Freitag, 9. November 2018

Aber was heißt Natur?

J. Chr. C. Dahl, Vom Lyshorn

Die Bereitschaft, einen Teil der Res extensa unter dem Namen "Natur" von ihrem Rest zu unterscheiden, geht auf das Erbe aus animistischer Zeit zurück. Sie ist nichts anderes als das Apriori, sie grundsätzlich als Subjekt denken zu wollen. Als ein Subjekt: das ist eine nachträgliche Beigabe einer Reflexion, die sich noch nicht bis zur Wurzel vorwagt. 

In Wahrheit kann das Wort nichts anderes bezeichnen als all das, was nicht von Menschen geschaffen ist. Daß es ipso facto aber 'geboren' oder 'gebärend' wäre wie er, ist eine grundlose Voraussetzung, die uns lediglich 'natürlich' erschien – womit sich ein Zirkel schließt. Nicht die so oder so gearteten Definitionen von 'Natur' sind zu rechtfertigen, sondern diese Vorstellung selbst; nicht zu reden von ihrer Verwendung in wissenschaftlichen Zusammenhängen.

Notizbuch, Dez. 2012


Bestimmen heißt nach Fichte entgegensetzen. Die animistische Welt kam ohne Bestimmungen aus, sie bestand aus lebendiger Anschauung. Aber eine Vorstellungsweise, die die Natur! zu einem Programm erhebt, kommt ohne Bestimmung, nämlich die ihres Gegensatzes, nicht aus: Alles, was vom Menschen geschaffen ist, gegen alles, was nicht vom Menschen geschaffen ist. Der Gegensatz zur Natur heißt Kultur.

Doch lässt sich die Unterscheidung nur logisch durchhalten; historisch nicht. Das fiel auf, als Wilhelm Dilthey zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft unterscheiden wollte. In den Geisteswissenschaften be- schäftige sich der Mensch mit sich und seinen Erzeugnissen, in den Naturwissenschaften mit den Dingen außer ihm. Doch auch die Dinge außer ihm müssen, um für ihn zu werden, erst durch seine Vorstellung hindurch; und die macht er selber. 

Und zum andern beschäftigt sich der Mensch, sobald er sich mit seiner eigenen Natur beschäftigt, mit seiner Naturgeschichte. Die aber hat er, seit er von den  Bäumen herabgestiegen ist, weitgehend selber gemacht. Der menschliche Fuß ist eine Folge des aufrechten Ganges, aber aufgebaut ist er auf der ur(?!)sprünglichen Hin- terhand mit fünf Fingern, die unsere engeren Verwandten noch heute haben. Bis wo (wann) war Natur, ab wo (wann) ist Kultur dazu gekommmen? 

Die Antwort wäre haarspalterisch und doch ohne Erkenntnisgewinn. Für den Chirurgen und für den Bergstei- ger ist der Fuß so, wie er ist, Punkt. Und der Paläontologe fragt nicht nach den Grenzen, sondern nach funktio- nalen Abhängigkeiten, und hat es mit Zusammenhängen zu tun statt mit Grenzen.

Und umgekehrt: Prüfstein der Naturwissenschaft - und zwar sofern sie eben Natur wissenschaft und nicht Wis- senschaft-überhaupt ist -, ist ihre Darstellbarkeit in mathematischen Modellen. Ist also Mathematik = Natur? Weit gefehlt, sie ist vielmehr die abstrakteste Denkleistung, zu der unser Geist überhaupt fähig ist; und das wäre sie selbst dann, wenn der Mensch sie nicht selber in die Natur hinein konstruiert, sondern lediglich aus ihr heraus gefunden hätte. (Letztere Frage lässt sich übrigens logisch schlechterdings nicht auflösen, weil der Fragende, wie er sich auch dreht und wendet, die axiomatische Gültigkeit ihrer alleraktuellsten Ergebnisse immer schon voraussetzen muss: bei sich und bei der Natur im selben Moment. Die Frage wird sich nur mit historischer Plausibilität erhellen lassen; dort aber alternativlos.)

Bleibt von "der Natur" summa summarum mehr übrig als ein ranziges Ideologem?

Ihr bleibt ein Ehrenplatz in Dichtung und bildender Kunst. 


 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen