zugleich von der größten Zuträglichkeit, ja, der Natur der Sache nach, von unerläßlicher Pflicht in Ansehung der Methode, jenen Teil abgesondert, und von dem andern ganz unbemengt, so viel möglich in seiner ganzen Vollständigkeit vorzutragen, damit man genau bestimmen könne, was die Vernunft für sich zu leisten vermag, und wo ihr Vermögen anhebt, der Beihülfe der Erfahrungsprinzipien nötig zu haben. Reine Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen heißt reine Philosophie, oder Metaphysik; dagegen wird die, welche nur auf der Konstruktion der Begriffe, ver- mittelst Darstellung des Gegenstandes in einer Anschauung a priori, ihr Erkenntnis gründet, Mathematik genannt.

Eigentlich so zu nennende Naturwissenschaft setzt zuerst Metaphysik der Natur voraus; denn Gesetze, d.i. Prinzipien der Notwendigkeit dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört, beschäftigen sich mit einem Begriffe, der sich nicht konstruieren läßt, weil das Dasein in keiner Anschauung [13] a priori dargestellt werden kann. Daher setzt eigentliche Naturwissenschaft Metaphysik der Natur voraus. Diese muß nun zwar jederzeit lauter Prinzipien, die nicht empirisch sind, enthalten (denn darum führt sie eben den Namen einer Metaphysik), aber sie kann doch entweder sogar ohne Beziehung auf irgend ein bestimmtes Erfahrungsob-jekt, mithin unbestimmt in Ansehung der Natur dieses oder jenen Dinges der Sinnenwelt, von den Geset-zen, die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen, handeln, und alsdenn ist es der transzendenta-le Teil der Metaphysik der Natur: oder sie beschäftigt sich mit einer besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge, von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, daß außer dem, was in diesem Begriffe liegt, kein anderes empirisches Prinzip zur Erkenntnis derselben gebraucht wird (z.B. sie legt den empi- rischen Begriff einer Materie, oder eines denkenden Wesens, zum Grunde, und sucht den Umfang der Erkenntnis, deren die Vernunft über diese Gegenstände a priori fähig ist), und da muß eine solche Wissen- schaft noch immer eine Metaphysik der Natur, nämlich der körperlichen oder denkenden Natur, heißen, aber es ist alsdenn keine allgemeine, sondern besondere metaphysische Naturwissenschaft (Physik und Psychologie), in der jene transzendentale Prinzipien auf die zwei Gattungen der Gegenstände unserer Sinne angewandt werden.

Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist. Denn nach dem Vorhergehenden erfodert eigentliche Wissenschaft, vornehmlich der Natur, einen reinen Teil, der dem empirischen zum Grunde liegt, und der auf Erkenntnis der Naturdinge a priori beruht. Nun heißt etwas a priori erkennen es aus seiner bloßen Mög- lichkeit erkennen. Die Möglichkeit bestimmter Naturdinge kann aber nicht aus ihren bloßen Begriffen er- kannt werden; denn aus diesen kann zwar die Möglichkeit des Gedankens (daß er sich selbst nicht wider- spreche), aber nicht des Objekts, als Naturdinges erkannt werden, welches außer dem Gedanken (als exi- stierend) gegeben [14] werden kann. Also wird, um die Möglichkeit bestimmter Naturdinge, mithin um diese a priori zu erkennen, noch erfodert, daß die dem Begriffe korrespondierende Anschauung a priori gegeben werde, d.i. daß der Begriff konstruiert werde. Nun ist die Vernunfterkenntnis durch Konstruktion der Begriffe mathematisch.

*) [Die Chemie ist erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, seit der Unterscheidung von organischer und unorganischer Chemie, zu einer exakten Wissenschaft geworden.]
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Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 
in Werke Bd. 9, Frankfurt 1977, S. 11ff.


Nota I. - Dass "das Wort Natur schon den Begriff von Gesetzen bei sich führt" und dass der Begriff des Gesetzes wiederum "den Begriff der Notwendigkeit aller Bestimmungen eines Dinges, die zu seinem Dasein gehören, bei sich führt", sind allerdings metaphysische Sätze, und zwar metaphysisch im Sinne eines dogmatischen Rationalismus, gegen den die Kant'sche Kritik doch gerade angetreten war; ohne sich freilich, wie wir sehen, von ihren Rudera völlig freimachen zu können. Dass in der Naturwissenschaft folglich "nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist", ist erst seit Galileo ein Apriori, durch welches die Fragen keineswegs erschöpft, sondern manche allererst aufgeworfen werden.

Dass aber "jede Naturlehre zuletzt auf Naturwissenschaft hinausgehen und darin sich endigen müsse", war jedoch ein Befreiungsschlag für die Philosophie ebenso wie für die Naturwissenschaft, neben dem Kants zahlreiche Halbheiten gar nicht wirklich ins Gewicht fallen.
JE


Nota II. - Gestern schrieb ich, dass auf  'die griechischen Anfänge der abendländischen Philosophie nicht zuletzt selbst die Naturwissenschaften zurückgehen'. Diese Anfänge gründeten freilich in einer kritischen Grundhaltung gegenüber überkommenen Vorstellungen der Menschen von der Welt und ihrem eigenen Platz darin. Es war das grundlegende (sic) Verdienst der christlich geprägten Scholastik, dieses Prinzip gegen die Jahrhunderte lang herrschende theologischen Dogmatik vehement wieder zur Geltung zu bringen. Zuerst schied sie die Theologie aus sich aus, und es konnte  auf die Dauer nicht ausbleiben, dass sich die Kritik schließlich der Philosophie selber zuwandte. 

In der Tat gründen die modernen Naturwissenschaften in der griechischen Philosophie. In ihr gründet aber letztlich auch, dass die Philosophie sich aus der Naturforschung zurückzog und sie freigab. Das verdanken sie beide Kant.
JE 

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