Donnerstag, 29. November 2018
Ist das Selbstverständliche die Grenze meiner Welt?
47 Daß uns nichts auffällt, wenn wir uns umsehen, im Raum herumgehen, unseren eigenen Körper fühlen etc., etc., das zeigt, wie natürlich uns eben diese Dinge sind. Wir nehmen nicht wahr, daß wir den Raum perspekti- visch sehen, oder daß das Gesichtsbild gegen den Rand zu in irgendeinem Sinne verschwommen ist. Es fällt uns nie auf und kann uns nie auffallen, weil es die Art der Wahrnehmung ist. Wir denken nie darüber nach, und es ist uns unmöglich, weil es zu der Form unserer Welt keinen Gegensatz gibt.
Ich wollte sagen, es ist merkwürdig, daß die, die nur den Dingen, nicht unseren Vorstellungen, Realität zuschrei- ben, sich in der Vorstellungswelt so selbstverständlich bewegen und sich nie aus ihr heraussehen.
D. h., wie selbstverständlich ist doch das Gegebene. Es müßte mit allen Teufeln zugehen, wenn das das kleine, aus einem schiefen Winkel aufgenommene Bildchen wäre.
Dieses Selbstverständliche, das Leben, soll etwas Zufälliges, Nebensächliches sein; dagegen etwas worüber ich mir normalerweise nie den Kopf zeerbreche, das Eigentliche!
D. h., das, worüber hinaus man nicht gehen kann noch gehen will, wäre nicht die Welt.
Immer wieder ist es der Versuch, die Welt in der Sprache abzugrenzen und hervorzuheben - was aber nicht geht. Die Selbstverständlichkeit der Welt drückt sich eben darin aus, daß die Sprache nur sie bedeutet und bedeuten kann.
Denn, daß die Sprache die Art ihres Bedeutens erst von ihrer Bedeutung, von der Welt, erhält, so ist keine Sprache denkbar, die nicht diese Welt darstellt.
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Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, Frankfurt/M., 1984, S. 80
Nota. - 'Es fällt uns nie auf und kann uns nie auffallen' - ihm aber ist es aufgefallen. 'Uns' ist es unmöglich und ihm nicht. Wie das? Offenbar doch durch Reflexion - nämlich sprachliche Operationen.
Wir nehmen die Welt auf diese eine und bestimmte Weise 'wahr', und wie wir sie wahrnehmen, so stellen wir sie uns vor. Das sei das Gegebene, 'das Leben', und etwas anderes könnten wir uns nicht vorstellen!
Das ist eine dunkle Mystifikation. Es bedeutet nichts anderes, als dass wir mit der Sprache nur das aussagen können, was uns gegeben ist. Was darüber hinausgeht, könnten wir... nur sprachlos anstaunen?* Nein, dazu müss- ten wir es ja auf irgendeine Weise wahrgenommen haben. Für ihn ist wahrnehmen in-Empfang-nehmen dessen, was gegeben ist.
Die Hirnphysiologie kann das nicht bestätigen, und die Transzendentalphilosophie hat es schon zweihundert Jahre vorher gewusst: Wahrnehmen ist Tätigkeit, sie besteht darin, einem physiologischen Reiz eine Bedeutung ein zu bilden. Wahrnehmen ist Absicht. Absichten kann ich - nicht immer erschöpfend - in Worten ausdrücken. Aber nie kann ich eine Absicht aus Worten bilden. Worte sind keine Taten.
Und die Philosophie kann und soll über 'das Leben' allerdings hinausgehen, sonst könnte sie nicht über es nachdenken.
*) siehe Tractatus, 6.522
JE
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