Sonntag, 8. November 2015

...wird Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann.


abananaaday

Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist. Denn nach dem Vorhergehenden erfodert eigentliche Wissenschaft, vornehmlich der Natur, einen reinen Teil, der dem empirischen zum Grunde liegt, und der auf Erkenntnis der Naturdinge a priori beruht. 

Nun heißt etwas a priori erkennen es aus seiner bloßen Möglichkeit erkennen. Die Möglichkeit bestimmter Naturdinge kann aber nicht aus ihren bloßen Begriffen erkannt werden; denn aus diesen kann zwar die Möglichkeit des Gedankens (daß er sich selbst nicht widerspreche), aber nicht des Objekts, als Naturdinges erkannt werden, welches außer dem Gedanken (als existierend) gegeben / werden kann. Also wird, um die Möglichkeit bestimmter Naturdinge, mithin um diese a priori zu erkennen, noch erfodert, daß die dem Begriffe korrespondierende Anschauung a priori gegeben werde, d.i. daß der Begriff konstruiert werde. 

Nun ist die Vernunfterkenntnis durch Konstruktion der Begriffe mathematisch. Also mag zwar eine reine Philosophie der Natur überhaupt, d.i. diejenige, die nur das, was den Begriff einer Natur im allgemeinen ausmacht, untersucht, auch ohne Mathematik möglich sein, aber eine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre) ist nur vermittelst der Mathematik möglich, und, da in jeder Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen wird, als sich darin Erkenntnis a priori befindet, so wird Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann.
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Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, [1786]
in Werke in zwölf Bänden, Ffm., 1977, Bd. 9, S. 13f.



Nota. - Wohlbemerkt schreibt er nicht wie Galileo, das Buch der Natur sei in mathematischen Zeichen geschrieben, mutmaßt auch nicht wie Leibniz, Gott selber dächte in mathematischen Formeln, nicht einmal wie Descartes, die Gesetze der Natur und die Gesetze unseres Verstandes seien von derselben mathemati-schen Gestalt, weil sie von demselben Schöpfer stammten. Er sagt nur dies: Unsere Erkenntnis von der Natur ist wissenschaftlich nur in dem Maß, wie sie mathematisch verfährt. Doch weshalb das so ist, begründet er selber nicht, er schließt sich erklärtermaßen an Newton an.
JE   


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