Freitag, 5. April 2019

Braucht man überhaupt Philosophierer?



...es ist gar nicht wahr, dass die Täuschung, die Dinge in Zeit und im Raum für Dinge an sich zu halten, unver- meidlich sei. Es ist allerdings notwendig, so auf sie zu handeln, als ob sie es wären; denn / unsere Handlung selbst geht durch das Medium der Vorstellung hindurch; man kann nicht handeln, ohne das Bild seiner Hand- lung sich vorzuhalten. Aber die Handlung und das Behandelte müssen notwendig aus demselben Reflexions- punkte angesehen werden. 

Denn die technisch praktische Täuschung ist unvermeidlich. Kein Experiment, kein Kunstprodukt ist möglich, ohne die Formen der Sinnlichkeit dem Gegenstande zuzuschreiben, weil man sie in der Handlung sich selbst zuschreiben muss - aus einem Grunde, den ich zu seiner Zeit und an seinem Orte bestimmt darlegen werde. Es ist notwendig, so auf sie zu handeln, aber es ist gar nicht notwendig, sie so zu denken, wenn man sie bloß denkt, um sie zu denken.  

Diese Täuschung im Denken gründet sich auf die bloße Gewohnheit, auf dem niedrigsten Punkte der Refle- xion zu bleiben. Diese Gewohnheit kann durch eine neue, durch fortgesetztes gründliches Nachdenken und durch stete Aufmerksamkeit auf sich selbst zu erwerbende Gewohnheit aufgehoben werden. Das Handeln zieht uns stets auf jene niedrige Stufe herab; aber bei der geringsten Reflexion auf sich selber kann man in jedem Augenblicke sich wieder ganz klar bewusst werdenb, dass man nur in der Welt der Erscheinungen lebe; durch die geringste Reflexion auf sich selber kann man sich wieder in das Gebiet der reinen Vernunft und der reinen Wahrheit erheben und wenigstens seinem Geiste nach in einer höheren Welt wandeln.
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 J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des  Buchstabens in der Philosophie" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 73f.;


Nota I. - Im Handeln und für das Handeln ist die realistische Auffassung der Welt unumgänglich, und da wir den größten Teil der Zeit, den wir auf der Welt sind, mit handeln beschäftigt sind, ist sie gewissermaßen die richtige: Das wirkliche Handeln ist nur auf dem niedrigsten Reflexionspunkt möglich. Wenn ich momentan neben das Leben trete und mich und mein Handeln bedenke, nehme ich den Gesichtspunkt des Philosophen an, und ich werde ihn nicht gleich wieder vergessen, sobald ich erneut ans Handeln gehe. Ich begebe mich wissentlich auf die realistische Auffassung herab und handle so als ob.

24. 8. 17 

Nota II. - Es ist nicht wahr, dass Wissenschaft etwas wesentlich Anderes ist als der gesunde Menschenverstand. Sie beiden nehme die Dinge so, wie sie erscheinen, und tun an ihrem Ort jeweils Recht daran. Es ist aber auch nicht wahr, dass philosophieren bloß eine vornehmere Art ist, das Leben zu leben. Dafür haben wir schöne Kunst und schöne Literatur, das Spielen und was sonst noch das Leben aus den Trivialitäten des Alltags her- vorheben kann.

Philosophie ist nicht Erbauung oder Spiel, auf die einer auf die Dauer kaum verzichten kann. Philosophieren ist ein Luxus derer, die auf das Wahre nicht verzichten wollen, obwohl sie könnten wie jeder andere. Ist es Eitel- keit, ist es Stolz - auf jeden Fall wäre das Zusammenleben der Menschen durchsichtiger - einfacher? Weiß ich nicht -, wenn es mehr von solchen Leuten gäbe. 

Doch auch der triviale Alltag von Wissenschaft und gesundem Menschenverstand hätte einen Vorteil, weil sie sie vor manchem Holzweg bewahren können.
JE

 

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