Dienstag, 13. November 2018

Wie ich und die Welt einander geschaffen haben.

Léon Bonnat, Jacob ringt mit dem Engel

Eines ist in der Geschichte ganz bestimmt nicht vorgekommen: dass ein bloßes geistiges "Vermögen", ohne einen körperlichen Träger und ohne irgendwelche physiologische Vorerfahrung rein und unbescholten in die Welt getreten wäre und sich spontan zur Selbst-Bestimmung entschlossen hätte. Und doch lässt sich der Sinn unserer Gattungsgeschichte nicht anders als im Bild dieses Akts darstellen. Dieses Bild hat selber keinerlei po- sitiven Erkenntniswert, man kann daraus nichts schlussfolgern, es lässt sich in keinen wie immer gearteten Denkvorgang als Operator einbringen. Sein Wert ist ausschließlich "regulativ" und kritisch: Es soll uns vor dog- matisch spekulativen Abwegen in Acht nehmen. Gerade das ist es aber, was der Pädagoge braucht, damit er nicht etwa auf die Idee kommt, dass nur durch ihn der Mensch zum Menschen wird.
 

Wenn dann das uns überlieferte Bedeutungsgeflecht 'Welt' in der Geschichte einmal zu Stande gekommen ist, dann kommt es so jeden Tag neu zustande – wenn nämlich ein Neuer "zur Welt kommt". Und meine Welt ist dann keineswegs nur die individuelle Empfängnis von 'unserer' Welt, sondern mein eignes Bauwerk, in das ge- gebenes Material ebenso eingegangen ist wie mein eigner 'Plan'; und wenn der Plan auch an fremden Vorbildern orientiert sein mag, so habe ich mich doch für ihn entscheiden müssen. ...  
aus e. Notizbuch, in 2004? 


Die ganze Wissenschaftslehre ist ein Bild, ein Schema, ein Modell der Vernunft; der Bauplan, der jedem vernünftigen Akt zugrunde liegt - wie die DNA einem lebendigen Organismus, und in jeder seiner Zellen gegenwärtig ist. So wie der lebendige Organismus sich in Raum und Zeit erst entwickeln muss, muss das Schema der Vernunft in Raum und Zeit durch Handeln ursächlich werden. Anders als die DNA ist 'es selber' nicht schon in Raum und Zeit, es wurde dem tatsächlichen Handeln vernünftiger Wesen erst retrospektiv als dessen Bestimmung zugedacht. 

Nämlich so: Dass das Wesen der Vernunft nur Freiheit sein kann, war die Prämisse der Tanszendentalphiloso- phie. Dann kann an ihrem Grunde kein - und sei es ein logischer - Sachverhalt stehen, der experimentell aus der Erfahrung herauszuschälen wäre. Es kann kein Gesetz stehen, denn aus dem folgt Zwang und Notwendigkeit. Was aus ihm folgt, mag diese oder jene Art von Bewusstheit sein - aber nicht Selbst-Bewusstheit. Was aus ihm folgt, mag göttliche Offenbarung sein - aber nicht Vernunft.

Ja ja, es ist ein Zirkel. Vernunft postuliert Freiheit. Freiheit setzt Vernunft. Die eine ist nur verständlich durch die andere. Von einem dritten Gesichtspunkt aus kommt man in keine von beiden hinein.
JE

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