Montag, 29. Mai 2017

Novalis spekuliert.


Odilon Redon, Pegasus 

Seele, Körper, Ich

Es ist allgemein bekannt, daß man Seele und Körper unterscheidet. Jeder, der diese Unterscheidung kennt, wird dabei eine Gemeinschaft zwischen beiden statuieren, vermöge deren sie aufeinander wechselseitig wirken. In dieser Wechselwirkung kommt beiden eine doppelte Rolle zu: entweder sie wirken selbst für sich aufeinander, oder ein drittes Etwas wirkt durch eins aufs andre. Der Körper nämlich dient zugleich auch vermittels der Sinne zu einer Kommunikation der äußern Gegenstände mit der Seele, und insofern er selbst ein äußrer Gegenstand ist, wirkt er selbst als ein solcher mittels der Sinne auf die Seele. Natürlich wirkt die Seele auf demselben Wege zurück, und hieraus ergibt sich, daß dieser Weg oder die Sinne ein gemeinschaftliches, ungeteiltes Eigentum des Körpers und der Seele sind. So gut es äußre Gegenstände gibt, zu denen der Körper mitgehört, ebenso gut gibt es innre Gegenstände, zu denen die Seele mitgehört. Diese wirken auf den Körper und die äußern Gegenstände überhaupt, mittels der Sinne, wie schon gesagt, und erhalten die Gegenwirkung auf diesem Wege zurück. Die Schwierigkeit ist nun, die Sinne zu erklären. (Gattungsbegriff der Sinne.)

Zu Sinnen gehört immer ein Körper und eine Seele. Ihre Vereinigung findet mittels der Sinne statt. Die Sinne sind schlechthin nichtselbsttätig. Sie empfangen und geben, was sie erhalten. Sie sind das Medium der Wechselwirkung.

(Entweder unterscheidet die Seele das wirkliche Dasein in der Erscheinung des Augenblicks, den wirklichen Zustand, vom notwendigen Dasein in der Idee, dem gesetzten, dem Idealzustande, nicht (Zustand des freien Seins, ohne rege Unterscheidungskraft), oder sie unterscheidet beides. Im letztern Falle findet sie nun den wirklichen Zustand mit sich selbst harmonierend oder sich widersprechend. Das erste ist das Gefühl der Lust, des Gefallens, das andre das Gefühl der Unlust, des Mißfallens. 

Beide sind Abweichungen vom natürlichen Zustande und daher nur momentan im weitern Sinne. Im ersten Gefühl ist es die Form des natürlichen Zustandes, der Kunstzustand, das Gefällige, Lusterregende. Im andern ist der Zwang, den das Natürlichnotwendige vom Zufälligen erleidet, das Mißfällige, Schmerzende.)

Der Grund der Sinne, der Sinn, muß eine negative Materie und negativer Geist sein – beides eins – folglich die absolute Materie und der absolute Geist, welches eins ist. Finden tun wir dieses Substrat in den einzelnen Sinnen vereinzelt, d.h. in Verbindung mit einem äußern oder innern Gegenstande. Licht, Schall usw. sind Modifikationen, Individuen der Gattung »Sinn«. (Organ und Sinn unterschieden.)

(Hieraus sehn wir beiläufig, daß Ich im Grunde nichts ist. Es muß ihm alles gegeben werden. Aber es kann nur ihm etwas gegeben werden, und das Gegebne wird nur durch Ich etwas. Ich ist keine Enzyklopädie, sondern ein universales Prinzip. Dies hellt auch die Materie von Deduktionen a priori auf. Was dem Ich nicht gegeben ist, das kann es nicht aus sich deduzieren. Was ihm gegeben ist, ist auf Ewigkeit sein, denn Ich ist nichts als das Prinzip der Vereigentümlichung. Alles ist sein, was in seine Sphäre tritt, denn in diesem Aneignen besteht das Wesen seines Seins. Zueignung ist die ursprüngliche Tätigkeit seiner Natur.)

Wahrscheinlich also das Element der Einbildungskraft – des Ichs –, des Einzigen vorhin gedachten Absoluten, das durch Negation alles Absoluten gefunden wird.

Nun müssen wir uns aber diesen Fund nicht materiell oder geistig denken. Es ist keins von beiden, weil es beides auf gewisse Weise ist. Es ist ein Produkt der Einbildungskraft, woran wir glauben, ohne es seiner und unsrer Natur nach je zu erkennen zu vermögen. Es ist auch nichts an und für sich Vorhandnes, sondern dasjenige, was als Gegenstand einer notwendigen Idee den einzelnen Sinnen zum Grunde liegt und sie erklärt und sie einer theoretischen Behandlung fähig macht. 

(Das oberste Prinzip muß schlechterdings nichts Gegebnes, sondern ein frei Gemachtes, ein Erdichtetes, Erdachtes sein, um ein allgemeines metaphysisches System zu begründen, das von Freiheit anfängt und zu Freiheit geht.) Alles Philosophieren zweckt auf Emanzipation ab.
 
(Innres, äußres Organ – Arten der innern und äußern Gegenstände, die besondre Organe voraussetzen und damit eine neue Modifikation des Sinns sichtbar, erkennbar machen.)

(Zwei Weisen, die Dinge anzusehn: von oben herunter oder von unten hinauf; durch diesen Wechsel wird positiv, was erst negativ war, und vice versa. Man muß beide Weisen auf einmal brauchen.)

(Sinn und Bewußtsein. Das letztere ist nichts als: Wirksamkeit der einen oder der andern Welt mittels des Sinns.)
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Novalis, Fragmente
ed. Kamnitzer, Dresden 1929 



Nota. - Zwar hat wohl Novalis zum Philosophieren mehr Talent gehabt als zum Dichten; doch ohne ein gründliches Studium wäre auch daraus nichts geworden. Gründlich oder jedenfalls stürmisch und umfänglich hat Novalis aus beruflichen Gründen seine naturwissenschaftlichen, namentlich mineralogischen Studien betrieben, für die Philosophie blieb weniger Zeit. Er mag aber auch dem Irrtum unterlegen sein, in der Philosophie notfalls mit der Einbildungskraft auskommen zu können.

In obigem Fragment nun ist von einer Herkunft aus der Transzendentalphilosophie schon gar nichts mehr zu spüren. Er konstruiert die Ichheit, wie es jeglicher gesunder Menschenverstand tut: aus der Wechselwirkung von Körper und Seele. Wie er zu der Vorstellung dieser beiden gekommen ist, fragt er sich nicht. Schon ein klein wenig philosophischer Literaturkenntnis hätte ihn gegen den treuen Augenaufschlag der "Seele" miss- trauisch gemacht; aber er war zu diesem Zeitpunkt wohl schon bereit, sich von den Eingebungen hinwegtra- gen zu lassen.

Die Sammlung der "Fragmente", die Kamnitzer 1929 in Dresden herausgegeben hat, unterscheidet nicht die einzelnen Fundorte im Nachlass. Der war noch ungeordnet, die einzelnen Phasen von Novalis' philosophi- schen Studien wurden ja erst durch ihn sichtbar. Während er zunächst um ein eigenes Verständnis der Fichte'schen Wissenschaftslehre bemüht war, ("Fichte-Studien"), legt er später ein Notizbuch 'für alles' an ("Allgemeines Brouillon"), in das er wie in einem Tagebuch seine Einfälle zu diesem und jenem festhält. Dabei vermischen sich fortschreitend Naturwissenschaft, Naturspekulation und eine zunehmend schwär- mende Philosophie. JE

Eine zuverlässige Ausgabe der Fragmente ist inzwischen in Band 2 der Werkausgabe von Hans-Joachim Mähl im Hnaser-Verlag erschienen (München 1978).




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